Viele Anzeichen gehen dem Ende voraus

Die Zerstörung Jerusalems durch die Römer: die Stadt brennt, die Juden stürzen sich selber oder werden über die Mauer gestürzt

Viele Anzeichen werden dem Ende vorangehen

Da alle seit (Matth.) 21, 23 berichteten Reden und Diskussionen am Dienstag stattgefunden haben, ist es inzwischen schon Abend geworden. Jesus zieht sich, müde von dem aufregenden Tagewerk, in den Vorhof der Frauen zurück (Mark. 12, 41f.), wo die Opferkasten aufgestellt waren. Markus und Lukas erzählen bei der Gelegenheit den schönen Zug von der armen Witwe, die alles, was sie hat, in den Opferkasten wirft. Wie sie nun den Heimweg antreten, machen ihn einige Jünger, wohl während sie sich noch im äußeren Vorhof befinden, auf das herrliche Bauwerk, besonders auf die gewaltigen glänzenden Steine aufmerksam (Mark. 13, 1; vgl. Luk. 21, 5). Jesus gibt ihnen zur Antwort, kein Stein werde auf dem andern bleiben. Diese Prophezeiung ist buchstäblich in Erfüllung gegangen. Zwar hat der gegen den Willen des Titus angefachte Brand des Temples das Mauerwerk nicht gänzlich zu zerstören vermocht. (siehe den Beitrag: Zerstörung Jerusalems durch Titus) Auch Hadrian, der an der Stelle, wo der Brandopfer-Altar gestanden hatte, ein Jupiter-Heiligtum erbaute, ließ noch Mauerreste übrig. Aber gerade Julian der Apostat, der die Prophezeiung Christi Lügen strafen wollte und deshalb den Juden gestattete, auf seine eigenen Kosten den Tempel wieder aufzubauen, hat sie dadurch bis aufs Wort erfüllt. Denn um den Neubau zu ermöglichen, ließ er alle Reste dem Erdboden gleich machen. Als man aber nachher die Fundamente des Neubaus legen wollte, brach Feuer aus der Erde hervor, das einige Arbeiter lebendig verbrannte und die Fortsetzung der Arbeit unmöglich machte. So erzählen nicht bloß die zeitgenössischen christlichen Schriftsteller, sondern auch der Heide Ammianus Marcellinus, der zur selben Zeit in der Residenzstadt des Kaisers lebte und schrieb.

Die Zerstörung Jerusalems: rechts rückwärts ist der Einzug des Titus, rechts vorne symbolisch der Auszug des Christentums dargestellt, in der Mitte vorne gibt sich der Hohe Priester mit seinem Schwert den Tod

Hierauf begab sich Jesus, wahrscheinlich durch eines der Tore auf der Ostseite des Tempels, nach dem Ölberg. Dort setzte er sich nieder, das Angesicht der Stadt zugewendet (Mark. 13, 3), wohl selbst noch ganz in Gedanken versunken über die Zukunft der Stadt und des Tempels, der im Glanz der Abendsonne leuchtete wie ein riesiger Berg von Gold. Da stellten einige Jünger, dieselben, die er zuerst berufen hatte, darunter seine drei besonders Vertrauten (Mark. 13, 3), jene Frage an ihn. Jesus beginnt seine Antwort mit einer Warnung, sich nicht täuschen zu lassen. Denn das Ende werde noch nicht so bald kommen. Viele Anzeichen werden ihm vorher gehen. Diese Anzeichen gehören zunächst zum Lauf der Natur und der Weltgeschichte. Sie werden nur insofern zu Zeichen des göttlichen Zornes und Androhungen eines Gerichtes, als sie sich vor solchen Gerichtsentladungen besonders häufen. So verzeichnet tatsächlich die Geschichte vor dem Untergang Jerusalems eine ganze Reihe von Schrecknissen. Um das Jahr 46 herrschte unter Kaiser Claudius in großen Teilen des Reiches eine schreckliche Hungersnot. Im Jahre 62 verwüstete ein Erdbeben in Phrygien in Kleinasien eine ganze Anzahl blühender Städte, im Jahre 63 wurde Pompeji durch ein Erdbeben zerstört. Im Jahre 64 brannte die Hälfte der Millionenstadt Rom nieder. Im Jahre 68 (Tod des Nero) erschütterten blutige Kriege das ganze Reich.

Für jene ganze Zeit ist bezeichnend der Satz des Tacitus (Hist. I 2, 1): Ich mache mich an ein Werk (über eine Zeit) reich an Unglücksfällen, blutig durch Schlachten, zerrissen durch Aufstände, selbst im Frieden von Aufregung durchtobt. Vier Regenten gewaltsam hinweg gerafft, drei Bürgerkriege, noch mehr mit äußeren Feinden, und gewöhnlich beides zusammen.

Solche gehäufte Anzeichen werden sich stets wiederholen vor neuen Entladungen des göttlichen Gerichtes, die zugleich Wendepunkte in der Geschichte des Reiches Gottes bedeuten. Und stets werden falsche Propheten und falsche Messiasse diese Gelegenheiten benützen, um, wenn auch in einer den veränderten Zeitverhältnissen entsprechend veränderten Weise, die Menschen durch Versprechungen einer neuen Erlösung zu verführen. Sie werden auch Erfolg dabei haben. Der Hass gegen die Kirche wird stets von neuem aufflammen, die Massen werden irre werden und abfallen, die Liebe wird erkalten. Da heißt es jedesmal „stand zu halten bis ans Ende“. Nicht ans Ende der Welt, sondern bis zum äußersten Opfer, selbst zum Opfer des Lebens. Alles echte Christenleben ist schließlich „ein Standhalten bis ans Ende“, ein stilles Heldentum. Diese Vorgänge, die sich zum ersten Mal abgespielt haben vor dem Untergang Jerusalems, die sich stets wiederholen werden in der Geschichte der Kirche, da die Ausführung des in der Ewigkeit gefaßten göttlichen Gerichtsplans sich durch Jahrtausende hin erstreckt, werden ihre höchste Steigerung erfahren, bevor der letzte Akt erfolgt: das Jüngste Gericht. Allerdings, bis dort braucht es noch Zeit. „Zuerst“, wie Markus den Sinn betonend hervor hebt (13, 10), „muss dieses Evangelium vom Reich in der ganzen Welt verkündet werden, zum Zeugnis für alle Völker“, ein Zeugnis, dem sie entweder glauben und dadurch gerettet werden oder das ihren bösen Willen bestätigen und damit das göttliche Verdammungs-Urteil rechtfertigen wird. „Und dann erst wird das Ende kommen.“

Hat Jesus bis jetzt allgemein prophetisch gesprochen, so erhebt sich nunmehr seine Sprache zur Apokalypse. Er schaut die Erfüllung der Prophezeiung Daniels (9, 27; vgl. 11, 31; 12, 11). Diese an sich schon dunkle Prophezeiung ist für uns noch dunkler geworden durch den durcheinander geratenen Text des Buches Daniel. Aber soviel ist doch klar, daß es sich um einen Vorgang im Heiligtum handeln muss, der Gottes Abscheu und darum sein Gericht wach ruft, so daß die heilige Stätte, von Gott verlassen, der Verwüstung preisgegeben wird. Zum ersten Mal hatte sich, wie oben erwähnt, diese Prophezeiung unter Antiochus Epiphanes erfüllt, als dieser auf dem Brandopfer-Altar einen kleinen Zeusaltar errichten ließ. Diesmal, d. h. in dem Falle, den Jesus vor Augen hat, kann es sich nicht, wie manche Kirchenväter meinen, um das von Pilatus im Tempel aufgestellte Augustusbild, auch nicht um die Reiterstatue des Hadrian handeln. Denn es soll ja ein Gräuel sein, der den Christen als deutliches Zeichen der unmittelbar bevorstehenden Katastrophe dient. Daher auch die Mahnung zum Überlegen an den Leser des Propheten Daniel. Es kann also nur die Rede sein von den allerletzten Ereignissen, die sich im Tempel unmittelbar vor der Belagerung Jerusalems abspielten. Damals hatte sich nämlich der Zelotenführer Johannes von Gischala mit seinen Parteianhängern und allerhand zu ihm gestoßenen Banditen des Tempelberges bemächtigt und kämpfte von dort aus gegen den im innern Tempelraum verschanzten Priester Eleazar und dessen Scharen. Die von den Banditen geschleuderten Wurfgeschosse flogen oft bis zum Altar und trafen Opfernde und Priester. Man musste im Heiligtum förmlich im Blut der Erschlagenen waten. Die Christen hatten sich den Rat des Heilandes gemerkt und flüchteten auf dieses Zeichen hin rechtzeitig unter der Führung ihres Bischofs Simeon nach der griechischen Stadt Pella im Süden des Sees Genezareth.

Die Größe der Drangsal wird grell beleuchtet durch die Mahnung zu schleuniger Flucht. Sonst suchen die Landbewohner in Kriegszeiten Schutz in festen Städten. Und Jerusalem war eine sehr starke Festung. Aber diesmal sollen die Bewohner Judäas ja nicht dorthin fliehen, sondern ins Gebirge, in dessen Schlupfwinkeln man sich verstecken kann. Wer auf dem Dach ist, soll nicht mehr ins Haus hinab steigen, um seine Kostbarkeiten zu retten. Die Dächer der Häuser waren nämlich flach (vgl. Bd. XI.1, S. 254) und wurden gerne als Aufenthalt benützt, wenn man allein und ungestört sein oder auch die kühle Abendluft genießen wollte. Sie waren durch eine Treppe von außen zu erreichen. Wer nur mit dem Chiton, dem hemdartigen Untergewand (vgl. Bd. XI.1, S. 95) bekleidet, um bei der Arbeit unbehindert zu sein, auf dem Acker weilt, soll nicht einmal den Mantel zu Hause noch holen, der doch so notwendig ist, um bei Tage als Kleidung zum Schutz gegen Kälte sowohl als gegen die Sonnenstrahlen und bei Nacht als Decke zu dienen. Besonders zu bedauern sind die Mütter, die ein Kind im Schoße oder an der Brust tragen und deshalb bei der schnellen Flucht nicht Schritt halten können. Es würde aber allen Gläubigen so gehen, wenn diese Ereignisse in die Zeit des Winters fielen, wo Kälte und Stürme ihre Flucht hemmen, oder wenn sie sich am Sabbat auf den Weg machen müssten, wo es nur erlaubt war, eine Strecke von etwa einem Kilometer außerhalb des Stadtbezirks zu gehen. Ließen sich doch in früheren Zeiten die gottesfürchtigen Juden eher nieder metzeln, als am Sabbat zu kämpfen (vgl. 1 Makk. 2, 32 ff.). Denn in jenen Tagen wird die Prophezeiung Daniels in Erfüllung gehen von der großen Drangsal, wie es noch keine zuvor gegeben hat (Dan. 12, 1ff.). Ja, diese Drangsal wird so groß sein, daß überhaupt kein Mensch ihr entrinnen könnte, würden jene Tage nicht verkürzt. Das wird jedoch um der Auserwählten willen geschehen. Nach Markus (13, 20) hat Gott diese Tage bereits verkürzt, nämlich in seinem ewigen Ratschluss, dessen Erfolg ja sicher ist. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XI.2, 1936, S. 68 – S. 71

Tags: Prophetie

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