Das Weltgeschehen mit den Augen des Glaubens betrachten
Die Gottlosen mit ihren Plänen dienen letztendlich den Endplänen Gottes
Das ist etwas, was wir Menschen nie zu begreifen vermögen, besonders wenn Unterdrückung und Gewalt auf Erden herrschen. Da meinen wir, Gott könne doch nicht mehr länger zusehen, sondern müsse vom Himmel herunter steigen, um das Recht wieder herzustellen. Das kommt daher, weil wir Menschen so kurzlebig sind. Wir meinen stets, in den paar Jahren oder Jahrzehnten, die wir da unten zubringen, müsse alles wieder in Ordnung gebracht werden, noch vor unseren Augen. Denn wenn wir es nicht selber mehr erleben und sehen können, zweifeln wir, ob es überhaupt geschieht. Gott aber lebt in der Ewigkeit, wo „tausend Jahre sind wie ein Tag“ (2. Petr. 3, 8). Von dort gesehen, nehmen sich alle Dinge ganz anders aus. Darum zögert Gott oft lange mit seinem Kommen, aus mannigfachen Gründen. Zunächst deshalb, weil er den Menschen die Freiheit des Willens gegeben hat, damit sie sich selbst entscheiden für Gut oder Bös. Diese Freiheit achtet Gott, auch wenn ein Mensch sie dazu mißbraucht, nicht nur sich selbst, sondern seine ganze Familie, ja sein ganzes Volk ins Unglück zu bringen. Er würde ja sonst die Freiheit des Menschen praktisch aufheben, wenn er bei jedem Missbrauch derselben gleich einschreiten würde. Außerdem läßt Gott sich nicht durch den Willen seiner Geschöpfe zum Handeln zwingen. Denn als absoluter Herr besitzt er souveräne Macht über alles geschehen, auch über das, was durch den freien Willen der Menschen geschieht. Darum müssen selbst die Gottlosen mit all ihren Plänen und Taten schließlich und letztlich nur dazu dienen, daß Gottes Endpläne ausgeführt werden. Das können wir freilich nicht merken, die mitten drin leben im Geschehen. Erst nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden läßt es sich oft überblicken, und ganz klar wird es erst im Jüngsten Gericht.
Aber an einem Beispiel hat Gott es ganz deutlich gemacht: am Schicksal seines eingeborenen Sohnes. Den haben sie gehaßt und nicht geruht, bis sie ihn ans Kreuz gebracht hatten. Aber gerade dadurch haben sie das ausgeführt, wozu er Mensch geworden war. Wäre er nicht am Kreuz gestorben, so wären wir nicht erlöst, und er wäre nicht auferstanden von den Toten. Freilich müssen Tausende und aber Tausende von Unschuldigen leiden durch dieses Zögern Gottes. Aber auch das betrachtet Gott von seiner Ewigkeit aus. Da gilt das Wort: „Die augenblickliche leichte Last unserer Drangsal schafft in unendlich überschwänglicher Weise ein ewiges Vollgewicht von Herrlichkeit“ (2. Kor. 4, 17). Endlich heißt es auch beim Propheten Jesaias: „Der Herr wartet, um sich zu erbarmen“ (Ies. 30, 18). Er zögert so lange, weil der dem Bösewicht immer noch Zeit zur Bekehrung lassen will. Und selbst wenn dieser statt dessen Frevel auf Frevel häuft, kann Gott ruhig warten. Denn in seiner Ewigkeit hat er Zeit genug, nicht nur alle Frevel zu bestrafen, sondern auch alles unschuldige Leiden der Gerechten mit überreicher Seligkeit wieder gut zu machen.
Wir Menschen aber müssen lernen, das Weltgeschehen nicht mit unseren Augen, sondern mit den Augen des Glaubens zu betrachten, um nicht die Geduld zu verlieren oder gar an Gott irre zu werden. Wer aufmerksam die Kirchengeschichte studiert, dessen Auge wird dafür geschärft. Und in einem Buch hat Gott selbst, wenn auch in geheimnisvoll dunkler Weise, uns einen Einblick gegeben in seine Zukunftspläne mit der Kirche, in der Geheimen Offenbarung des hl. Johannes. Da sehen wir, wie der feuerrote scheußliche Drache die Frau verfolgt, „die mit der Sonne bekleidet ist, zu ihren Füßen der Mond“, so daß sie sogar in die Wüste fliehen und sich dort verbergen muss (Offb. Kap. 12). Schwere Plagen treffen die Erde und ihre Völker. Das Blut der Gerechten fließt. Aber der Menschensohn siegt. „Hier ist die Geduld und der Glaube der Heiligen nötig.“ (Offb. 13, 10)
Man könnte fragen, welchen Gewinn diese doch so dunkle und vieldeutige Prophezeiung vom Weltgericht uns bringt? Einen sehr großen in jeder Beziehung. Allerdings nicht den, den die Neugierde darin sucht. Aber wie der düstere Glanz der Gewitterwolken uns die Sonne ahnen läßt, die verborgen hinter ihnen strahlt und deren Glut sie am Ende aufsaugen wird, so läßt uns dieses Zukunftsgemälde ahnen, daß hinter allem Weltgeschehen ein einziger großer Ewigkeitsplan des verborgenen Gottes schwebt, zu dessen endgültiger Verwirklichung selbst die Gottlosen wider ihren Willen beitragen müssen. Darum leuchtet dem Gläubigen, der im Dunkel der Gegenwart diese Worte liest, Ewigkeitslicht aus ihnen entgegen und erfüllt ihn mit neuem Glaubensmut, wachsam auf seinem Posten auszuharren und „stand zu halten bis ans Ende“. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XI.2, 1936, S. 76- S.77