Zustand der Juden unter griechischer Oberherrschaft
Die in ihr Vaterland zurückgekehrten Juden hatten unter der Oberherrschaft der persischen Könige über 200 Jahre im ganzen ruhig und zufrieden gelebt. Diesem Umstand ist es wohl zuzuschreiben, daß die heiligen Urkunden über die letzte Hälfte dieser 200 Jahre so gut wie ganz schweigen. Von heilsamem Einfluss war die Tätigkeit frommer und gelehrter Männer, die im Verein mit dem Hohenpriester sich die Aufrechterhaltung des mosaischen Gesetzes sowie der bürgerlichen und kirchlichen Ordnung angelegen sein ließen. Daß dies geschah und daß dem Hohenpriester eine Ältesten-Vertretung (2. Makk. 1, 10) nach dem Vorbild der früheren zur Seite stand, unterliegt keinem Zweifel, wenn auch die spätere jüdische Überlieferung, daß schon Esdras die sog. „große Synagoge“ (1) d. h. eine förmliche Korporation mit gesetzgeberischer und richterlicher Gewalt, ähnlich dem späteren Hohen Rat (Synedrium) gegründet habe, nicht bewiesen werden kann. Die Juden bildeten unter der persischen und griechischen wie später unter der römischen Oberherrschaft eine eigene Gemeinde, die sich in religiösen Angelegenheiten selbst regierte und darum eines „Rates“ bedurfte, der aber erst in der griechischen Zeit (Antiochus der Große) sicher nachweisbar ist.
Dieser Zustand wurde auch nicht gestört, als Alexander der Große, König von Mazedonien, dem persischen Reich 334 bis 331 v. Chr. ein Ende machte und seine Herrschaft von Griechenland bis Indien ausdehnte; denn er begünstigte die Juden (2).
Als aber nach seinem frühzeitigen Tod, 323 v. Chr., sein großes Reich zerfiel und seine Feldherren dasselbe unter sich verteilten, kam für das Judenland eine im ganzen traurige Zeit. Denn nun wurde es der Zankapfel zwischen den ägyptischen und syrischen Königen und ward durch deren immerwährende Kriege verwüstet. Doch waren die Juden in den ersten hundert Jahren, während deren die Ptolemäer (3) das Übergewicht hatten, noch verhältnismäßig glücklich. Denn diese Könige übten im ganzen eine milde Oberherrschaft und veranlaßten sogar allenthalben in ihrem Reich Niederlassungen der Juden, so daß Ägypten eine zweite Heimat für diese wurde. (4) Viele nahmen am königlichen Hof und im Heer hohe Stellen ein; allenthalben wurden Schulen und Synagogen oder Bethäuser gegründet; in der Hauptstadt, die zu Ehren Alexanders erbaut und nach ihm Alexandria benannt worden, ward sogar ein Rat von Ältesten errichtet. Ja als später Judäa unter die Botmäßigkeit der syrischen Könige gekommen war, erlaubte Ptolemäus Philometor, 181 bis 145 v. Chr., dem Onias, dem Sohn des in Antiochia ermordeten Hohenpriester Onias III., in der Nähe von Heliopolis den wahren Gott einen Tempel zu erbauen, um 150 v. Chr., welcher an Pracht mit dem zu Jerusalem wetteiferte, und in welchem der Gottesdienst genau so wie in dem zu Jerusalem gefeiert wurde. (5)
Übersetzung der Heiligen Schrift ins Griechische
Noch weit wichtiger war, daß bereits unter König Ptolemäus Lagi, 323 bis 284, oder in den ersten Jahren des Ptolemäus Philadelphus, 284 bis 247 v. Chr. (vielleicht auf Anregung des Königs?), die fünf Bücher Moses‘ (6) und dann bis gegen 150 v. Chr. nach und nach das ganze Alte Testament ins Griechische übersetzt wurde (7), wodurch die Heilige Schrift auch der gebildeten Heidenwelt zugänglich und dieses insbesondere mit den Verheißungen des kommenden Erlösers bekannt ward. Letzteres um so mehr, als die Juden, vielfach von den heidnischen Herrschern begünstigt, sich fast überall in den größeren Städten der heidnischen Länder niederließen und besonders durch die Synagogen-Vorlesungen eifrige Vermittler dieser Übersetzung (8) an die Heidenwelt wurde.
Auch daß die Juden infolge dieser massenhaften Niederlassungen mit griechischer Bildung immer mehr in Berührung kamen (Hellenismus), schlug letztlich zum Gewinn für die Religion Jesu Christi aus. Zwar nahmen viele Juden mit der feinen griechischen Bildung in Kunst und Wissenschaft auch die griechische Weichlichkeit und Genusssucht sowie die hieraus stammende Leichtfertigkeit und Gleichgültigkeit in religiösen Dingen an. Gewissenhafte und nachdenkende Juden dagegen bewunderten den geistigen Reichtum in den Schriften so mancher edlen griechischen Weltweisen, namentlich eines Plato und Aristoteles, und lernten hieraus mehr und mehr ahnen und hoffen, daß Gott, der wenigstens den Besseren unter den Heiden sich nicht unbezeugt gelassen, auch die Weissagungen der Propheten von der Berufung der Heiden in das Reich des Messias in nicht zu ferner Zeit erfüllen und eine weit über den Buchstabendienst des mosaischen Gesetzes hinaus reichende Religion des Geistes und der Wahrheit gründen werde.
Anmerkungen:
(1) Synagoge = Versammlung später auch Versammlungsort, Bethaus.
(2) Nach Josephus (Jüd. Altertümer 12, 8, 3-5) hatte Alexander während der Belagerung von Tyrus, 332 v. Chr., an den Hohenpriester Jaddua die Aufforderung ergehen lassen, fortan ihn als Gebieter anzuerkennen und ihm Truppen und sonstige Unterstützung gegen die Perser zu senden. Als der Hohepriester sich mit dem Eid entschuldigte, den er dem Perserkönig geleistet, geriet Alexander in heftigen Zorn und drohte, sich zu rächen. Er zog nach der Zerstörung von Tyrus und Gaza gegen Jerusalem; dort kam ihm der Hohepriester in seiner Festkleidung, umgeben von den übrigen Priestern in ihrer Amtskleidung und zahlreichen Juden in weißen Kleidern, feierlich entgegen. Da erinnerte sich Alexander eines früheren Traumes, in welchem ihm eine gleiche erhabene Gestalt erschienen war und den Sieg über Persien vorher gesagt hatte. Er reichte sofort dem Hohenpriester die Hand, ging nach Jerusalem und brachte sogar im Tempel Opfer dar. Als man ihm dann auf ihn deutende Weissagungen Daniels (8, 21ff; 11, 3f) vorwies, war er sehr erfreut und bewilligte den Juden für jedes Sabbatjahr Steuerfreiheit, und erlaubte ihnen, überall, selbst in seinem Heer, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben, worauf viele in sein Heer eintraten. –
Diese Erzählung ist kaum in allen Einzelheiten geschichtlich, entbehrt auch anderweitiger Bestätigung; sie enthält aber wohl einen historischen Kern und ist nicht innerlich unglaublich. Vgl. Kampers, Alexander d. Gr. und die Idee des Weltimperiums, Freiburg 1901, 51ff. Brand-, Speise- und Trankopfer, die im Namen von Heiden (Fremdlingen, Proselyten) dem wahren Gott dargebracht wurden, waren nicht erlaubt (vgl. Lv. 22, 25; 3. Kg. 8, 41-43) und kamen in der nachexilischen Zeit öfter vor: Gebete und Opfer für heidnische Obrigkeiten oder Bundesgenossen sind von den biblischen Büchern (vgl. Jr. 29, 7; Bar. 1, 10-11; 1. Esr. 6, 9-10; 1. Makk. 7, 33; 12, 11) wie von Josephus mehrfach bezeugt. Auch Weihegeschenke der Heiden wurden nicht verschmäht.
(3) Die ägyptischen Könige, so genannt von Ptolemäus Lagi, dem Feldherrn Alexanders, dem Ägypten zugefallen war. – Nur der vierte, Ptolemäus Philopator (221 bis 204 v. Chr.), verfolgte nach seiner siegreichen Rückkehr aus einem syrischen Feldzug (Dn. 11, 11f) im Jahr 217 die Juden in Jerusalem und in Alexandria.
(4) Die erste Niederlassung war allerdings eine unfreiwillige, da Ptolemäus Lagi nach dem Sieg über den Feldherrn Laomedon, dem bei der ersten Teilung des Reiches Alexanders Judäa zugefallen war, mit gewaffneter Hand in Jerusalem eindrang und gegen 200000 Juden nach Ägypten führte, 320 v. Chr. In der Folge siedelten sich aber viele andere Juden, durch die Schilderungen ihrer Vorgänger gereizt, in dem benachbarten, durch Natur und Kunst so gesegneten Land an. Von Ägypten aus verbreiteten sie sich über die diesem untertänigen Länder im fernen Westen und Süden, nach Libyen, Cyrene, Äthiopien usw. –
Vgl. Schürer, Geschichte des jüd. Volkes im Zeitalter Jesu Christi III 24ff; Bludau, Über Juden und Judenverfolgungen im alten Alexandrien, Münster 1906. Dort werden als Ursachen, die eine feindselige Stimmung gegen das Judentum in den letzten Jahrhunderten v. Chr. und in der unmittelbar folgenden Zeit erzeugt haben, aufgezählt: die Eigenart des jüdischen Volkes, unangenehme Konkurrenz im Handel und Wandel, der Reichtum der Juden, besonders wenn er durch Wucher erzielt war, die privilegierte und autonome Stellung innerhalb der hellenischen Gemeinden, der scharfe Kampf gegen den tief gesunkenen heidnischen Polytheismus, die maßlose Abwehr der boshaften literarischen Angriffe, die politische Stellung der Juden bei kriegerischen Verwicklungen und die Hinneigung zu den Römern. „Wollte man mit den streitenden Parteien über das Maß ihrer Intoleranz rechten, so erblickte man eine Kette von Schuld herüber und hinüber, und auch die jüdische Seite träfe ein schwerer Vorwurf“ (S. 59).
(5) Da im mosaischen Gesetz als Opferstätte nur ein Gotteshaus (Dt. 12, 5ff; vgl. 1. Chr. 22, 1) erlaubt war, berief sich Onias auf eine Weissagung des Isaias (19, 18ff). Die in Jerusalem wohnenden Juden verstanden aber die Stelle von der Bekehrung Ägyptens in der messianischen Zeit und betrachteten jenen Tempel als ungesetzlich. Er blieb aber immerhin ein wichtiger Sammelpunkt für die in Ägypten ansässigen Juden, bis ihn der römische Kaiser Vespasian (71. n. Chr.) zerstören ließ. Josephus, Jüd. Krieg 7, 10, 2-4.
(6) Nach einer alten Sage geschah dies durch 72 gelehrte Juden; daher heißt diese Übersetzung gewöhnlich die der Siebzig (statt 72), lateinisch die (der) Septuaginta (LXX), oder die alexandrinische, vom Ort ihrer Entstehung.
(7) Die zwei in griechischer Sprache verfaßten Bücher, nämlich das Buch der Weisheit und das zweite Buch der Makkabäer, wurden dieser Übersetzung alsbald beigefügt.
(8) Sie stand anfänglich selbst bei den hebräischen Juden in hohem Ansehen. Man hielt sie vielfach für ein Werk, das unter göttlicher Eingebung zustande gekommen sei. Tatsache ist, daß in dieser Übersetzung die heiligen Schriften nicht bloß vereinigt, sondern auch von den Juden allgemein angenommen und gebraucht wurden, selbst in den Synagogen. Auch die ältesten Hellenisten (Demetrius, Eupolemos) stützten sich auf sie bei ihrer Bearbeitung der biblischen Geschichte; Philo setzt sie durchweg voraus, Josephus wenigstens vorwiegend. Für Philo ist die LXX sos ehr der heilige Text, daß er aus Einzelheiten argumentiert; in Alexandria feierte man ein jährliches Dankfest für die Übersetzung. Justinus und Tertullian bezeugen ausdrücklich, daß beim Synagogen-Gottesdienst der griechische Text verlesen worden sei. Auch für die Apostel (Paulus) war die LXX der Text des AT… –
Als aber die Christen anfingen, sich dieser Übersetzung im Kampf gegen die Juden zu bedienen, namentlich durch Berufung auf Stellen, die hier noch unbefangen auf den Messias bezogen sind, während man ihnen nach dem Hebräischen zur Not auch noch eine andere Deutung geben konnte, und überdies die späteren (jetzt nur noch griechisch vorhandenen) Bücher sich als eine Art Brücke zum Christentum erwiesen, sofern sie für christliche Lehren und Einrichtungen Zeugnis ablegten (z. B. Von der ewigen, persönlichen, göttlichen Weisheit, vom Opfer für die Verstorbenen), da verwarfen die Juden diese Übersetzung und ließen durch einen abgefallenen Judenchristen Aquilas um 125 n. Chr. Eine andere fertigen, in der die sieben sog. Deuterokanonischen, d. h. später zu der Sammlung der heiligen Schriften hinzu gekommenen Bücher fehlen, nämlich Baruch, Tobias, Judith, die zwei Bücher der Makkabäer, Sirach und das Buch der Weisheit. –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. I, Altes Testament, 1910, S. 1024 – S. 1029