Die Geschichte der ersten Sünde ist zugleich die Geschichte aller Sünde
Die Geschichtlichkeit des Sündenfalls
(Gn. 3, 1-13)
Daß die folgende Erzählung vom Sündenfall nicht ein Mythos, auch nicht bloße Allegorie (sinnbildliche Einkleidung), sondern eine wirkliche Geschichte ist, erhellt aus verschiedenen Gründen:
1. Die Heilige Schrift berichtet vor wie nach dieser Erzählung geschichtliche Tatsachen (die Erschaffung der Welt, den Brudermord Kains, die Sündflut), und sie deutet auch nicht durch einen einzigen Umstand an, daß sie in dieser Erzählung des Sündenfalles allein von dem Gebiet der wirklichen Geschichtsschreibung auf das der bloßen Dichtung übergehe.
2. Es war für die Menschheit von höchsten Interesse, zu wissen, nicht bloß daß ursprünglich ein Sündenfall, sondern auch wie derselbe stattgefunden habe. Dafür konnte aber eine bloß sinnbildliche Darstellung nicht genügen.
3. Die Heilige Schrift behandelt sonst überall die hier vorliegende Erzählung als die einer wirklichen Tatsache; so wenn sie in Vergleichungen auf den Baum des Lebens anspielt (Spr. 3, 18; 11, 30), oder der Schlange gedenkt, die mit ihrer Arglist die Eva verführt habe (2. Kor. 11, 3), oder des Umstandes, daß nicht der Mann, sondern das Weib der zuerst verführte Teil ward (1. Tim. 2, 14), daß Adam seine Sünde zu entschuldigen gesucht (Jb. 31, 33) usw.
4. Die Überlieferung der Juden wie der Kirche verstand die Erzählung stets buchstäblich. Das christliche Altertum hat insbesondere den Versuch zurück gewiesen, die Erzählung zu allegorisieren. (1)
Der Anstoß, den man vielfach an der kindlichen Einfachheit der biblischen Erzählung nimmt, fällt weg, wenn beachtet wird, daß der Bericht sich offenbar auf eine Überlieferung stützt und diese als bekannt voraus setzt. Er schildert deshalb den Vorgang, so wie er überliefert ist bzw. wie er sich der Anschauung darstellt, ohne Erklärungen zu geben oder Reflexionen daran zu knüpfen. Dies beruht ohne Zweifel auf denselben oder ähnlichen Gründen wie die Nichterwähnung der Engel und ihres Falles im Schöpfungsbericht. Man kann mit gutem Grund annehmen (wie das die älteren Erklärer durchweg tun), Moses habe abgöttischen und abergläubischen Vorstellungen und Gewohnheiten vorbeugen wollen, wie sie sich bei heidnischen Völkern vielfach fanden. Daß man der Schlange als solcher die Fähigkeit zu reden zuschreiben werde, brauchte er nicht zu besorgen, da er so nachdrücklich als möglich den Unterschied zwischen Mensch und Tier hervor gehoben hatte. Da die Schlange als ein Tier des Feldes bezeichnet wird, kann von einer bloß bildlichen Ausdrucksweise nicht die Rede sein. Es muss ein äußerer Vorgang angenommen werden, bei welchem mindestens die Gestalt (Erscheinung) einer Schlange eine Rolle spielte. Ein gewisser Spielraum bleibt aber der Erklärung in der Frage, ob die Schlange ein wirkliches Tier oder eine Scheingestalt gewesen sei, unter der sich der Verführer verborgen habe. Ersteres hält die Mehrzahl der Ausleger fest, letzteres ist immerhin möglich, da nur der äußere Vorgang berichtet wird und der Fluch nur den Verführer unter der Gestalt der Schlange trifft. Da die Erzählung den Versucher und Verführer deutlich als ein geheimnisvolles, intelligentes, dem Menschen überlegenes Wesen kennzeichnet, macht das „Reden“ der Schlange keine Schwierigkeit; es ist der Teufel, durch dessen Neid die Sünde in die Welt gekommen (Weish. 2, 22). Der dämonische Verführer redete unter der Gestalt der Schlange, er, nicht das der Sprachwerkzeuge entbehrende Tier, brachte die Schallwirkungen des Redens hervor, was nach der Lehre der Theologen nicht die natürliche Kraft der gefallenen Geister übersteigt. Für die Anschauung geht das Reden von der Schlange, dem Werkzeug des Verführers, aus, darum „spricht“ die Schlange. Der Versucher und sein Werkzeug fließen so in eins zusammen, und das um so mehr, wenn die Schlange zugleich als Symbol des ersteren aufgefaßt werden kann, wie V. 14 nahe legt. (2)
Daß schon die ersten Leser der Genesis den Bericht in diesem Sinne verstanden, unterliegt schon deshalb keinem Zweifel, weil die uralte orientalische Überlieferung von der Existenz dämonischer Mächte weiß und weit verbreiteter Volksglaube ihre Wirksamkeit gern mit der Schlange in Verbindung brachte. Über dies läßt der Fluch über die Schlange (V. 14) und die spätere Überlieferung keinen Zweifel darüber, daß man in Israel das wahre Wesen der hier redenden Schlange kannte. (3) allgemein anerkannt ist die Meisterschaft der folgenden Erzählung in der psychologischen Schilderung: „In den wenigen Worten und Handlungen, die er seinen Personen zuschreibt, versteht der Erzähler es, sie im Innersten deutlich zu machen: sein Meisterstück ist die Schilderung des Weibes.“ (4) Auch ist die in kindlich einfacher und doch tief geheimnisvoller Weise von einem inspirierten Verfasser erzählte Geschichte der ersten Sünde zugleich die Geschichte aller Sünde: der historische reale Vorgang im Paradies symbolisiert den Verlauf der sündigenTat überhaupt; aus der Erzählung des Genesis hat der Geist von Anfang an den reichsten Aufschluss über Natur und Wesen der Sünde empfangen. (5)
(1) Vgl. Scholz, Handbuch der Theologie des alten Bundes II 94ff.
(2) S. Aug., De Gen. ad lit. 1. 11, c. 27, n. 34: „Durch die Schlange sprach der Teufel, der sich ihrer als Werkzeug bediente und ihre Natur so bewegte, wie er sie bewegen oder sie bewegt werden konnte, um den Klang von Worten oder körperliche Zeichen auszudrücken, durch welche das Weib die Willensmeinung des Versuchers verstand.“ Theodoret (In gen. q. 34) bemerkt: „Den Fluch hat Gott eigentlich gegen den gemeint, der die böse Tat begangen hat. Denn auch er wird Schlange genannt… Aber auch das Tier selbst ist zum Frommen der Menschen dem Fluch verfallen. Wenn wir nämlich die Schlange kriechen und am Boden sich winden sehen, so gedenken wir des alten Fluches und erkennen daraus, wie viel Unheil die Sünde nicht bloß über jene bringt, die sie begehen, sondern auch über die, welche dazu beitragen.“
(3) Die älteren Erklärer nehmen das Reden der Schlange durchweg buchstäblich und verweisen auf das Reden der Eselin Balaams (Nm. 22, 21) und die Reden der Besessenen im NT. Doch waltet ein Unterschied ob, da im ersteren Falle das Reden des Tieres von dem Engel des Herrn verursacht ist, und der Zweck des außergewöhnlichen Vorganges aus höheren Absichten Gottes erklärt werden kann, während hier Zulassung Gottes für die Zwecke des Versuchers angenommen werden muss. Bei den Besessenen ist das Reden aus dämonischer Eingebung überhaupt leichter denkbar, weil sie eben Menschen mit Sprachwerkzeuge sind. – Neuere machen sich die Sache leicht, indem sie die schlichte Erzählung zum Mythos stempeln und auf das Märchen, die Tierfabel, die Sage verweisen, in denen die Tiere reden (Gunkel). Nun entbehrt aber der biblische Bericht aller Kennzeichen des Mythos und ist und ist in den Mythen der Völker bis jetzt keine Parallele dazu gefunden worden. Die Überlieferungen und der Volksglaube in Betreff der Dämonen und schlangen bedürfen aber selbst erst der Erklärung und weisen auf ein Faktum der Urzeit zurück, wie es der biblische Bericht erzählt.
(4) Gunke, Genesis 12 (wo die Erzählung freilich nur als Mythos betrachtet wird); ähnlich Kautzsch, D. Hl. Schr. AT 11: „Meisterhaft schildert er das stufenweise Zustandekommen dieser (und damit jeder folgenden!) Sünde und als ihre Wirkung den endlosen Kampf des Menschengeschlechtes mit der nimmer ruhenden Sündenmacht, wenn auch nicht ohne jede Hoffnung auf die schließliche Überwindung des Bösen.“
(5) Vgl. Hettinger, Apologie III 379ff; S. Aug., C. Manich. 2, 21; S: Thom., S. th. 2,2, q. 163 et 165 – Heinrich, Dogmatische Theologie VI 679 ff. Eine lehrreiche „Probe praktischer Schriftbetrachtung“ über die Sünde des ersten Menschenpaares bietet Sailer, Pastoraltheologie I, 2, Hauptst. Desgl. Eberhard, Kanzelvorträge I 45ff. –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. I, Altes Testament, 1910, S. 171 – S. 178