Wesen und Subjekt der Unfehlbarkeit

Die Konzilsaula vom päpstlichen Thron aus gesehen: Der heilige Vater Papst Pius IX. zieht in die Konzilsaula ein; rechts und links in den Reihen sitzen die Konzilsväter; im Vordergrund sind noch rechts und Links Bischöfe zu sehen, die stehen

Kirchenlexikon – Wesen und Subjekt der Unfehlbarkeit

Unfehlbarkeit: Wesen und Subjekt

Erster Teil der Reihe zum Stichwort Unfehlbarkeit

Begriff und Wesen der kirchlichen Unfehlbarkeit

Die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes gehört selbstverständlich der übernatürlichen Ordnung an, da sie der Kirche bzw. den Trägern der Lehrgewalt als ein Charisma zur Bewahrung, Bezeugung und authentischen Erklärung des in Schrift und Tradition hinterlegten Glaubensschatzes von Gott verliehen ist. Von dieser aktiven Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehrkörpers unterscheidet sich die passive des Glaubenskörpers genau so, wie die lehrende von der hörenden Kirche, nur daß beide sich zu einander verhalten wie das Mittel zum Zweck; denn die Unfehlbarkeit des Lehramtes hat die Aufgabe, den wahren Glauben in der ganzen Kirche Christi stetsfort zu bewirken, zu erhalten und zu gewährleisten. Hieraus erhellt der enge Kausalzusammenhang zwischen den beiden Grundeigenschaften der Kirche, der Infallibilität und Indefektibilität; denn die Kirche wäre notwendig in dem Augenblick von ihrem Sein und Wirken abgefallen, in welchem sie vom wahren Glauben, d.h. von der unfehlbaren Erkenntnis und Verkündigung der Lehre Christi und seiner Apostel, abwiche. Folglich steht und fällt die Indefektibilität der Kirche mit ihrer Infallibilität.

Zum Wesen der aktiven Unfehlbarkeit, die hier allein in Betracht kommt, genügt ein besonderer Beistand des heiligen Geistes (assistentia Spiritus S.), wie ihn Christus der Kirche tatsächlich verheißen hat. Obschon dieser übernatürliche Einfluß gewiß nicht ohne eine positive göttliche Tätigkeit zu denken ist, so ist doch der Zweck der Assistenz primär ein negativer: Abwehr des Irrtums. Hierdurch unterscheidet sich die kirchliche Infallibilität wesentlich von der Offenbarung einer- und der Inspiration andererseits. Während den das Glaubensdepositum erzeugenden Offenbarungsorganen neue Wahrheiten mitgeteilt worden sind, welche der im Entstehen begriffenen Glaubenshinterlage ein substantielles Wachstum sicherten, beschränkt sich die Assistenz des heiligen Geistes auf die Aufgabe, zu verhindern, daß bei der Erhaltung, Bezeugung und Geltendmachung des für alle Zeiten unwiderruflich abgeschlossenen Offenbarungsschatzes sich irgend ein Irrtum einschleiche. (vgl. Vatic. Sess. IV, cap. 4, bei Denzinger, Enchir. n. 1679:…) … Weder ein ökumenisches Konzil noch der Papst können nach reiner Willkür Glaubens- und Sittenentscheidungen treffen, sie müssen vielmehr sich an Schrift und Tradition als die unveränderlich gegebene Grundlage ihrer Erlasse halten. Was Unkundige als „neues Dogma“ erscheinen könnte, das ist tatsächlich nichts anderes als der konsequente Ausdruck, die logische Fortbildung einer alten allgemeineren Offenbarungswahrheit, in welcher das anscheinend Neue wie die Frucht im Keime vorgebildet lag. Somit schließt eine unfehlbare Glaubensentscheidung die menschliche Tätigkeit des Lehramtes so wenig aus, daß sie dieselbe vielmehr zur notwendigen Voraussetzung hat. (…) In dieser Gebundenheit liegt der tiefste Grund dafür, daß die lehrende Kirche es nicht nötig hat, gleich den Propheten und Aposteln die Göttlichkeit ihrer Lehre erst durch Zeichen und Wunder zu beweisen; denn der geforderte Wahrheitsbeweis ruht in der bloßen Tatsache, daß die gegen jede Möglichkeit des Irrtums übernatürlich geschützte Kirche es ist, welche durch den Mund der rechtmäßigen Träger der Lehrgewalt autoritativ im Namen Christi spricht…

Vorstehende Begriffsbestimmung sieht von den einzelnen Trägern der Lehrgewalt gänzlich ab, paßt also gleichmäßig auf die Infallibilität der Kirche überhaupt, mag sie sich im magisterium ordinarium, oder auf den ökumenischen Synoden, oder in den Päpsten verkörpern. Nur weil die päpstliche Unfehlbarkeit vor und nach dem Vatikanum in ganz unverantwortlicher Weise entstellt worden ist, erheischt sie hier noch eine besondere Erläuterung (…). Wenn dieselbe vielfach eine „persönliche“ genannt wird, so will man dem Papst selbstverständlich weder eine göttliche Irrtumslosigkeit noch eine direkte Inspiration beilegen, sondern lediglich den von Bossuet ersonnenen Unterschied zwischen sedes und sedens, d. h. zwischen der ganzen Reihenfolge aller Päpste und dem jeweiligen Inhaber des Stuhles Petri, als eine unberechtigte Fiktion zurückweisen; denn die abstrakte sedes ist nur in und durch den konkreten sedens unfehlbar (…). Aber diese dem jeweiligen Papst zukommende Unfehlbarkeit ist für ihn keine persönliche, sondern eine Amtsgnade (gratia gratis data), die von seiner Wissenschaft und Tugend gänzlich unabhängig ist. Deswegen betonen die Theologen den Satz, daß der Papst weder als Privatgelehrter, noch als weltlicher Souverän, noch als bloßer Bischof der Stadt Rom, noch als Primas von Italien, noch als Patriarch des Abendlandes, sondern einzig und allein als oberstes Haupt der Gesamtkirche für sich Unfehlbarkeit beanspruchen kann. Allein selbst wo der Papst als Papst auftritt, ist er nicht eher unfehlbar, als bis er ex cathedra spricht, d. h. cum omnium Christianorum Pastoris et Doctoris munere fungens pro suprema sua apostolica auctoritate doctrinam de fide vel pribus ab universa Ecclesia tenendam definit (Vatican. Sess. IV, cap. 4, bei Denzinger n. 1682)… Auch tragen die Theologen nicht das geringste Bedenken, die Möglichkeit eines Glaubensirrtums zuzugestehen, wenn der Papst als Privatmann spricht. Ja aus dem Vatikanum läßt sich nicht einmal die Unmöglichkeit eines förmlichen Glaubensabfalles des Papstes folgern, wie denn das kanonische Recht für einen solchen (wohl imaginären) Fall den sofortigen Verlust der päpstlichen Würde vorgesehen hat (Decret. Grat. Dist. 39, c. 6; vgl. Phillips, KirchenrechtI, 261 f.; Scheeben, Dogmatik I, 214). Manche Theologen halten freilich mit triftigen Gründen dafür, daß die göttliche Vorsehung über die Kirche Christi niemals eine solche Schmach hereinbrechen lassen werde (vgl. Suarez, De fide disp. 10…) Weil auch die päpstliche Infallibilität weder auf Offenbarung noch auf Inspiration neuer Glaubenswahrheiten beruht, so liegt dem Papst die selbstverständliche Pflicht ob, in inständigem Gebet um Erleuchtung, in eifriger Erforschung der Glaubensquellen, durch Befragung der Kardinäle und gelehrter Theologen, durch Abhaltung partikulärer Synoden, bei besonders wichtigen und schwierigen Fragen aber auch durch Einberufung eines allgemeinen Konzils alles aufzubieten, um zur klaren Erkenntnis des zu entscheidenden Glaubenspunktes zu gelangen (vgl. Vatican. 1. c., bei Denzinger n. 1679:…) Die Furcht einer Überstürzung ist bei ihm so grundlos wie bei einem ökumenischen Konzil, da die vorgängige Befragung der Quellen nicht weniger unter göttlichen Schutz gestellt erscheint wie die Entscheidung selbst (vgl. Bellarmin. De Roman. Pontif. 4,2:…) Gegen den Gallikanismus ist schließlich festzustellen, daß eine Kathedralentscheidung ex sese, d. h. unabhängig vom nachfolgenden Konsens der Bischöfe, das Gewissen bindet, gerade so, wie wenn die ganze lehrende Kirche die Entscheidung getroffen hätte (vgl. Vatican. 1. c., Denzinger n. 1682:…) …

Subjekt der Unfehlbarkeit

Nach Ausscheidung des Glaubenskörpers, welchem die Unfehlbarkeit im bloß passiven Sinn als Mitgift zukommt, kann als eigentlicher Träger der aktiven Infallibilität nur der Lehrkörper, d.i. das kirchliche Lehramt, in Betracht kommen. Weil jedoch die lehrende Kirche in Gemäßheit der ihr von Christus gegebenen hierarchischen Verfassung wesentlich aus dem Papst als dem Nachfolger Petri und den Bischöfen als den rechtmäßigen Nachfolgern der Apostel sich zusammensetzt, so kann es sich im Grunde nur um die Frage handeln, ob auch der Gesamtepiskopat neben dem Papst auf die Prärogative der Unfehlbarkeit Anspruch hat. Zwar ist die Frage nach der Einheit oder Zweiheit des Unfehlbarkeitssubjektes bis heute unerledigt geblieben, indem einzelne Theologen entschieden für Einen Träger des unfehlbaren Lehramtes, den Papst allein, in die Schranken treten (…). Allein das Gewicht der Gründe für die Annahme zweier, wenn auch nur inadäquat verschiedener Subjekte ist auch nach dem 18. Juli 1870 so erdrückend stark geblieben, daß man mit der überwiegenden Mehrzahl der Theologen der Gegenansicht nur insofern einen Sinn abgewinnen kann, als jemand grundlos versuchen möchte, den Papst selbst vom Gesamtepiskopat als dessen hierarchische Spitze gänzlich zu trennen und so einen künstlichen Gegensatz zwischen Haupt und Gliedern zu konstruieren. Schließt man jedoch diese unnatürliche, theologisch kaum mögliche Auffassung des Verhältnisses zwischen Primat und Episkopat aus, so scheint es völlig ausgemacht, daß man auch dem mit dem Papst organisch geeinten Episkopat eine relativ selbständige, namentlich in den ökumenischen Synodalbeschlüssen lebendig zum Ausdruck kommende Infallibilität beilegen darf und muss. Denn abgesehen davon, daß nach Ausweis der Kirchen- und Dogmengeschichte das Dogma von der Unfehlbarkeit der ökumenischen Synoden sachlich, logisch und zeitlich demjenigen von der Unfehlbarkeit des Papstes vorausging, hat das vatikanische Konzil selber dem Papst „diejenige Unfehlbarkeit“ vindiziert, „mit welcher Christus seine Kirche ausgestattet wissen wollte“ (Vatican. 1.c., bei Denzinger n. 1682). Die Parallele zwischen Papst und Kirche setzt aber, falls man nicht eine unerträgliche Tautologie einführen will, die Verschiedenheit und relative Selbständigkeit der Unfehlbarkeit in beiden Trägern voraus. Auch darf nicht übersehen werden, daß das Apostelkollegium als solches nicht minder die Verheißung der Unverirrlichkeit im Glauben und Lehren von Christus erhalten hat (vgl. Matth. 28,20; Joh. 14,16), wie Petrus und seine Amtsnachfolger im Primat (vgl. Matth. 16,18; Luk. 22,32; Joh. 21,15ff.); der doppelten Verheißung entspricht aber jedenfalls auch ein doppeltes Subjekt der Unfehlbarkeit. Dazu kommt, daß die Konzilsbischöfe ihr Placet oder Definiens subscripsi nicht weniger entscheidend in die Waagschale werfen wie der Papst als Haupt und Vorsitzender einer ökumenischen Synode. Mithin scheint die Folgerung unausweichlich: Auch wenn der Papst für sich allein nicht unfehlbar wäre, so würde doch die Unfehlbarkeit des Gesamtepiskopates (einschließlich des Papstes) darunter nicht wesentlich leiden, wie denn die schismatischen Griechen und Fallibilisten wirklich nur jenes, nicht dieses in Abrede stellen und vor dem Vatikanum ohne Häresie sogar in Abrede stellen durften. Jedenfalls kommt in dieser Auffassung die Nützlichkeit, ja relative Notwendigkeit allgemeiner Konzilien viel wirksamer zur Geltung als in der kaum haltbaren Gegenansicht (vgl. Chr. Pesch I, 273sq.; Scheeben I, 75ff.)

Von alters her hat die ganze Christenheit vor allem den dogmatischen Entscheidungen eines ökumenischen Konzils unbedingte Unfehlbarkeit beigemessen (…), so zwar, daß Widerstand dagegen nicht als einfacher Ungehorsam, sondern auch als Häresie gebrandmarkt wurde (…). Allein auch der über den ganzen Erdkreis zerstreute Lehrkörper (Ecclesia per orbem dispersa), d. h. der nicht zum allgemeinen Konzil versammelte Gesamtepiskopat, genießt den göttlichen Schutz der Irrtumslosigkeit, da Christus seinen und des heiligen Geistes Beistand ja für „alle Tage bis ans Ende der Welt“ verheißen und an keinerlei einschränkende Bedingungen (etwa Abhaltung einer allgemeinen Synode) geknüpft hat… Indessen darf die Unfehlbarkeit des Gesamtepiskopates, gleichviel ob er auf einem allgemeinen Konzil versammelt ist oder nicht, auf keinen Fall bloß auf die feierlichen und außerordentlichen Lehrurteile eingeschränkt werden; sie erstreckt sich ebenso auch auf die ordentliche und tägliche Lehrverkündigung in Volkspredigt und Glaubens-Unterweisung (vgl. Vatican. Sess. III, cap. 3, bei Denzinger n. 1641). In der gewissenhaften Erfüllung des göttlichen Auftrages: „Lehret alle Völker“ kann die lehrende Kirche unmöglich irren, ohne daß das Verheißungswort: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ (Matth. 28,20), zu Schaden würde (…). Allerdings sind die einzelnen Bischöfe für sich allein nicht unfehlbar, da das Charisma der einzelnen Apostel nicht als Amtsgnade auf sie vererbt worden ist (vgl. Apg. 20,30; 1 Tim. 4,7; 2 Tim. 2,23; Tit. 2,7f.; 3,9). Dagegen erfreuen sie sich in der unversehrten Fortpflanzung und Reinerhaltung des apostolischen Glaubensgutes sowie namentlich in der authentischen Verkündigung der deklarierten Dogmen des göttlichen Schutzes, obschon sie nicht als oberste Richter über strittige Glaubensfragen, sondern nur als die geborenen Wächter und Zeugen der apostolischen Urlehre aufzutreten den Beruf haben. (…) –
Quelle: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 12, 1901, Sp. 240 – Sp. 248

zu: Zweiter Teil der Reihe zum Stichwort Unfehlbarkeit

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