Mariä Reinigung im Tempel
Die erste öffentliche und feierliche Offenbarung Jesu
Maria und Joseph aber wunderten sich über die neue, bestimmte und wunderbare Offenbarung der Schicksale ihres Sohnes. Aber in den ersten Tagen ihrer Mutterfreude die schreckliche Gewissheit gewinnen, daß gerade dieses Gnadenkind ihr dereinst zum unsäglichen Schmerz gereichen wird, hieß das nicht das gesamte Lebensglück der Mutter vernichten? Was die Freude anderer Mütter ist, wahr zu nehmen, wie die Kinder gedeihen, heran blühen an Größe, Schönheit und Liebenswürdigkeit, war für Maria eine Quelle trüber Gedanken und Ahnungen und eines nimmer versiegenden Leides.
Aber für den Augenblick drängte die Pflicht der religiösen Vorschriften.
Maria und Joseph traten in das Nikanortor. In dem Toreingang befanden sich zwei kleinere Nebentüren, an denen die Wöchnerinnen und Aussätzigen gereinigt wurden. Die Wöchnerin musste sich einem Priester stellen und wurde nach einem Gebet und Segensspruch in den Vorhof der Frauen eingelassen, wo sie das Geld für das betreffende Opfer in den Opferkasten warf und sich dann an den Platz begab, wo sie dem Opfer beiwohnen konnte. Entsprechend dem vorgefundenen Geld wurden dann die Privatopfer an Lämmern und Tauben nach dem öffentlichen Morgenopfer entrichtet.
Maria vollzog das alles mit großer Einfalt und Andacht. Daß in der armen, demütigen Wöchnerin niemand die jungfräuliche Gottesmutter erkannte und ehrte, daran dachte sie wohl selbst nicht. Sie sah nur auf Gott und war glücklich, ihm in allem zu Willen zu sein und ihn nach dem Beispiel des Heilandes in Demut und Großmut zu dienen.
Der Erstgeborene wurde an dem mittleren Seitentor der inneren Umfassungsmauer des Tempels Gott dargestellt und gelöst. Das hatte durch den Vater zu geschehen. Deshalb musste der hl. Joseph mit dem Kind links am Nikanortor durch den Zwinger um die inneren Terrassen des Tempels herum zum Eingang des Priesterhofes gehen. Wahrscheinlich begleitete Maria, der hl. Simon und die hl. Anna den hl. Joseph auf diesem Wege; und so hielten wohl die Heiligen ähnlicher Weise den Umgang, wie ihn heute noch die Kirche an diesem Fest vollzieht. Sie preisen Gott, „der gütig ist und dessen Barmherzigkeit ewig währt“ (Ps. 117,29). Der hl. Joseph übergab nun das Kind dem Priester, der es, wahrscheinlich gegen das Allerheiligste hin gewendet, erhob und Gott darbrachte. Darauf entrichtete der Vater die fünf Sekel, die dem Priester zufielen, und der Priester gab dem Vater das Kind zurück. Aber was ging im Herzen des Heilandes vor, als der Priester ihn im Anblick des Opferaltares und des Allerheiligsten erhob? „Siehe, ich komme“ (Ps. 39,8), aber hier mit höherer, gesteigerter Andacht und Liebe.
Nie war Gott ein herrlicheres Opfer dargebracht worden. Dem Tempel, die Erde und dem ganzen Himmel durchstrahlte seine Herrlichkeit. Es ergänzte in unendlicher Weise die Armut und Dürftigkeit aller Opfer, die je in diesem Tempel Gott waren dargebracht worden. Jetzt erglänzte dieser zweite Tempel in der prophezeiten Herrlichkeit, und das alte Priestertum, auf dessen Armen der Erlöser erhoben wurde, erreichte den Höhepunkt seiner Aufgabe (Mal. 3,3 u. 4).
Der Bedeutung nach ist dieses Geheimnis für den Heiland die erste öffentliche und feierliche Offenbarung vor dem Volk, und zwar infolge seiner demütigen Gesetzeserfüllung. Von ähnlicher Bedeutung ist das Geheimnis auch für Maria. Wie der Heiland und mit ihm erfüllt sie demütig das Gesetz, und so nimmt sie auch teil an der Verherrlichung und Offenbarung. Auch von ihr werden herrliche Dinge geoffenbart. Überall ist sie an der Seite des Heilandes. Aber die Ehre ist teuer erkauft! Wenn sie es nicht selbst erkannte, so sagten es ihr deutlich genug die Worte Simeons. Wie sie hier im Tempel an der Seite des Heilandes steht, so am Kreuz, wo das Opfer der Darstellung seine Vollendung findet. Die fünf Sekel kaufen ihn nicht los; sie sind bloß das Unterpfand und Sinnbild der fünf Wunden. Wie der Heiland ist auch sie ein Zeichen des Widerspruchs. Auch gegen sie kann niemand gleichgültig sein, auch an ihr werden die Gedanken der Menschen offenbar, zu ihrem Heil oder zu ihrem Verderben.
Aber schmerzlich wird sie der Rückschlag des Schicksals ihres Sohnes treffen. Jetzt schon wühlt das Schwert Simeons grausam in ihrem Herzen. Sie wird nicht froh werden, bis der Heiland glorreich auferstanden. Das Schwert wird sie treffen aus der Hand des Priestertums, das jetzt noch ihrem Herzenssohn friedlich begegnet und ihn segnet. Einst aber wird es sich im Grimm gegen ihn erheben und in gottesmörderischem Wahnsinn ihn töten. –
aus: Moritz Meschler SJ, Unsere Liebe Frau, Ihr tugendliches Leben und seliges Sterben, 1913, S. 84 – S. 87