Der Richter wird Jesus Christus sein im letzten Gericht
3. Der Richter in diesem letzten und allgemeinen Gericht wird also Christus sein, und zwar nicht nur in seiner göttlichen, sondern auch in seiner menschlichen Natur, als Menschensohn (Joh. 5, 22. 27). Darum wird auch der Ausdruck Menschensohn mit Vorliebe gebraucht, wo vom Gericht Christi die Rede ist (Matth. 13, 41; 25, 31; Luk. 21, 27). Wie Christus gerade dadurch, dass er selbst Mensch war und als solcher das Elend der Menschen kannte, sich mit Vorzug dazu eignet, als Hoherpriester für die Menschen Fürbitte zu leisten, so eignet er sich auch aus demselben Grund, über sie zu Gericht zu sitzen.
Diese richterliche Gewalt ist ein Teil jener Erhöhung und Verherrlichung, die er durch seine Erniedrigung bis zum Kreuztod verdient hat. Eine solche Erhöhung konnte aber nur von der menschlichen Natur Christi verdient werden, während sie seiner göttlichen Natur in unveräußerlicher Weise innewohnt. Denn wenn es heißt, der Sohn habe sich seiner göttlichen Würde entäußert, so kann das nicht heißen, er habe sie abgelegt, sondern nur, er habe sie in seiner menschlichen Natur nicht zur Erscheinung gebracht, er habe sie vielmehr zum Zweck des Erlösungswerkes verhüllt, indem er die „Knechtsgestalt“ annahm.
Jetzt, da dieses Werk vollendet ist, fällt die Hülle weg, und die göttliche Herrlichkeit, das Königtum, die Würde und Macht des Königs der Könige und des Herrn der Herren kommt auch in der menschlichen Natur Christi zur Erscheinung und Offenbarung; darum heißt diese Wiederkunft Christi die Erscheinung oder die Offenbarung, die Offenbarung seiner Herrlichkeit.
Die wesentlichste Seite, ja der Inbegriff der königlichen Würde und Macht ist aber das Gericht: darum ist dem Menschensohn die Gewalt gegeben, Gericht zu halten. Das also ist die wesentliche Bedeutung der Wiederkunft Christi zum Gericht, die Offenbarung der himmlischen Herrlichkeit Christi, die vollkommene Erscheinung seiner Gottheit in seiner Menschheit vor aller Welt. Schon mit der Himmelfahrt ist die Menschheit Christi in den Vollbesitz dieser göttlichen Herrlichkeit getreten. Aber der eigentliche Schauplatz dieser Verherrlichung ist der Himmel, wo er sitzt zur rechten Hand Gottes. Für die Menschen auf Erden indes ist sie noch verborgen, ein Geheimnis des Glaubens; aber das soll sie nicht für immer bleiben.
Nachdem die Apostel bei der Himmelfahrt Christi diese seine Herrlichkeit nur für einen Augenblick geschaut hatten, verkündeten ihnen die Engel: „Dieser Jesus, der von euch hinweg aufgenommen ist in den Himmel, wird ebenso kommen, wie ihr ihn saht hingehen in den Himmel“ (Apg. 1, 11) So hatte auch der Herr selbst seine Wiederkunft verkündet als eine Wiederkunft in göttlicher Herrlichkeit (Matth. 16, 27; 24, 30; 25, 31).
Das ist der große Unterschied der ersten Ankunft von dieser zweiten;
jene war eine Ankunft in der Knechtsgestalt, diese ist eine Ankunft in der Gottesgestalt; in jener kam er, zu leiden und zu sterben, in dieser, zu triumphieren und zu herrschen; in jener, gerichtet zu werden, in dieser, zu richten die Lebendigen und die Toten;
jene war eine Verhüllung der der Menschheit Christi innewohnenden göttlichen Macht und Herrlichkeit, diese eine Offenbarung derselben; in jener erfüllten sich die Prophetien von der Knechtsgestalt und dem Leiden des Messias, das den Juden und selbst den Jüngern zum Anstoß wurde, in dieser erfüllen sich die Prophezeiungen von der Herrlichkeit des messianischen Reiches und dem Messias als dem unüberwindlichen Herrscher, der sein Reich über die ganze Erde ausbreitet, alle seine Feinde demütigt und eine neue Zeit des Glückes und Friedens herauf führt.
4. Diese Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit des Heilandes ist schon an sich ein Gericht, denn es ist die sichtbare Rechtfertigung der Gläubigen, die ihn annahmen als Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, und die Verurteilung der Ungläubigen, die ihn verwarfen, vor dem Gewissen aller Menschen. Aber nicht bloß innerlich im Gewissen der Menschen vollzieht sich dieses Gericht, sondern auch äußerlich, indem der Mund des Richters das Urteil ausspricht und seine göttliche Allmacht es vollzieht.
Das Urteil besteht aber darin, dass Christus sich zu den Menschen bekennt oder sie verleugnet, je nachdem sie sich zu ihm bekannt oder ihn verleugnet haben (Matth. 10, 32). Es ist gleichsam ein Akt des Selbstbewusstseins Christi, indem er die Einen als die seinigen, als zu ihm gehörig, als Glieder seines Leibes anerkennt und die anderen, als ihm fremd und von ihm losgelöst, verleugnet und darum die Einen ewig mit sich vereinigt und die anderen ewig von sich stößt.
Der Maßstab aber, nach dem diese Zugehörigkeit zu Christus beurteilt wird, das ist der Glaube und die Liebe, oder vielmehr der Glaube, der in der Liebe wirkt, und beide offenbaren sich in den Werken. Darum heißt es vom Glauben: „Wer glaubt, der wird nicht gerichtet (verurteilt); wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet“ (Joh. 3, 18). „Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht“ (5, 24). „Wer mich verwirft und meine Worte nicht annimmt, der hat seinen Richter. Das Wort, das ich geredet habe, das wird ihn richten am jüngsten Tag“ (12, 48).
Die Werke der Liebe werden von dem Richter selbst ausdrücklich als der Grund genannt, warum die einen beseligt, die anderen verdammt werden; und von den Werken überhaupt heißt es: „Der Menschensohn wird kommen in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln, und dann wird er einem Jeglichen vergelten nach seinen Werken“ (Matth. 16, 27; vgl. Röm. 2, 6; 1. Kor. 3, 13).
Indem aber alle Werke aller Menschen gerichtet werden, werden sie zuerst nicht bloß vor den Augen Gottes, sondern auch vor den Augen der ganzen Welt, vor Engeln und Menschen aufgedeckt und offenbar gemacht, und zwar nicht nur die äußeren Werke oder „die müßigen Worte“ (Matth. 12, 36), sondern auch die inneren Gesinnungen und die verborgenen Gedanken des Herzens (1. Kor. 4, 5; 2. Kor. 5, 10). Das Gewissen eines jeden Menschen wird gleichsam zum Gewissen der ganzen Menschheit erweitert, so dass ihm die Werke und Gesinnungen aller Menschen mit derselben Klarheit und Wahrheit bekannt werden, wie er sich seiner eigenen bewusst ist.
Diese Aufdeckung und Offenbarung des sittlichen Zustandes der ganzen Welt vertritt die Stelle der Untersuchung und Überweisung (discussio) der menschlichen Gerichte, auf welche sich dann erst das Endurteil gründet:
denn der allwissende göttliche Richter bedarf keiner Untersuchung, um Verdienst und Schuld an den Tag zu bringen, noch bedarf er hörbarer Worte, um seine Erkenntnis allen Menschen mit unwiderstehlicher Überzeugungskraft mitzuteilen. Diese Mitteilung und Offenbarung der göttlichen Erkenntnis von den Werken aller Menschen ist es, die bildlich dargestellt ist in den Worten der Offenbarung Johannes: „Bücher wurden aufgeschlagen, und ein anderes Buch ward aufgeschlagen, welches das Buch des Lebens ist; und die Toten wurden gerichtet nach dem, was geschrieben war in den Büchern, gemäß ihren Werken“ (20, 12; vgl. Dan. 7, 10).
Aber nicht nur die Werke der Menschen, auch die Werke Gottes sollen an jenem Tag offenbar werden, das gnadenvolle Wirken seiner Barmherzigkeit, das verborgene Walten seiner Gerechtigkeit, die unerforschlichen Wege seiner Vorsehung in der Führung der Völker und der Individuen, so dass auch er selbst gerechtfertigt erscheint vor aller Augen gegenüber dem Zweifel und Unglauben der kurzsichtigen Menschen (Theodizee). –
aus: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 5, 1888, Sp. 400 – Sp. 402
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