Der zwölfjährige Jesus bleibt im Tempel
Als Jesus zwölf Jahre alt war, gingen Maria uns Joseph wie gewöhnlich (1) zum Osterfest nach Jerusalem. Als sie nun am Schluss des Festes (2) heim kehrten, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem (3), ohne daß sie es wußten. Da sie meinten, er sei in dem Pilgerzug (4), so machten sie eine Tagesreise und suchten ihn dann unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn. (5) Da fanden sie ihn nach drei Tagen (6) im Tempel (7), wie er mitten unter des Gesetzeslehrern saß, ihnen zuhörte und sie fragte. Alle, die ihn hörten, staunten über seinen Verstand und seine Antworten. (8) Und da sie ihn sahen, wunderten sie sich (9), und seine Mutter sprach zu ihm: „Sohn! Warum hast du uns das getan? (10) Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Er sprach zu ihnen: „Warum doch habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr denn nicht, daß ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (11) Sie aber verstanden das Wort nicht, das er ihnen sagte. (12) – Und er ging mit ihnen nach Nazareth und war ihnen untertan. (13) Seine Mutter aber bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit und alter und Gnade bei Gott und den Menschen. Hier blieb er in der Verborgenheit bis zu seinem dreißigsten Jahr und wurde für den Sohn Josephs gehalten. (14)
Anmerkungen:
(1) Das Gesetz schrieb den Männern vor, an den drei Hauptfesten nach dem Heiligtum zu wallfahrten. Fromme Frauen schlossen sich solchen Pilgerzügen an. Wann die Verpflichtung der Männer beginne, sagt das Gesetz nicht, vielleicht mit dem 20. Jahr, wo sie dem Heer Israels beigezählt wurden, oder mit dem 12. Jahr; denn von diesem Jahre an wurde, wenigstens nach späterem jüdischen Brauch, der Knabe ein be-ha-thora, oder bar-mizweh, ein Sohn des Gesetzes, d. i. zur Haltung des Gesetzes verpflichtet.
(2) Entweder nach dem zweiten Ostertag oder nach der Festwoche.
(3) Nicht zufällig oder gar mit Nichtbeachtung des kindlichen Gehorsams, sondern, wie wir aus dem Folgenden sehen, nach heiligem göttlichen Ratschluss. – Hier einen Vorwurf gegen Jesus oder gegen Maria und Joseph erheben, heißt vergessen, daß Jesus der wahre Sohn Gottes war, und daß hierüber bei Maria und Joseph die vollkommenste Gewissheit bestand. Jesus wollte, wie er in den Angelegenheiten des irdischen Lebens Maria und Joseph untertan war, anfangen, zu zeigen, daß er in allem, was seine Aufgabe als Erlöser betreffe, nur seinem himmlischen Vater gehorche. Seinen Eltern aber konnte es nicht in den Sinn kommen, zu meinen, daß sie das göttliche Kind ängstlich überwachen müssten. – Gut bemerkt Bartmann (a.a.=. 60): Der Abschnitt enthalte „wirkliche Schwierigkeiten, aber nicht so sehr für die jetzige zeit der Auslegung, als vielmehr für die damalige Zeit des Handelns. Es sind praktische Schwierigkeiten für die beteiligten heiligen Personen, keine spekulativen für die Theologie der Kirche. In keiner Hinsicht aber drücken diese Schwierigkeiten den katholischen Marienkult. Sie … zeigen nur, daß Maria … in Bezug auf die messianische Zukunft ihres Sohnes sowie ihr besonderes Verhältnis zu derselben an die in ihrem Sohn ganz allmählich sich enthüllende Vaterabsicht Gottes gewiesen und gebunden ist.“
(4) Der möglicher Weise sehr groß war und sicher auch in guter Ordnung sich bewegte. Jesus konnte bei Kindern seines Alters oder bei Verwandten oder Bekannten sein. Der Irrtum wurde erst am Abend offenbar, an dem Ort des ersten Nachtlagers. Die Legende bezeichnet als diesen Ort die Stadt Beroth, jetzt el-Bire, gegen vier Stunden oder 16 km von Jerusalem, an der Nordgrenze des ehemaligen Reiches Juda. Dort bauten die Kreuzfahrer eine schöne gotische Liebfrauenkirche; sie war dreischiffig und ohne die drei Apsiden 32 m lang, 18 m breit; sie ward 1146 vollendet und ein Hospital daneben erbaut. Jetzt stehen nur noch die drei Apsiden und die nördliche Mauer. Diese Ruinen wurden 1833 von den Katholiken erworben.
(5) Wer vermag die Angst und den Schmerz dieser zärtlichsten Mutter zu ermessen! Denn obwohl sie wußte, daß er der Sohn Gottes sei, so wußte sie doch auch, daß er leiden werde, aber nicht, wann die schreckliche Trennung von ihr stattfinden, sein Leiden anfangen sollte. Es war der dritte ihrer sieben großen Schmerzen.
(6) D. h. am dritten Tage nach ihrer Abreise von Jerusalem. Eine Tagreise hatten sie gemacht, bis sie den Verlust merkten; eine Tagreise brauchten sie zur Rückkehr nach Jerusalem; am dritten Tag fanden sie Jesus.
(7) In einer Zellen der verschiedenen Anbauten oder in einer Synagoge, die im äußersten Tempelvorhof stand.
(8) D. h. über den Verstand, den er in seinen Antworten offenbarte.
(9) Maria und Joseph wunderten sich nicht über seine Weisheit, sondern über das, was sie sahen, weil es ihnen ganz neu und ungewohnt war.
(10) Der unmittelbare Ausdruck ihrer mütterlichen Bekümmernis, aber kein Vorwurf, außer etwa in dem Sinne, wie wir dies auch sonst bei den heiligen finden, daß sie in höchster Zutraulichkeit gegen Gott sich liebevoll bei ihm und sogar über ihn beklagen. (Vgl. Ps. 43, 23; Jb 7, 20; 13, 23ff)
(11) Diese Worte haben eine zweifache Erklärung gefunden: 1. = Wußtet ihr nicht, daß ich im Hause meines Vaters, d. i. im Tempel, mich aufhalten muss? 2. = Wußtet ihr nicht, daß ich mit den Angelegenheiten meines Vaters beschäftigt sein und das tun muss, was die Sache, der Wille, der Ratschluss meines himmlischen Vaters und der Zweck meiner Sendung auf Erden ist? (Vgl. Joh. 9, 4; 14, 31) Die zweite Erklärung entspricht besser dem Wortlaut. – Diese Antwort des zwölfjährigen Jesuskindes offenbart, daß nicht erst am Ende, sondern schon am Anfang seines Lebens das Bewusstsein vom göttlichen Charakter seiner Persönlichkeit bei ihm fest stand. Reichen homelitischen Stoff zu diesen Worten wie zu dem ganzen Abschnitt gibt Meyenberg, Homelitische Studien…
(12) Sie verstanden nicht den tiefen und vollständigen Sinn seiner Worte, näherhin, was er alles mit dem Ausdruck bezeichne: „was meines Vaters ist“, und was in Bezug darauf sein Zurückbleiben im Tempel etc. zu bedeuten habe. Seine Absicht aber war die, daß er schon jetzt seine Weisheit als eine übernatürliche (vgl. Mt. 13, 54; Joh. 7, 15) offenbaren, schon jetzt die Menschen lehren wollte, daß auch die berechtigsten und zartesten natürlichen Rücksichten dem Willen Gottes geopfert werden müssen, besonders von denen, die er zur Teilnahme an seinem Amt oder zu seiner besonderen nachfolge (im Ordensstand) berufe. (Vgl. Mt. 4, 20; 8, 19-22; 10, 37; 19, 27ff; Lk. 9, 57-62) Zugleich wollte er schon jetzt seine Mutter auf den Schmerz der Trennung vorbereiten und auf all das Weh, das bei seinem Leiden und Sterben ihr Herz durchdringen sollte. Darum erblickten auch heilige Lehrer der Kirche (St. Thomas in der Catena aurea zu dieser Stelle) in dieser dreitägigen Trennung ein Vorbild jener noch viel schmerzlicheren Trennung während der drei tage, die Jesus im grab lag.
(13) Dies der Inbegriff seines ganzen verborgenen Lebens bis zu seinem 30. Jahre. Voll Bewunderung ruft hier der hl. Bernard aus (Hom. 1 super Missus est): „Gott, dem die Engel unterworfen sind, war Maria und Joseph untertan. O Demut ohne Beispiel!“ Welche Arbeiten übte hier der Sohn Gottes, und in was war er untertan! So wollte er auch den Stand der Arbeiter adeln und insbesondere uns das innerliche Leben lehren und uns begreiflich machen, daß nicht die Größe der Werke, sondern die Größe der Liebe Gottes in unsern Werken für Gott entscheidend sei. So wollte er uns lehren, ein in Gott verborgenes Leben in Demut und Gehorsam zu schätzen und zu lieben. (Vgl. Kol. 3, 3) – Außer den obigen Worten finden wir nur noch bei Mk. 6, 3 ein Wort, das Licht wirft auf das verborgene Leben des Herrn, nämlich: „Ist dieser nicht der Zimmermann!“
(14) Lk. 3, 23. –
aus: Schuster u. Holzammer, Handbuch zur Biblischen Geschichte, Zweiter Band, Das Neue Testament, 1910, S. 137 – S. 139