Kirchenlexikon: Warum Judas Iskariot zum Verräter wurde
Was seine Erwählung anlangt, so muss betont werden, dass man durch nichts genötigt oder berechtigt ist, anzunehmen, Judas sei schon damals ein vollendeter Bösewicht gewesen… Judas war noch nicht innerlich fertig, noch entwicklungsfähig nach der guten und der schlimmen Seite; sinnliche Hoffnungen und Erwartungen teilte er mit den übrigen Aposteln, aber noch hielt ein guter Wille einem materiellen Sinn das Gleichgewicht. Wohl hat man es für eine empörende Vorstellung, für sittlich und psychologisch undenkbar erklärt, dass Jesus mit Voraussicht des Verrates Judas zum Apostel aufgenommen habe; aber wirklich empörend ist nur die Vorstellung, dass Jesus sich in Judas vollständig getäuscht habe bis zuletzt.
Die Erwählung des Judas widerspricht nicht der Güte und Heiligkeit Gottes
ihr entsprach es, ihn zum Christentum und zum Apostolat zu berufen im Hinblick auf die gute Seite seines Wesens und auf seine Geistesanlagen, die ihn zum Apostolamt qualifizierten, und es entsprach ihr, an dem durch eigene Schuld tiefer und tiefer Sinkenden durch unermüdliche Gnaden-Einwirkung und bis ans Ende fortgesetzte Besserungs-Versuche die ganze Größe der Erlöserliebe zu offenbaren. Der göttlichen Weisheit entsprach es, die Schuld des Jüngers in den Erlösungsplan aufzunehmen, sie in einen Kausal-Zusammenhang mit dem Erlösungstod zu setzen, sie durch den Mund des Propheten und des Heilandes vorauszusagen und so das Böse in den Dienst des Heilswerkes zu ziehen.
Es entsprach der Universalität der Passion, dass in ihren wehevollen Leidenskreis auch der Verrat eines der Vertrauten und die durch ihn verursachte Seelenqual herein genommen wurde, und es entsprach der Gehorsams-Stellung des Sohnes auf Erden, dem Erlösungs-Ratschluss auch in diesem in der Schrift voraus bezeichneten Punkt sich zu fügen, die vom Zusammenleben mit Judas unzertrennliche Seelenpein zu tragen und wissentlich und willentlich sich dem Verrat des Tischgenossen zum Opfer zu geben.
Dabei erfuhr die Freiheit des Judas keinerlei Determination oder Prädestination zum Bösen. Die Vorher-Verkündigung der Tat begründet keine Vorher-Bestimmung zur Tat, ihre Eingliederung in den Erlösungsplan keine Nötigung, sie zu begehen.
Auf die Frage, warum dem Jünger gerade das Kassenamt übertragen worden sei, wird man (…) antworten: er erhielt vielmehr dieses Amt, weil er für dasselbe besonders qualifiziert war. Warum aber wurde er, trotz seiner Unredlichkeiten, in diesem Amt belassen? Aus demselben Grund, aus welchem er auch im Apostelamt belassen wurde; er sollte nicht durch das scharfe Mittel der Amtsentsetzung zu schwereren Verbrechen, zu vorzeitigem Bruch getrieben werden; Jesus lässt ihn unter fortgesetzten Versuchen der Bekehrung dem von seinem eigenen Willen gesetzten Ziel entgegen reifen, dessen die Vorsehung sich schon bemächtigt hatte.
Wie konnte Judas von Satan beherrscht werden
Nun aber erhebt sich eine zweite Frage. Wenn die Berufung an den trotz unfertigen Charakters, trotz sinnlicher Messias-Hoffnungen im Ganzen gutwilligen Judas erging, wie konnte aus ihm Judas der Verräter werden? Wie haben wir uns den Prozess seiner Verschlechterung bis zur Möglichkeit des Verrats an seinem Herrn und Meister vorzustellen? Mann kann sich hier nicht begnügen mit dem bloßen Hinweis auf Luk. 22, 3 und Joh. 13, 2. 27, wonach der Teufel in Judas einging, ihm den Plan des Verrats in die Seele warf und dann vor Ausführung des Planes und zum Zweck des Vollzugs völlig Besitz von ihm nahm.
Daraus folgt nur, dass das Dämonische in Judas Tat nicht übersehen werden darf, und dass man nicht hoffen kann, die letzten Gründe, das tiefste Wesen derselben ganz zu durchschauen, weil sie zum Teil ins Dunkel des mysterium iniquitatis hinab sinkt. Da aber sicher ist, dass der Teufel nur den ganz beherrscht, der sich ganz ihm hingegeben hat, so stellt sich aufs Neue die Frage, wie Judas bis zu dem Punkt sinken konnte, wo er, ganz vom Teufel beherrscht, den Verrat plante und ausführte…
Bei Judas hatten sich nicht wie bei den anderen Aposteln die sinnlichen Hoffnungen und Erwartungen allmählich geklärt und vergeistigt (siehe den Beitrag: Es war aber Satan in Judas gefahren), sondern immer mehr ins Fleisch geschlagen; sie wurden in ihrer grob sinnlichen Form von ihm um so zäher festgehalten, je mehr nach und nach alle Aussicht schwand, dass sie je durch den Meister würden in Erfüllung gebracht werden. Die anfänglichen goldenen Zukunftsträume waren mit der Zeit der Enttäuschung gewichen, und diese spornte seinen habsüchtigen Sinn, seine Zukunft selbst in die Hand zu nehmen und sich allmählich durch Entwendungen aus der gemeinschaftlichen Kasse ein kleines Kapital anzusammeln. So war die Kasse schließlich noch das einzige Bindemittel zwischen dem Herrn und ihm.
Aber es kam die Zeit, wo die Klugheit es ihm ratsam erscheinen ließ, seine Zukunft von der des Meisters zu lösen. Nach seinen eigenen Wahrnehmungen und nach des Herrn bestimmter Voraussage wandelten sie am Rande einer Katastrophe. Warum soll er sich dieser nicht bei Zeiten entziehen? Was kann es dem Meister helfen, wenn der Jünger mit ihm zu Grunde geht? Warum nicht, solange es noch Zeit ist, sich bei den Mächtigen Israels rehabilitieren, sich damit ein friedliches ferneres Leben, unbehelligten Genuss des ersammelten Geldes sichern und zugleich durch Beanspruchung eines Angeber-Lohnes das kleine Zukunfskapital etwas vermehren?
So kommt er zum Gedanken des Verrates an seinem Herrn. Man macht hiernach mit Unrecht gegen die Ableitung des Verrates aus der Wurzel der Habsucht die Kleinheit der Summe geltend, welche dem Verräter zum Lohne wird. Es handelt sich nicht in erster Linie um Gewinnung der 30 Schekel, sondern um die ganze Zukunft, um die Existenzfrage des Jüngers. Auf jenen Sold kann er streng genommen keinen Anspruch erheben, da er mit seiner Anzeige nur tut, was das Synedrium jedem Sohn Israels zur Pflicht gemacht hatte (Joh. 11, 57); es ist bloß ein Gratial und wird von Judas als willkommener Nebenverdienst mitgenommen.
Judas verlor den Glauben an Christus
Freilich mögen diese Motive immer noch ungenügend erscheinen zur Erklärung der Wahl eines solchen Mittels zum Zweck und namentlich der Art, wie Judas dieses Mittel handhabt, der niederträchtigen Falschheit und raffinierten Heuchelei, die besonders in seinem Verhalten beim Abendmahl zu Tage tritt und in dem Kuss am Ölberg sich selber das Siegel der empörendsten Frechheit aufdrückt. Zur weiteren Orientierung ist hier sehr geeignet die zu wenig beachtete Stelle Joh. 6, 71f. Dass Judas bei Planung und Ausführung des Verrates allen Glauben verloren hatte, ist unzweifelhaft; die eben zitierte Stelle sagt uns aber, dass schon viel früher dieser Verlust des Glaubens bei ihm eingetreten sei.
Wenn die ganze Rede in der Synagoge von Kapharnaum die Tendenz hatte, eine Krisis herbei zu führen, im weiteren und engeren Kreis der Gläubigen die unreinen Elemente von den reinen zu scheiden, so erreichte sie an allen diesen Zweck, außer an Judas. Er glaubt nicht, geht aber auch nicht weg von Jesus, an welchen ihn nichts mehr bindet als das Geld. Jesus entfernt ihn nicht mit Gewalt aus dem Apostelkreis, aber er weist hin auf den Teufel in diesem Kreis. Von da an ist in Judas die Wurzel des Glaubens abgestorben, und infolge dessen ist notwendig von da an das Zusammenleben des Jüngers mit Jesu nur noch eine große Heuchelei.
Die Heuchelei ist das zweite Charaktermal von Judas
Die Heuchelei, Hülle und Gewand seiner Habsucht, ist als sein zweites Charaktermal wohl zu beachten; sie ist es, welche seinen Charakter in solcher Weise aushöhlte, ihn gemein und niederträchtig machte und das letzte Gefühl von Pietät, Ehrerbietung und Dankbarkeit erstickte. Die Heuchelei schlägt die Brücke von der Habsucht zum Verrat.
Dieser Jünger hat, ehe er den Verrat vollbrachte, unzählige Mal den Herrn in seinem Herzen verraten.
Er kann den heimlichen Gang zu den Hohepriestern ohne Herzklopfen machen, denn sein Fuß ist gewohnt, auf Schleichwegen zu wandeln; er spielt seine Rolle am Abendmahl so meisterlich, dass kein Jünger in ihm den Verräter vermutet, denn er hat in langer Übung alle Künste der Heuchelei sich angeeignet und jede Muskel und Miene seines Gesichts in deren Dienst eingelernt; schamlos tritt er auf Jesus zu und bringt schlangengleich ihm mit dem Kuss die Todeswunde bei, – er kann es, denn er hat seit langer Zeit vor dem Herrn den Unschuldigen gespielt und sein Auge daran gewöhnt, dem des Meisters mit dem Blick der Unbefangenheit und Hingabe zu begegnen.
So erschient der Verrat mit seiner empörenden Falschheit und Heuchelei nur als die letzte und reifste Ausgeburt seines Heuchlerlebens. Am Schluss dieser psychologischen Betrachtung aber muss man mit den Evangelisten ins Reich des Dämonischen weisen, aus welchem als aus seinem tiefsten Grund der Gedanke des Verrates aufstieg, und aus welchem allein die nicht mehr menschliche Kraft der Bosheit stammen konnte, welche zur Durchführung desselben nötig war.
Die Väter und die alten Exegeten halten sich ausnahmslos bei Erklärung und Beurteilung der Tat des Judas an die von den Evangelien hervor gehobenen Momente. Einige Gnostiker (Kainiten) machen allein einen Ehren-Rettungsversuch für Judas und erklären ihn des Lobes würdig, weil er aus Eifer für das Heil der Welt Jesum verraten habe (Irenaeus, Adv. Haeres. 1, 3, 3; 1, 31, 1; 2, 20, 1. Epiph. 38, 3; Tertullian, De praescr. c. 47; Aug., De haeres. c. 18).
Die rationalistische Erklärung für den Verrat
Von rationalistischer Seite wollte man Judas zum tragischen Helden stempeln und seine Tat ins tragisch Großartige hinein steigern. Er habe, unfähig, länger zu warten auf die Eröffnung des Reiches, Jesum in den Konflikt mit seinen Gegnern hineingestoßen, in der festen Erwartung und Hoffnung, dass er in diesem kritischen Moment siegen und auf den Trümmern der gegnerischen Macht sein Reich aufrichten werde; das Geld habe er bloß genommen, um die Hierarchen über seine wahre Absicht zu täuschen oder um auch diesen Verdienst noch mitzunehmen.
Diese Auffassung würde, auch wenn sie psychologisch möglich wäre und nicht eine undenkbare Mischung von Glauben und Unglauben bei Judas voraussetzte, doch keinesfalls genügen, um Judas zum Helden zu machen; als Motiv für die gewaltsame Initiative wäre doch wieder nur Habsucht und Eigennutz denkbar; dass der Abscheu, mit welchem der Herr vom Verrat spricht, eine derartige Erklärung völlig ausschließt, ist klar. Diametral entgegengesetzt ist die Herleitung des Verrates aus vollständigem innerem Bankrott an Glauben, Vertrauen und Hoffnung; letzterer war allerdings eingetreten, was seine Stellung zu Jesus anlangt, im Übrigen aber hatte er die Lebenshoffnung nicht weggeworfen, sondern sorgte vielmehr klug für seine Zukunft…
…, von Hass gegen Jesus aber zeigt sich im ganzen Verhalten des Jüngers keine Spur; die Art der Ausführung des Verrates spricht dagegen, und seine Reue führt vielmehr zum Schluss, dass er es nicht eigentlich auf die Person Jesu abgesehen hatte; überhaupt ist im ganzen Vorgehen nirgends eine Hitze des Affekts wahrzunehmen, vielmehr kalte Berechnung, herzlose Ruhe, feige Verstellung.
Das Ende des Verräters
Judas sieht, dass Jesus vom Synedrium zu Pilatus gebracht wird, und erkennt daraus dass er zum Tod verurteilt worden. Er, der vorher, wie es solchem Egoismus eigen ist, bloß an sich gedacht hatte, sieht nun die Folgen seiner Tat für den Herrn und erkennt daraus erst ihre ganze Verworfenheit.
Seine Schuld legt sich mit furchtbarem Druck ihm auf die Seele; er muss die unerträgliche Last los werden und eilt in den Tempel zu der des Festes wegen dort stationierten Abteilung des Synedriums, um durch ein offenes Schuldbekenntnis sich Erleichterung zu verschaffen. Da aber die Synedristen mit Hohn die Schuld auf sein Gewissen zurück werfen, so erfasst ihn Verzweiflung; er schleudert die Silberlinge in den Tempel, geht hin und erhängt sich.
Diesem Bericht des hl. Matthäus (27, 3ff) stellt sich die Schilderung des hl. Petrus vom Lebensende des Verräters (Apg. 1, 16ff) an die Seite, wonach Judas, welcher vom Lohn der Ungerechtigkeit einen Acker erwarb, herabstürzte und zerbarst, so dass seine Eingeweide verschüttet wurden. (siehe auch den Beitrag: Jesus wird erneut vor den Hohen Rat geführt)
siehe auch den Beitrag: Das Ende des Judas Iskariot durch Selbstmord
aus: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 6, 1889, Sp. 1918 – Sp. 1925
siehe auch den Beitrag auf katholischglauben.online:
Bildquellen
- giotto-jesus-and-judas-der-verraeter: wikimedia