Das verschiedene Wissen Jesu Christi als Gott und als Mensch
Eine der schwierigsten theologischen Fragen ist die über das Wissen Christi. Abgesehen von seiner göttlichen Allwissenheit unterscheidet man in der Menschheit Jesu ein übernatürliches Wissen, das besonders durch die Anschauung Gottes vermittelt ist (siehe darüber zu Kap. 16, 28) und ein natürliches Wissen, das er, wie jeder Mensch, sich durch die Erfahrung seiner Sinne usw. angeeignet hat. Wenn also Jesus von etwas sagt, er wisse es nicht, oder wenn er nach etwas sich erkundigt, so pflegt man das dementsprechend zu erklären: er wisse es zwar durch seine übernatürliche Erkenntnis, habe es aber auf dem natürlichen Erkenntnisweg noch nicht erfahren. Man veranschaulicht das durch ein Beispiel: Wenn ich auf amtlichem Wege, etwa in der Beichte, zur Kenntnis einer Sache gekommen bin, dann ist dieses mein Wissen sozusagen kein Wissen, denn ich darf in keinerlei Weise davon Gebrauch machen. Erst wenn ich auf andere Weise dasselbe gehört habe, darf ich mich dazu äußern wie ein anderer Mensch. Demnach würde durch die Erfahrung das Wissen Christi inhaltlich nicht bereichert, sondern er wäre lediglich zu demselben bereits vorhandenen Erkenntnis-Inhalt noch auf einem neuen Wege gekommen. Diese Erklärung, in dieser Weise gefaßt, dürfte aber doch noch nicht ganz befriedigen. Denn Jesus spricht wiederholt so (vgl. Mark. 5, 30 ff.; Luk. 8, 45 ff.), daß man den Eindruck gewinnt, es handelt sich nicht nur um einen neuen Erkenntnis-Weg, sondern auch einen neuen Erkenntnis-Inhalt, d. h. er will tatsächlich etwas Neues wissen. Noch größer wird die Schwierigkeit, wenn es bisweilen von ihm heißt, er habe sich gewundert (vgl. Matth. 8, 10; Mark. 6, 6). Wundern kann sich ein Mensch nur, wenn er etwas wirklich inhaltlich Neues erfährt. Ich kann, um auf das vorige Beispiel zurück zu kommen, wenn mir jemand etwas mitteilt, was ich vorher nur amtlich gewußt hatte, zwar jetzt erst dazu Stellung nehmen. Würde ich aber mein Staunen darüber ausdrücken, so würde ich unnatürlich handeln, ähnlich wie ein Schauspieler, der auf der Bühne so tut, als ob er aufs höchste überrascht sei, obwohl er in Wirklichkeit gar nicht überrascht ist. Darum würde es nicht befriedigen, solche Angaben des Evangeliums damit zu erklären, Jesus habe jetzt die bei einem gewöhnlichen Menschen in solch einer Situation auftretenden Affekte geäußert, obwohl er selbst sie doch gar nicht haben konnte.
Diese Schwierigkeiten lösen sich aber, wenn wir die obige Erklärung noch etwas weiter ausbilden: In der menschlichen Natur Christi gab es nicht nur verschiedene Erkenntnis-Felder. Die ihm auf übernatürliche Weise zukommende Erkenntnis ruht in dem übernatürlichen Erkenntnis-Feld. Der Inhalt seines durch Erfahrung gewonnenen Wissens ist aufgespeichert im natürlichen Erkenntnis-Feld. Zwischen beiden Erkenntnisfeldern finden zwar Beziehungen statt. Sie werden jedesmal da offenbar, wo Christus etwas aussagt, was er nur auf übernatürliche Weise wissen konnte. Trotzdem sind beide Felder untereinander verschieden. Wo also kein erhellender Lichtstrahl aus dem übernatürlichen Erkenntnis-Feld ins natürliche gefallen ist, da fehlt in dem natürlichen Feld der entsprechende Erkenntnis-Inhalt, bis er, sei es auf natürlichem Erfahrungsweg, sei es durch Erleuchtung des Heiligen Geistes, erworben ist. Auf diese Weise lassen sich sowohl die hier behandelte Textstelle als auch alle anderen derartigen evangelischen Berichte befriedigend erklären.
Ein Einwand kann gegen diese Auffassung, die nur den Wert einer Hypothese beanspruchen will, erhoben werden. Wie ist die Annahme verschiedener Erkenntnis-Felder in Christus zu vereinbaren mit der Einheit seines Selbstbewusstseins bzw. mit der Einheit des Bewusstseinsträgers? Die Antwort lautet: das ist für uns eben so ein Mysterium, wie die hypostatische Union ein Mysterium ist… Es bleibt für uns ein Mysterium. Es muss bemerkt werden, daß dem Ausdruck „Erkenntnisfeld“ eine gewisse Bildlichkeit eignet wie allen unseren Begriffen von uns fern liegenden geistigen Dingen, wodurch ein Missverständlichkeit von selbst gegeben ist. Sollte sich aber trotzdem die Unvereinbarkeit dieses Begriffes mit der Einheit des Bewusstseins-Trägers in Christus erweisen, dann wäre die Erklärung auf einem anderen Weg zu suchen: Wie die Anschauung Gottes von sich aus die Seele Christi mit einer himmlischen Seligkeit hätte überströmen müssen, die sie zu jedem Leiden unfähig gemacht hätte, wäre nicht nicht durch seinen freien Willen diese Wirkung während seines Erdenlebens unterbunden gewesen, so müsste man auch annehmen, daß Jesus das durch diese Anschauung gegebene potentielle Wissen in manchen Dingen nicht aktualisiert hat, um auch hierin Mensch unter Menschen zu sein. Wie immer man sich die Sache denkt, es handelt sich jeweils um den Versuch, das Mysterium des gottmenschlichen Seelenlebens uns nahe zu bringen und für zwei in den Evangelien gleich bezeugte Tatsachen eine gemeinsame Erklärungsformel zu finden: Einerseits verrät Christus oft ein bis in Kleinigkeiten hinein sich erstreckendes übernatürliches Wissen, anderseits gibt Er sich manchmal so wie einer, der etwas wissen will. (S. 28/29)
Die Theologen unterscheiden bei dem Menschen Jesus – seiner Gottheit eignete natürlich die göttliche Allwissenheit – verschiedene Arten und Formen des Wissens. Zunächst besaß er wie jeder Mensch ein Erfahrungs-Wissen, das des Wachstums fähig war, und im Laufe seines Erdenlebens auch stetig wuchs innerhalb der Schranken, die er ihm selbst durch seinen Bildungsgang usw. Gesetzt hatte. Die Theologen schreiben seiner Menschheit aber außerdem die Anschauung Gottes zu, die zwar keineswegs sich mit der göttlichen Allwissenheit vergleichen läßt, aber trotzdem eine alles kreatürliche Wissen an Tiefe und Fülle überragende Kenntnis in sich schließt. Obwohl sich diese Lehre aus Schrift und Vätern kaum direkt beweisen läßt, erscheint sie doch eigentlich als selbstverständliche Folge der hypostatischen Union. Denn es ist nicht vorstellbar, daß die mit der Gottheit in einer Person verbundene menschliche Seele Jesu davon kein ganz unmittelbares Bewusstsein gehabt hätte. Außerdem reden die Theologen noch von einer „eingegossenen Erkenntnis“, d. h. von einem Wissen um die Dinge aus den Ideen heraus, wie die Engel es besitzen. Dieses außerordentliche Wissen war der Menschheit Christi persönlich geschenkt, gehörte eigentlich nicht zu seinem Amt. Deshalb hat er auch für gewöhnlich keinen Gebrauch davon gemacht, außer wo es etwa ausnahmsweise nötig war, oder insofern es indirekt seine ganze Denk- und Auffassungsweise beeinflußte.
Jesus besaß aber noch eine andere Erkenntnis-Form, von der bei den Theologen nicht die Rede ist, die ihm aber gerade für seinen Beruf gelegentlich besonders verliehen wurde. Das war das prophetische Schauen. Die Art seines prophetischen Schauens unterscheidet sich nicht von der der andern Propheten. Diesem Schauen ist nun eigentümlich, daß es entsprechend der Zeitlosigkeit Gottes die Dinge in ihrem ursächlichen Zusammenhang oder im logischen Zusammenhang der Pläne Gottes erblickt, aber nicht mit den zeitlichen Zwischenräumen, die zwischen deren Erfüllung liegen. So schauten die alten Propheten stets das erste Kommen des Messias zur Erlösung und dessen letztes Kommen zum Gericht in einem Bild. Ja sogar der alt-testamentliche Typ desselben verwuchs mit dem Antityp zu einer Einheit (Rückkehr aus dem babylonischen Exil = Erlösung = Endgericht). Für den Hörer und Leser der Prophezeiung hat diese also naturgemäß etwas Mißverständliches, was ihn in die Irre führen kann, sobald er sich nicht bewußt wird, daß das einheitliche Bild der Auflösung in zeitlich getrennte Akte bedarf. Diese Auflösung läßt sich natürlich erst mit Sicherheit vollziehen, wenn die teilweise Verwirklichung der Prophezeiung in der Geschichte den Anhaltspunkt dafür gegeben hat. Denn die Prophezeiung soll als Gegenstand des gläubigen Vertrauens eine Dunkelheit in sich schließen. Der Prophet aber, der einfach aussagt, was er schaut, kann deshalb nicht des Irrtums geziehen werden. Ein Irrtum läge erst vor, wenn er selbst eine falsche Deutung des von ihm Geschauten geben würde.
So schaut also auch Jesus prophetisch den Untergang Jerusalems und sein eigenes Kommen zum Gericht in einem Bild und spricht demgemäß zu den Menschen. Daß er persönlich aber sein Schauen nicht falsch deutete, das zu beweisen, bedürfen wir keiner anfechtbaren Spekulation. Das wissen wir aus seinem eigenen Mund. In Kap. 22 Vers 1-14, wo er nicht aus prophetischer Schau spricht, sondern ein Gleichnis vorträgt, spricht er es unmißverständlich aus, daß der Untergang Jerusalems und das Weltgericht keineswegs geschichtlich zusammen fallen, daß vielmehr mit dem ersteren erst die Hauptperiode der Missionsarbeit beginnen wird. Daß diese geraume Zeit dauern wird, liegt in der Natur der Sache selbst und läßt sich auch erschließen aus den Worten, mit denen er sonst seine Missionsaufträge gibt und seine Mithilfe „bis ans Ende der Zeiten“ in Aussicht stellt. (S. 250/251) –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XI.1, 1937
Die Attribute der menschlichen Natur Christi
- Die Seele Christi besaß vom ersten Augenblick ihres Daseins an die unmittelbare Gottanschauung. Sent. cert.
- Das menschliche Wissen Christi war frei von positivem Nichtwissen (Unwissenheit) und von Irrtum. Sent. cert. Vgl. D 2184f.
- Die Seele Christi besaß von ihrem Ursprung an ein eingegossenes Wissen (scientia infusa). Sent. communis.
- Die Seele Christi besaß auch ein erworbenes Wissen oder Erfahrungs-Wissen (scientia acquisita, sc. experimentalis). Sent. communis.
aus: Ludwig Ott, Grundriss der Dogmatik, 1954, S. 188/191/193/194