Wer ist der mystische Leib Christi

Wer ist der mystische Leib Christi? – 1. Fragestellung

a) Die Subjekts- und Prädikatsfrage

Wenn man den Satz ausspricht, die Kirche sei der mystische Leib Christi, so ist dabei „die Kirche“ das Subjekt, „ der mystische Leib Christi“ das Prädikat und „ist“ die Kopula dieses Satzes.

Damit drängen sich drei Fragen auf, die Subjekts-, die Prädikats- und die Kopulafrage. Von dieser letzten sprechen wir erst in den nächsten Kapiteln.

Die Subjektsfrage lautet: Was ist in diesem Satz unter Kirche zu verstehen, wer oder was ist damit gemeint? Es ist einer der größten Lehrfortschritte, daß das Rundschreiben (Anm. Pius XII., Mystici corporis) diese Frage einduetig geklärt hat: Die Kirche, die das Subjekt des Prädikats mystischer Leib Christi ist, ist keine andere als die „eine heilige, katholische, apostolische, römische Kirche“. (1)

Die Prädikatsfrage aber ist die: Was bedeutet dieser Ausdruck „mystischer Leib Christi“, der von der Kirche als Prädikat ausgesagt wird? Das Rundschreiben hat ihn zergliedert und die Antwort darauf in drei Teilen gegeben, die dartun, was es bedeutet, daß die Kirche die Prädikate Leib, Christi und mystisch habe, beziehungsweise Leib ,Leib Christi und mystischer Leib Christi sei.

Mit der Prädikats- und Subjektsfrage ist eine dritte verbunden, die Identitätsfrage. Der Satz nämlich, die Kirche sei nicht ein, sondern der mystische Leib Christi, besagt, daß Kirche und mystischer Leib Christi vertauschbare Begriffe sind, so daß jenes Subjekt, von dem dieses Prädikat ausgesagt, und dieses Prädikat, mit dem dieses Prädikat, mit dem jenes Subjekt benannt wird, mit anderen Wirten, daß Kirche und mystischer Leib Christi nur begrifflich verschieden, faktisch aber identisch sind.

Vielleicht ist durch den Satz, die Kirche sei der mystische Leib Christi, das Wesen der Kirche ausgedrückt. Jedenfalls ist es nach der Enzyklika das vornehmste, vorzüglichste und göttlichste, das bei einer Wesensbeschreibung der römisch-katholischen Kirche ausgesagt werden kann.

Nur in jener Kirche, von der das Prädikat gilt, ist also das Wesen der wahren Kirche Christi verwirklicht, und umgekehrt scheint das Wesen der Kirche Christi in jenem Prädikat am tiefsten formuliert.

Anmerkung:

(1) Und zwar will das Rundschreiben „vor allem das herausstellen und darlegen, was die streitende Kirche betrifft“, also die röm.-kath. Kirche in ihrem Zustand auf Erden.

b) Die Probleme der Subjekts- und Prädikatsfrage

Die klare Beantwortung der Subjekts-, Prädikats- und Identitätsfrage war nicht immer so leicht, wie sie heute besonders nach dem Rundschreiben ist. Sie war es vor allem auch nicht zur Zeit des hl. Thomas.

Problem des Subjekts

Es ist eine konstante Lehre von St. Paulus über St. Thomas von Aquin bis Papst Pius XII., daß das Subjekt, von dem das Prädikate Leib Christi ausgesagt wird, die Kirche sei. Aber Kirche ist von jeher ein vieldeutiges Wort, das durch eine Begriffsbestimmung, wie sie St. Thomas oft gebraucht, nicht aufhört, vieldeutig zu sein. Denn Glaubensgemeinschaft, beziehungsweise Gemeinschaft der Gläubigen und liturgische Gemeinschaft der Getauften (1) decken sich schon nicht.

Auch wir, die wir überzeugt sind, daß die römisch-katholische Kirche allein die wahre Kirche Christi sei, gestehen zu, daß es Kirchen gibt, deren Glieder gültig getauft, gefirmt und geweiht sind, die das heilige Opfer gültig feiern und alle heiligen Sakramente gültig spenden und empfangen, also zur liturgischen Gemeinschaft wie wir gehören, aber nicht zur Glaubensgemeinschaft, sofern sie eben andersgläubig sind, oder wenigstens nicht zur Rechtsgemeinschaft, sofern sie als Schismatiker sich nicht dem Stellvertreter Christi, dem Papst, unterstellen.

Aber die Kirche als Rechtsgemeinschaft, beziehungsweise als die hierarchische Gemeinschaft hat noch eine andere Gegenbewerberin, nämlich die sogenannte Gnadengemeinschaft, das heißt die Gemeinschaft derer, die im Stande der Gnade und Liebe Gottes sind, aber vielleicht nicht zur römisch-katholischen Kirche gehören. Es ist wieder eine konstante Lehre, daß es in der sichtbaren Rechtsgemeinschaft der römisch-katholischen Kirche Menschen gibt, die im Stande der Ungnade Gottes, ja vielleicht sogar im Stande inneren Unglaubens sind, während es außerhalb der römisch-katholischen Kirche Menschen geben kann, die sich im Stande der Gnade und Liebe Gottes befinden, was von Heiligen des Alten Bundes und von Katechumenen des Neuen Bundes nicht bestritten wird.

Wir werden sehen, wie bei St. Thomas die beiden Begriffe, nämlich einerseits die Kirche als die Gemeinschaft der Gläubigen und andererseits der mystische Leib der Kirche als die Gemeinschaft der Gerechten eine große Rolle spielen. Ist aber einmal der Begriff der Kirche so geformt, daß Gnade und im weiteren Verfolg Auserwählung und Seligkeit eine Merkmal gebende Bedeutung haben, so begreift man, daß der Umfang dieses Subjekts Kirche über die römisch-katholische Kirche hinaus auf die Heiligen des Alten Testaments, auf die seligen Engel und Menschen erweitert wird; und wir verstehen, daß das Prädikat, mystischer Leib Christi zu sein, nicht mehr bloß von der römisch-katholischen Kirche, sondern ebenso von jenem „mystischen Leib der Kirche“ ausgesagt wurde, daß somit zwei Subjekte um die Palme rangen, der mystische Leib Christi zu sein.

Anmerkung:

(1) congregatio fidelium bedeutet entweder erstens Gemeinschaft der Gläubigen, vor allem der Christgläubigen, im Gegensatz zu den Schauenden ; oder zweitens Gemeinschaft der Getauften im Gegensatz zu den Ungläubigen, d. h. Ungetauften, … oder drittens Gemeinschaft der röm.-kath. Getauften im Gegensatz zu denen, die aus der Kirche ausgeschlossen: … oder außerhalb der Kirche sind (extra ecclesia sunt) wie Irrgläubige und Ungläubige …

Problem des Prädikats

Es ist von Sankt Paulus über St. Thomas von Aquin bis zu Papst Pius XII. eine ebenso konstante Lehre, daß Christus nicht bloß das Haupt der Kirche, sondern auch das der Menschheit, der Engelwelt, ja schließlich des ganzen Kosmos sei. Man konnte also von allen diesen Subjekten sagen, sie hätten Christus zum Haupt. Sind sie darum alle Leib Christi? Mit anderen Worten, ist alles das, von dem Christus das Haupt ist, auch Leib Christi? Wenn ja, dann wäre das Prädikat „Christus zum Haupt haben“ sachlich identisch mit dem Prädikat „Leib Christi zu sein“. Der Gedankengang wäre folgender: Kirche, Menschheit, Engelwelt haben Christus zum Haupt. Das, wovon Christus das Haupt ist, ist sein Leib. Somit sind Kirche, Menschheit, Engelwelt der Leib Christi und Christen, Menschen und Engel Glieder dieses Leibes.

Man sieht sofort, daß hier mit einer Vieldeutigkeit des Mittelbegriffes Haupt gerechnet werden muss. Haupt wird, wie wir noch sehen werden, in sehr verschiedenem, im weiteren und engeren Sinne genommen: in einem weiteren Sinne als Oberhaupt, ohne daß deshalb eine so enge Beziehung zwischen Oberhaupt und Untertanen bestünde, daß man sie als Haupt-Leib- oder als Haupt-Glied-Verhältnis bezeichnen könnte.

Wer aber davon ausgeht, daß mit dem Prädikat „Christus zum Haupt haben“ das Prädikat „Leib Christi sein“ gleich gesetzt werden dürfe, der wird folgerichtig das Prädikat Leib Christi nicht bloß von der römisch-katholischen Kirche, sondern auch von der ganzen Menschheit und der Engelwelt aussagen.

Aber so weit ging St. Thomas nicht. Denn wenn er auch behauptet, daß Christus der Haupt der Menschen und Engel sei, so billigt er doch nicht allen Menschen und Engeln zu, Glieder Christi zu sein und so zum mystischen Leib Christi zu gehören, sondern nur einer Auslese aus ihnen, die ungefähr durch die Merkmale des Gnadenstandes, der Auserwählung und der Seligkeit bestimmt war, wie wir später noch genauer sehe wollen. Auch für ihn war also „Christus zu Haupt haben“ nicht durchaus gleich bedeutend mit „Leib Christi sein“.

Problem der Identität zwischen Subjekt und Prädikat

Solange Subjekt und Prädikat nicht eindeutig bestimmt waren, musste die Feststellung ihrer Identität Schwierigkeiten unterliegen. Denn die Gleichsetzung bedurfte eines Mittelbegriffes. Dieser Mittelbegriff war aber je nach dem Begriff, den man mit dem Wort Kirche und dem Wort Haupt verband, verschieden. Grundsätzlich standen zwei Mittelbegriffe zur Verfügung, der der Gnadengemeinschaft unter Christus und jener der Rechtsgemeinschaft unter dem Papst.

Im ersten Fall lautet die Gleichsetzung ungefähr so: Kirche ist die Gnaden-Gemeinschaft, beziehungsweise die Gemeinschaft der Heiligen, seien es Christen oder Nichtchristen, seien es Menschen im Gnadenstand, seien es selige Menschen oder Engel. Diese Gnadengemeinschaft ist aber der mystische Leib Christi. So ist die Kirche der mystische Leib Christi.

Im zweiten Fall lautet die Gleichsetzung so: Die Kirche ist die sichtbare Gemeinschaft, deren Oberhaupt der Papst ist, also die römisch-katholische Kirche. Diese Gemeinschaft, deren sichtbares Oberhaupt der Papst ist, ist zugleich die Gemeinschaft, deren unsichtbares Haupt Christus ist. (Denn Papst und Christus sind ein Haupt.) Also ist die römisch-katholische Kirche der Leib Christi.

Für diese zweite Lösung, die Papst Pius XII. mit aller Entschiedenheit gibt, fehlten bei St. Thomas noch gewisse Voraussetzungen. Vor allem war die Erklärung noch nicht erfolgt, die Bonifaz VIII. gab und Pius XII. wiederholt, daß nämlich Christus und Papst in Wirklichkeit nur ein Haupt seien. (1)

Andererseits war die Frage noch nicht so wie heute geklärt, wieweit der Papst Stellvertreter Christi und somit ein Haupt mit ihm sei. Daß er Stellvertreter Christi als des Hauptes der Kirche sei, stand bei St. Thomas fest. (2) Daß er nicht Stellvertreter Christi als des Hauptes der Engel sei, stand wohl ebenso fest. Ob er aber nicht auch Stellvertreter Christi als des Hauptes der Menschheit sei, das konnte damals noch einen Gegenstand der Erörterung darstellen. (3) Denn wie einerseits die Zweischwerter-Theorie, die auch St. Thomas mit Berufung auf St. Bernhard vertritt, beiderlei Gewalten, die geistliche und die weltliche, in die Hand des Papstes legt, die eine, um sie selbst auszuüben, die andere, um sie anderen zu verleihen und durch sie ausüben zu lassen; wie man andererseits auch nach St. Thomas die Kirche als geistliche Fortsetzung und Umwandlung des weltlichen Römischen Reiches, dem die ganze Welt untergeben war, ansehen (4) und so in dem Papst den geistlichen Nachfolger der weltlichen Kaiser und somit als Weltherrscher ansehen konnte, so mochten manche die heilsnotwendige Zugehörigkeit aller Menschen zur Kirche und Unterordnung unter den Papst nicht bloß so verstehen, daß alle die Pflicht hätten, in die Kirche einzutreten und dann dem Papst untertan zu sein, sondern auch so, daß der Papst auch schon vorher und vor dem Eintritt wie Christus deren Oberhaupt sei (5), und zwar auch in weltlicher Hinsicht, so daß seine Gewalt dem Umfang nach die Grenzen der Kirche überschreite und sie bis an die der Menschheit ausdehne, dem Inhalt nach über den geistlichen Bereich hinaus gehe und auch den weltlichen und zeitlichen einschließe. Erst Leo XIII. hat solchen Spekulationen das Ende bereitet. (6)

Anmerkungen:

(1) Bulla „Unam sanctam“ 18.11.1302 (D 468). Bei St. Thomas ist der jeweilige Papst Haupt der Gesamtkirche (caput totius Ecclesiae) zeit seines Lebens. Im übrigen ist das Prädikat „Haupt der Kirche“ zu sein, Christus vorbehalten. In dem unechten (Tolomeo von Lucca zugeschriebenen) Teil der Thomasischen Schrift de regimine principum wird der Papst als „Haupt im mystischen Leibe aller Gläubigen Christi“ bezeichnet. Da im physischen Körper alle Bewegung und Empfindung vom Haupt sei, so sei im Papst die Fülle aller Gnaden ähnlich wie im Herrn. Dieser Verfasser kommt also dem Gedanken, daß Christus und Papst ein Haupt seien, ohne ihn auszusprechen, nahe.

(2) Vor allem die Kleinschrift Contra errores Graecorum gegen Ende.

(3) Dekretale „Per venerabilem“ Mirbt (1911) … In dem nicht von St. Thomas stammenden Teil seiner Schrift regim wird der Werdegang der Welt-Statthalterschaft des Papstes so geschildert: Nach den vier Weltreichen (der Assyrer, der Meder-Perser, Alexanders und der Römer) folgt als fünftes das Weltreich Christi; es begann mit Christi Geburt, denn Christus war als Gottmensch wahrer König und Priester und wahrer Monarch. Von Christi Geburt an war Kaiser Augustus, wenn auch ahnungslos, nur mehr Statthalter Christi, des wahren Herrn und Monarchen der Welt (…) Obwohl von Geburt an rechtmäßiger Herr der Welt, führte er selbst ein Leben in Armut und Niedrigkeit und ließ zeitlebens und einige Zeit auch nach seinem Tod die weltlichen Fürsten herrschen, bis sein Reich, die Kirche, vollendet und im Blut bewährt war. Dann aber, zur Zeit Sylvesters, brachte Christus Kaiser Konstantin auf wunderbare Weise dazu, die Herrschaft dem Statthalter Christi Sylvester abzutreten, dem sie rechtens gebührte (…) Damit war dem geistlichen Reich Christi das weltliche verbunden, wobei das geistliche in seiner Kraft blieb; Konstantin begab sich hierauf nach Byzanz, von wo dann Papst Hadrian das Kaisertum an Kaiser Karl und damit an die Germanen übertrug, ein Beleg unter vielen, daß die byzantinischen Kaiser vom Papst abhängig waren als dem Statthalter Christi usw. Der Papst ist der Statthalter Gottes auf Erden, und dies wird ausführlich als göttliches und natürliches Recht begründet, unter anderem damit, daß er das Haupt im mystischen Leib sei.

(4) In 2. Thess. 2, 3: (…) Leo der Große (Serm. 82, 1) sagte allerdings nur, daß die Stadt Rom für den Verlust, die Hauptstadt der Welt im politischen Sinn zu sein, entschädigt wurde durch den Gewinn, die Hauptstadt der Christenheit zu sein, nicht aber, daß das zeitliche Römerreich in ein geistliches verwandelt worden sei…. In dem nicht thomasischen Teil von regim sagte der Verfasser von dem fünften und ewigen Weltreich, das den vier Monarchien folge und nach Dan. 2, 44 alle Königreiche verschlinge, daß wir das auf Christus beziehen und in dessen Stellvertretung auf die römische Kirche, nachdem er vorher eine der Zweischwerter-Theorie völlig gleichwertige Theorie entwickelt und begründet hatte.

(5) Gregor IX. führte die geistliche Weltherrschaft des Papstes (…) auf die Stellvertretung Petri (…) zurück und auf die Übertragung durch Christus (…), die zeitliche Weltherrschaft (…) aber auf Beschluss, Abtretung und Schenkung Konstantins.

Innozenz IV. dagegen lehnte es ab, daß dies der tiefste Grund für die zeitliche Weltherrschaft des Papstes sei. Er sah vielmehr den Grund der geistlichen wie zeitlichen Weltherrschaft des Papstes darin, daß er Stellvertreter Christi ist, der einerseits als wahrer König und wahrer Priester der Menschen im Apostolischen Stuhl sowohl eine priesterliche wie eine königliche Alleinherrschaft begründete, indem er Petrus und dessen Nachfolgern die Zügel des irdischen und himmlischen Imperiums übertrug, was in den beiden Schlüsseln und in den beiden Schwertern seinen symbolischen Ausdruck finde: …

(6) Enzykl. „Immortale Dei“ 1.11.1885 (D 1866) –
aus: Albert Mitterer, Geheimnisvoller Leib Christi nach St. Thomas von Aquin und nach Papst Pius XII., 1950, S. 5 – S. 10

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