Was bedeutet das göttliche Gericht?

Das göttliche Gericht

Das göttliche Gericht (judicium divinum) ist die Betätigung der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes, insofern sie die sittliche Weltordnung nicht bloß begründet, sondern auch aufrecht erhält. Es schließt in sich ein das Urteil über den sittlichen Wert der Handlungen, wie des Zustandes der freien Kreatur (scientia approbationis vel reprobationis), die Festsetzung der gerechten Folgen derselben, nämlich des Lohnes oder der Strafe, und endlich die Offenbarung und den Vollzug des Urteils. Diese Offenbarung und Vollstreckung des göttlichen Urteils nennen wir vorzugsweise das Gericht, und endlich wird das Wort in der heiligen Schrift sehr häufig vor dem Gericht im schlimmen Sinn, nämlich von der Verdammung oder Verurteilung, gebraucht und bezeichnet dann das „Strafgericht“. Es versteht sich von selbst, daß die verschiedenen Momente des Gerichtes in Gott nicht als verschiedene Akte einander nachfolgen, sondern vielmehr in einen Akt zusammen fallen; insbesondere fällt einerseits die Beurteilung des sittlichen Wertes und die Bestimmung der Folgen, sowie anderseits die Offenbarung und Vollstreckung schon im Gedanken zusammen. Der Gedanke des Guten ist für Gott auch der Gedanke des Belohnungswürdigen und der Gedanke des Bösen der des Strafwürdigen; in Lohn und Strafe findet der sittliche Wert der Handlungen seinen Ausdruck. Ebenso offenbart Gott sein Urteil über die Kreatur, indem er es an ihr vollzieht; er offenbart es ihr nicht sowohl in Worten, als in der Tat. Jenes Urteil als ein rein innerer Akt Gottes fällt ganz in die Ewigkeit, und in diesem Sinne steht die Seele immer vor dem Richterstuhl Gottes; in jedem Augenblick fällt er sein Urteil über den Wert und die Folgen ihrer freien Handlungen. Dagegen die Offenbarung und der Vollzug jenes Urteils, das Gericht im engeren Sinn, greift in die Zeit über. Das Gericht über den Menschen, insbesondere offenbart und vollzieht sich am Anfang, im Verlauf und am Ende der Zeiten.

Das Gericht über die Sünde der Stammeltern und ihrer Nachkommen

I. Am Anfang der Zeiten steht das Gericht Gottes über die Sünde der Stammeltern, welche in ihnen die Sünde des ganzen Geschlechtes war. Aber dieses Gericht war ein Akt nicht bloß der göttlichen Gerechtigkeit, sondern auch der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit. Indem Gott sein Strafurteil über die Sünde verkündigte, eröffnete er zugleich seine Ratschluss der Erlösung, kraft dessen das Urteil, welches die göttliche Gerechtigkeit über die sündige Menschheit sprechen musste, nicht sogleich und in seiner ganzen Strenge vollzogen, sondern einstweilen gemildert und aufgeschoben werden sollte. So lange die Menschheit also unter dem Fluch der Sünde lag und der göttlichen Gerechtigkeit dennoch ihre vollkommene Genugtuung vorenthalten blieb, sollte der Mensch zwar nicht straflos bleiben, aber die Strafe, die an ihm vollzogen wurde, sollte Bußstrafe sein; sie sollte zugleich die Bekehrung des Menschen, die Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit und die Abwendung vom Bösen zum Zweck haben. Das Leben, das er für die Zeit und für die Ewigkeit verwirkt hatte, war ihm geschenkt, aber als ein Leben in Mühsal und Plage und im steten Angesicht des Todes. So ist sein ganzes Leben im Einzelnen wie im Allgemeinen ein Buß- und Strafleben, ein fortwährendes Gericht Gottes über die Sünde.

Besondere und außerordentliche Strafgerichte über Einzelne und über ganze Völker

II. Außer diesem allgemeinen Strafurteil über die ganze sündige Menschheit verhängte Gott im Laufe der Zeit noch viele besondere und außerordentliche Strafgerichte sowohl über Einzelne als über ganze Völker und Reiche, damit sie seiner Gerechtigkeit eingedenk blieben und nicht in allmählicher Angewöhnung an die Übel des täglichen Lebens den Grund und Ursprung derselben vergäßen und so gegen Gut und Bös gleichgültig würden. Insbesondere war die Führung, welche Gott dem israelitischen Volk angedeihen ließ, eine fortwährende Zucht durch Belohnung für die Beobachtung und Bestrafung für die Übertretung seines Gesetzes, also ein stetes Gericht, und darum stand die Furcht Gottes an der Spitze der Tugenden des Alten Testaments. Allein immerhin war diese Offenbarung der Gerechtigkeit und des Gerichtes Gottes nur eine unvollkommene und stückweise. Es waren mehr Unterpfänder für den Glauben an das göttliche Gericht, als eine volle Erscheinung desselben, und darum wurde jener Glaube oft schwer versucht. Nicht alles Gute wurde belohnt, nicht alles Böse bestraft; nicht nach Verdienst schienen die Güter und Übel der Erde ausgeteilt; gar oft triumphierte der Frevler über den Gerechten, und nur zu oft unterlag das Volk Israel, das den Glauben an Gott bewahrt hatte, der Übermacht der Heiden, die ihn verleugneten. Die Versuchungen, welche durch diese Erfahrung für den Glauben entstanden, spiegelt besonders das Buch Job wieder. Darum wendete sich die gläubige Hoffnung der Israeliten einer glorreichen Zukunft zu, in welcher dieser Widerspruch ausgeglichen werden und die göttliche Gerechtigkeit zur vollen Offenbarung kommen sollte. Das messianische Reich wurde erwartet als ein Gericht, welches den Triumph der Gerechten über die Gottlosen und insbesondere der Kinder Abrahams über die Völker der Heiden endgültig entscheiden werde. Freilich hielt die große Masse des Volkes, uneingedenk der eigenen Sündhaftigkeit, von der das Gesetz sie täglich überführte, die leibliche Abstammung von Abraham für hinriechend, um sicher in diesem Gericht zu bestehen; darum erschien es ihnen fast nur als ein großes und endgültiges Strafgericht über die Heidenvölker und eine Weltherrschaft des Volkes Israel.

Das messianische Reich kam als ein Gericht über die ganze Menschheit

III. Das messianische Reich kam wirklich als ein Gericht über die ganze Menschheit. Aber zunächst kam der Messias nicht, um zu richten (Joh. 3, 17), sondern um gerichtet zu werden; nicht als Vollstrecker, sondern als Opfer der göttlichen Gerechtigkeit. Das Werk der Erlösung ist eine Genugtuung an die göttliche Gerechtigkeit für die Sünde der Menschheit, und darum ein Gericht. Von Christus, der sich freiwillig zum Stellvertreter der sündigen Menschheit vor dem Richterstuhl Gottes dargeboten hatte, forderte Gott die volle Genugtuung, die seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit gebührt; ihm legte er das Vollmaß der Strafe auf, das er von Ewigkeit an der Sünde zugeordnet, aber an Adam und seinen Nachkommen nicht in aller Strenge vollzogen hatte. Der Kreuzestod Christi auf Golgatha war das Gericht Gottes über die Sünden der Welt. Aber auch dieses gerechte Gericht war zugleich eine Offenbarung der göttlichen Barmherzigkeit; denn wenn das Gesetz der Gerechtigkeit in aller Strenge an dem Stellvertreter der sündigen Menschennatur vollzogen wurde, so war es die göttliche Barmherzigkeit, in welcher der ewige Sohn Gottes sich selbst zum Stellvertreter der Menschheit gegenüber der Forderung des Gesetzes machte, indem er die menschliche Natur annahm und in ihr die volle Strafe erlitt, welche sie in Adam und seinen Nachkommen verdient hatte. Durch diese Ausgleichung der Forderungen der göttlichen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit stand von nun an die Menschheit gerechtfertigt vor Gottes Richterstuhl; die Forderung der Gerechtigkeit an sie war erloschen, der Schuldbrief ans Kreuz geheftet und so getilgt (Kol. 2, 14).

Für Christus oder gegen Christus ist die Wahl des Einzelnen und ganzer Völker

IV. Aber vollendet ist das Gericht Gottes noch nicht in jenem Gericht auf Golgatha. Das Band der Natur, das die Menschheit durch die Gemeinsamkeit derselben Abstammung vom Urmenschen mit dem Erlöser verbindet und die Grundlage seiner Stellvertretung bildet, reicht nicht hin zu einer vollen Teilnahme Aller an der Rechtfertigung Christi. Denn der Mensch ist nicht bloß ein willenloses Glied eines großen Ganzen, sondern auch eine für sich bestehende und für sich selbst verantwortliche Persönlichkeit, und nur dann wird er vollkommen an der Rechtfertigung Christi Teil haben, wenn er mit ihm in freier, persönlicher Lebensgemeinschaft steht. Jene bloß natürliche Gemeinschaft mit ihm reicht hin, daß ihm Gott, unbehindert von seiner Gerechtigkeit, Gnaden zuwenden, durch seinen heiligen Geist in ihm wirken kann. Aber alle diese gnadenreiche Wirksamkeit des heiligen Geistes geht dahin, in ihm jene freie, persönliche Lebensgemeinschaft zu begründen, die im lebendigen Glauben besteht. Glaube oder Unglaube, für Christus oder wider Christus, das ist jetzt die Wahl, vor welche der Mensch gestellt ist und nach welcher er gerichtet wird. „Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet (verurteilt); wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, weil er nicht glaubt an den eigeborenen Sohn Gottes… Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben; wer aber ungläubig ist an den Sohn, der wird das Leben nicht schauen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm“ (Joh. 3, 18 u. 36), d. h. wer nicht durch den lebendigen Glauben in freier, persönlicher Lebensgemeinschaft mit Christus steht, gegen den bleibt die alte Strafforderung der göttlichen Gerechtigkeit in Kraft und wird ihrerzeit vollzogen werden. Darum gehen offenbare Gerichte Gottes auch durch die Zeiten nach Christus: Gerichte über Glauben und Unglauben, Offenbarungen des Segens, den die christliche Gesittung mit sich bringt, und des Verderbens, das aus unchristlichen Bestrebungen hervor wächst, oft auch ein wunderbares Eingreifen der göttlichen Macht, um die Gläubigen gegen Übermut und Übermacht der Ungläubigen zu schützen und ihnen zum Siege zu verhelfen. Aber vollkommen wird das Gericht Gottes erst dann offenbar werden, wenn auch die Gemeinschaft mit Christus und der Widerspruch gegen Christus sich unwiderruflich und endgültig wirf festgestellt haben – am Ende der Zeit.

Es gibt ein doppeltes Endgericht

Wir unterscheiden aber ein doppeltes Ende der Zeit: das Ende der Zeit für den einzelnen Menschen, da er durch den Tod aus dem zeitlichen Leben austritt, und das Ende der Zeit für die ganze Menschheit, da sie das durch göttlichen Ratschluss von Ewigkeit an vorgesteckte Ziel ihrer zeitlichen Dauer erreicht hat. Eben darum unterscheiden wir auch ein doppeltes Endgericht: das besondere über jeden einzelnen Menschen, und das allgemeine über die Menschheit als Ganzes. –
aus: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 5, 1888, Sp. 391 – Sp. 395

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