Das Seherauge Jesu sieht das Jüngste Gericht
Das Seherauge Jesu aber blickt noch viel weiter, durch den Untergang Jerusalems hindurch bis auf die letzte große Drangsal der Kirche, die dem Jüngsten Gericht unmittelbar vorher gehen wird. Denn als wirkliches Endgericht über die jüdische Synagoge und Nation als solche, ist der Untergang Jerusalems nicht nur der erste Akt des Weltgerichtes selbst, sondern auch dessen Spiegelbild und Vorbild. Erst kurz vor dem Weltgericht wird auch die Prophezeiung Daniels (Dan. 9, 27) ihre letzte und eigentliche Erfüllung finden, wenn der Antichrist es wagt, „sich im Tempel Gottes nieder zu lassen“ (2. Thess. 2, 3ff.). Darum steht auch bezeichnender Weise im Text des Markus und in mehreren Handschriften des Matthäus bei der Stelle: „wenn ihr den Gräuel der Verwüstung am heiligen Orte stehen seht“, im Prädikat die männliche Form, obwohl das Subjekt Neutrum ist, um auf eine männliche Person hinzuweisen. Nur aus diesem weiteren Gesichtspunkt erklären sich manche ausdrücke Jesu, die sonst denn doch zu starke Hyperbeln wären. Zum Beispiel die Größe der Drangsal, „wie es keine gegeben hat seit Anfang der Welt bis jetzt und auch keine mehr geben wird“, mit der übrigens schon bei Daniel (12, 1ff.) das Weltgericht gemeint ist. Erst recht die Versicherung: wenn Gott nicht in seinem Ratschluss diese Tage verkürzt hätte, würde überhaupt kein Mensch gerettet, nämlich vor dem Abfall. Somit ist Jesus jetzt schon unmittelbar mit seiner Rede in die Zeit hinein gekommen, wo die Kirche ihre letzte schwerste Katastrophe auszuhalten hat. Daß auch das in Jerusalem und Judäa stattfinden werde, wie viele Ausleger annehmen, folgt durchaus nicht. Denn in der apokalyptischen Sprache ist Jerusalem mit seinem Tempel unvermittelt zugleich zum Bild der Kirche geworden, und die dem jüdischen Land entsprechende Beschreibung der Flucht ist ebenso bildlich aufzufassen. Die Worte Jesu haben also in echt apokalyptischer Weise einen doppelten Sinn: unmittelbar und in wörtlicher Bedeutung gehen sie auf den Fall Jerusalems; typisch und bildlich beziehen sie sich auf die dem Weltgericht unmittelbar vorher gehenden Ereignisse in der Kirche. In dieser allerletzten Zeit werden natürlich die falschen Messiasse und Propheten wie Pilze aus dem Boden schießen und im Bund mit den Mächten der Hölle keinen Versuch unterlassen, die Gläubigen zum Abfall zu verlocken.
Es war der Glaube der Zeitgenossen Jesu, der Messias werde erst ganz im Verborgenen irgendwo hausen (vgl. auch Joh.7, 27). Dem wird aber nicht so sein. Es wird keiner Propheten bedürfen, um den Weg zu seinem Versteck zu weisen. Wie der Blitz ganz hell und für alle Augen sichtbar am Himmel leuchtet, so klar erkenntlich wird die Ankunft Christi sein. Auch der Ort, wo sie stattfindet, braucht nicht gesucht zu werden. Wie dort, wo ein Aas ist, ganz von selbst die Geier sich einfinden, so wird der Weltenrichter sich da einstellen, wo die Menschen reif sind für das Gericht. Dieses wird aber nach jener großen Drangsal der Kirche nicht mehr auf sich warten lassen. Jene Tage sind ja von Gott absichtlich kurz gewählt um der auserwählten willen. Also „sofort“ nach der Drangsal jener Tage werden die letzten großen Zeichen geschehen, die das Jüngste Gericht einleiten. Es wäre vergeblich, bei der Beschreibung dieser letzten Zeichen, die sich ganz in der allen (echten und unechten) Apokalypsen geläufigen Sprache hält, zwischen Bild und wirklicher Voraussage unterscheiden zu wollen. Unter den „Kräften des Himmels“ sind entweder die kosmischen, die Welt zusammen haltenden Kräfte zu verstehen oder „die Sternenheere“. (So übersetzt die Septuaginta Jes. 34, 4) „Das Zeichen des Menschensohnes“ denken sich die Väter in durchaus verständlicher Weise, als das Kreuz, dessen Anblick die Ungläubigen und Gottlosen mit Entsetzen, die Gläubigen mit Mut und Freude erfüllen wird (vgl. Luk. 21, 28).
Die Jünger hatten eine Doppelfrage gestellt: wann das geschehen werde, und welches die Zeichen seien (24, 3). Die zweite Frage ist beantwortet. Auf die erste will Jesus noch Auskunft geben, soweit er das als Messias kann. Aber sie sollen auch selber lernen, ihre Augen aufzumachen. Wie sie aus der Entwicklung des Feigenbaums, „wenn sein Zweig zart wird“, d. h. wenn er frische Triebe entwickelt, den Sommer berechnen können, so werden sie auch imstande sein, aus dem Eintreffen der voraus gesagten Zeichen auf die Ankunft des Menschensohnes zu schließen. Warum Jesus gerade den Feigenbaum nennt, wird seinen einfachen Grund darin haben, daß eben ein solcher in der Nähe stand, auf den Jesus hinwies. Lukas fügt erweiternd hinzu „und alle Bäume“ (Luk. 21, 29). die Frage ist, was Jesus mit dem Ausdruck „all dieses“ in Vers 33 meint. Ganz offenbar nicht das Gericht selbst. Denn die Jünger wollen ja gerade die Zeichen wissen, die dem Gericht voran gehen. Und wenn das Gericht schon da ist, braucht es kein Erkennungszeichen mehr (vgl. Vers 27). Es können aber auch nicht die allerletzten, Vers 29 ff. genannten Zeichen gemeint sein. Denn diese leiten bereits das Gericht ein. Wenn schon der erste Blitz zuckt, bedarf es keiner Wetterprognose mehr. Außerdem schaut Jesus das Endgericht schon im Spiegel des Gerichtes über Jerusalem und beginnt somit dessen Beschreibung bereits mit Vers 15. Unter „all diesem“ können also nur die in Vers 4 ff. beschriebenen Zeichen verstanden sein einschließlich des letzten und untrüglichsten in Vers 15 genannten. Alle dies Zeichen wird die jetzige Generation noch erleben. Also natürlich auch das Gericht selbst. Denn auf die Aufstellung des Gräuels der Verwüstung kommt ja sofort das Ende…
Daß aber auch gerade an der von der Wiederkunft Christi handelnden Stelle die Zeitgenossen gemeint sind, wird ganz klar aus einer Parallelstelle (Matth. 16, 28), wo Jesus versichert, daß „einige von den hier Stehenden“ seine Parusie noch erleben werden. Außerdem sind die folgenden dringlichen Mahnungen zur Wachsamkeit nur zu verstehen, wenn Jesus sagen will, daß trotz der gänzlichen Unsicherheit des Tages und der Stunde (Vers 36) doch noch die jetzt Lebenden von dem Ausbruch des Gerichtes überrascht werden. Daß nicht alle jetzt Lebenden gemeint sind, ist selbstverständlich (vgl. 16, 28). Also die jetzige Generation wird das von Jesus prophetisch geschilderte Gericht noch mitmachen. Freilich nicht in der Weise, wie Jesus es geschildert hat. Denn er hat in apokalyptischer Schau in dem Endgericht über Jerusalem zugleich auch das Endgericht über die ganze Welt erblickt, so wie es es in Gottes Plänen vorbereitet ist. Seine Zeitgenossen werden nur den ersten Akt dieses Gerichtes erleben, mit dem die geschichtliche Verwirklichung der göttlichen Gerichtspläne beginnt. Es läßt sich nicht leugnen, daß in den Worten Jesu für uns eine gewisse Zweideutigkeit liegt, die wir unangenehm empfinden. Aber diese Zweideutigkeit ist im Wesen gerade aller echten Apokalyptik begründet. Und der „Menschensohn“, der geflissentlich sich ganz in menschliches Wesen eingereiht hat (vgl. Phil. 2, 7), macht auch hierin keine Ausnahme, so wie er sich überhaupt, worauf schon oben aufmerksam gemacht wurde, auch sonst in dieser prophetischen Rede ganz an die damals gebräuchliche Sprechweise hält.
Daß er trotz seiner göttlichen Allwissenheit auch hier nicht über die dem „Menschensohn“ gesetzten Schranken hinaus will, sagt er selbst deutlich im Vers 36. „Den Tag und die Stunde weiß niemand, auch nicht der Sohn, nur der Vater.“ Daß „der Sohn“ im metaphysischen Sinne, d. h. daß er als Sohn Gottes es infolge seiner göttlichen Allwissenheit weiß, ergibt sich aus 11, 25. Mithin kann er es ebenso gut in der seiner menschlichen Seele persönlich verliehenen Anschauung Gottes erkennen. Es ist also kein absolutes persönliches Nichtwissen. Aber als „Menschensohn“ weiß er es nicht. Das besagt ein Doppeltes: Erstens: Es geht über alles geschöpfliche Wissen hinaus also auch über jede Art seines eigenen Erkennens, insofern es ein geschöpfliches Erkennen ist. Denn die seiner menschlichen Seele gegebene Anschauung Gottes und alles aus dieser hervor gehende Wissen hat ihre unmittelbare und einzige Ursache in der hypostatischen Union, d. h. in der Einheit und Einzigkeit seiner göttlichen Person als Trägerin der menschlichen Natur. Darum ist dieses Wissen und sein Inhalt auch ein rein persönliches, nicht mitteilbares. Deshalb besagt das obige Wort Jesu zweitens: Die Kenntnis vom Tag und der Stunde des Gerichtes liegt außerhalb seines amtlichen zur Offenbarung bestimmten Wissens (Über das verschiedene Wissen Jesu vgl. Bd. XI.1, S. 28ff. und 250 ff.)
Da also der Tag des Gerichtes nun doch wieder ins Ungewisse gerückt ist, so bleibt nichts anderes übrig als Wachsamkeit und Bereitschaft. Denn es wird vor dem Ausbruch des Gerichtes über Jerusalem und erst recht vor dem Letzten Gericht und übrigens jedesmal in der Geschichte vor neuen großen Wendungen (vgl. das über 24, 4ff. Gesagte) genau so zugehen wie vor dem ersten furchtbaren Vernichtungs-Gericht in vorgeschichtlicher Zeit, vor der Sündflut. In der allgemeinen Aufregung, die die Menschheit in stürmischen Zeiten erfaßt, sucht jeder noch so viel vom Lebensgenuss zu erhaschen, als ihm erreichbar ist. Nur die innerlich Gefestigten bleiben stark und treu. Darum das so verschiedene Schicksal der in gleicher Tätigkeit und gesellschaftlicher Stellung betroffenen Menschen…
Also seid wachsam! Wie der Hausherr, der den Einbruch des Diebes ahnt, und lieber die ganze Nacht durchwacht (1. Nachtwache von 6 bis 9 Uhr; 2. von 9 bis 12; 3. von 12 bis 3; 4. von 3 bis 6; von 6 an wird der Tag gerechnet), als in sein Haus einbrechen zu lassen. Erst recht gilt diese Mahnung den Aposteln und allen, denen wie ihnen die Leitung anderer Seelen anvertraut ist. Da muss die Wachsamkeit sich in der besonderen Treue zeigen, um so mehr, als gerade ihre Stellung erhöhte Gefahren der Untreue in sich birgt. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XI.2, 1936, S. 71- S. 74
siehe auch den Beitrag: Das allgemeine Gericht Tag des Zornes