Christus und sein sichtbarer Stellvertreter auf Erden
Christus als sichtbares Haupt seines Leibes nach seinem Tode
Ist Christus nach seinem Tode nur unsichtbares Haupt? Hat er nicht im Gegensatz zu allen anderen verstorbenen Gliedern jederzeit einen sichtbaren Stellvertreter auf Erden, von Petrus bis heute?
Damit kommen wir zu einem Punkt, in dem das Rundschreiben (Anm.: Pius XII. Mystici corporis) wieder einen wesentlich über St. Thomas hinaus gehenden Fortschritt bringt. Er setzt die auch von St. Thomas vertretene Lehre voraus, daß der Papst, wie alle kirchlichen Vorgesetzten, Mitglied der Kirche (in 1. Kor. 12, 15), das sichtbare Haupt der Kirche und somit das sichtbare Hauptglied der Kirche sei. Diese Lehre wird aber ergänzt durch die andere, die sich bei St. Thomas noch nicht findet, nämlich durch den von Bonifaz VIII. ausgesprochenen Satz, den Papst Pius XII. anführt und ausführlich erklärt, daß Christus und sein Stellvertreter nicht zwei, sondern ein Haupt seien.
Die Folgerung aus diesen Voraussetzungen, so scheint es, wäre nun die, daß Christus, das unsichtbare Hauptglied der Kirche, durch seinen sichtbaren Stellvertreter auf Erden, der sicher Glied und Hauptglied der Kirche ist, jederzeit auch sichtbares Glied und Haupt seines Leibes, der Kirche, sei. Um zu dieser wichtigen Ergänzung zu kommen, mussten über St. Thomas hinaus eine Reihe von Schwierigkeiten überwunden werden.
Gegen die einseitig innere Leitung der Kirche durch Christus
Um dem unsichtbaren Christus das Prädikat, Haupt der Kirche, und zwar, wie dort aus dem Zusammenhang hervor geht, Haupt der sichtbaren Kirche zu sein, als unveräußerliches Prädikat (proprium) zu sichern, sucht St. Thomas die innere Leitung der Kirche beziehungsweise des Leibes durch Gnadeneinfluss gänzlich, die äußere Leitung oder Steuerung der Kirche, wenigstens soweit sie unsichtbar ist, Christus dem Haupt vorzubehalten. Außerdem sucht er die sichtbare äußere Leitung der Kirche durch das sichtbare Haupt, den Papst, und durch die sichtbaren Häupter, die Bischöfe, dadurch abzuschwächen, daß er betont, die des Papstes sei beschränkt auf die kurze Zeit des Pontifikats, die der Bischöfe auf gewisse Teile der Kirche und die beider inhaltlich auf eine stellvertretende Leitung, ohne daß sie eine solche aus eigener Machtvollkommenheit wäre, umfänglich auf die Glieder Christi auf Erden. Durch eine solche äußere Leitung sei der Papst kirchliches Oberhaupt, wie jeder Fürst und Prälat Haupt der Untergebenen und der Teufel Haupt der Schlechten. Nicht aber sei dies jene Form, Oberhaupt der Kirche zu sein, wie sie Christus allein und ausschließlich zukomme.
In allen diesen Punkten bringt das Rundschreiben einen Fortschritt. Vor allem wird die äußere Leitung der Kirche durch Christus nicht bloß soweit sie unsichtbar, geheimnisvoll und außerordentlich ist, sondern auch soweit sie sichtbar und ordentlich ist, ausführlich als Grund dafür aufgeführt, daß er das Haupt der Kirche sei. Dann aber wird gesagt, daß er diese sichtbare und ordentliche äußere Leitung vor allem durch seinen Stellvertreter, den Papst, ausübe. Damit rückt nun die äußere Leitung und andererseits gerade die stellvertretende Leitung durch den Papst an Bedeutung vor. Der unsichtbare Christus ist jetzt geradezu durch den Papst der sichtbare Leiter und damit das Haupt der Kirche.
Gegen die Zweihäupter-Theorie
Die Schwierigkeiten, die sich aus der Annahme zweier Häupter, eines sichtbaren und eines unsichtbaren, ergeben, hat St. Thomas im Falle Teufel und Antichrist gesehen und sie so gelöst, daß er erklärt, beide seien nicht zwei, sondern ein Haupt. Merkwürdiger Weise fehlt die entsprechende Lösung im Falle Christus und Papst.
Es bedurfte, wie es scheint, des ketzerischen Missbrauches, der das sichtbare Haupt der Kirche, Christus, gegen das sichtbare Haupt, den Papst, ausspielte, um die nahe liegende Formel ausdrücklich zu prägen, Christus und Papst seien nicht zwei Häupter, wie eine Missgeburt (monstrum) zwei Häupter habe, sondern ein Haupt – eine Formel, die das Rundschreiben unter ausdrücklichem Hinweis auf Bonifaz VIII. übernimmt und erklärt.
Damit ist aber das unsichtbare Haupt auch sichtbares Haupt und Glied der Kirche geworden und der Papst ist nicht mehr als Einzelpapst in der kurzen Zeit seines Pontifikats, sondern als der fortdauernde Petrus und Stellvertreter Christi in seiner Kirche gesehen.
Gegen die Zweileiber-Theorie
Die zwei genannten Theorien, nämlich die einseitige Betonung der unsichtbaren zuungunsten der sichtbaren Leitung und die Zweihäupter-Theorie waren so lange nicht zu entbehren, als man mit St. Thomas zwei Leiber annahm, deren Haupt Christus war, einen sichtbaren, die katholische Kirche, und einen unsichtbaren, den „mystischen Leib der Kirche“: Denn für diesen letzten, der selbst unsichtbar ist, käme vor allem die unsichtbare, nicht die sichtbare Leitung in Betracht, und hier konnte der Papst unmöglich sichtbarer Stellvertreter Christi und somit ein Haupt mit Christus sein. Denn das hätte bedeutet, daß er wie Christus nicht bloß das Haupt der katholischen Kirche, sondern auch das des Menschengeschlechts und der Engelwelt gewesen wäre.
Erst wenn man mit Papst Bonifaz VIII. nur die römisch-katholische Kirche ins Auge faßt und mit Papst Pius XII. nicht mehr an den sichtbaren Leib, sondern nur mehr an den sichtbaren Leib, die katholische Kirche, als Subjekt für das Prädikat Leib Christi denkt, erst dann ist durch Überwindung der Zweileiber-Theorie die Voraussetzung geschaffen, daß nunmehr Christus das unsichtbare und sichtbare innere Haupt dieses Leibes sei.
Dabei bleibt die Lehre, daß Christus in anderer Weise auch Haupt der Menschenfamilie, auch Haupt der Engel sei, vom Rundschreiben völlig unangetastet, aber er ist es nicht in dem streng konstitutionellen Sinn, in dem er Haupt seines Leibes, der Kirche, ist. –
aus: Albert Mitterer, Geheimnisvoller Leib Christi nach St. Thomas von Aquin und nach Papst Pius XII., 1950, S. 103 – S. 106
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