Die Seligen sind Zeugen des Verdammungsurteils
Die Auserwählten, die unter unermeßlichem Jubel mit dem Herrn in die Lüfte entrückt werden, um nach dem Weltbrand zurück zu kehren und zu herrschen über die „neue“, d. i. über die in ihrer Art und im Verhältnis zu dem neuen Zustand des Menschen erneuerte, verklärte und vollendete Erde, „auf der die Gerechtigkeit wohnt“ (2. Petr. 3, 13; vgl. Offenb. 21, 1), sind zwar Zeugen des entsetzlichen Loses der Verdammten, aber dies schmerzt sie nicht und tut ihrer Seligkeit nicht den geringsten Abbruch, mögen sie auch zu einigen jener Unglücklichen während des irdischen Lebens in nahen Beziehungen gestanden sein. Sie sind frei von jeglichem Leid und darum auch von Mitleid, und wo Gott seiner Barmherzigkeit eine Schranke setzt, da hat auch ihr Erbarmen ein Ende. (Bern., Epist. XI. 40) Die natürlichen Beziehungen der Anhänglichkeit und der Teilnahme unter denen, welche Gott zusammen geführt hat, sind an sich nicht bloß gut und edel, sondern haben auch unzweifelhaft das Recht ewiger Dauer, dies jedoch nur insofern, als sie mit den Zuständen des Jenseits verträglich sind. Sie werden durch den Urteilsspruch des göttlichen Richters für immer entweder befestigt oder gelöst; das eine wie das andere geschieht lediglich im Interesse der Geretteten. Letztere werden sich freuen, wenn sie Gottes Gerechtigkeit und Rache sehen. (Ps. 57, 11) Aufs innigste mit Gott vereinigt und seinem Willen vollkommen untertänig, haben sie keinerlei Gemeinschaft mit denen, welche er aus seiner Gemeinschaft für immer ausgestoßen hat. Die Unbußfertigkeit bis zum Ende hat eine unendlich weite Kluft geschaffen, über die kein Band leiblicher Verwandtschaft oder irdischer Freundschaft hinüber reiht. Wenn die heilige Königin Blanka zu ihrem Sohn Ludwig das heroische Wort sprechen konnte: „Mein Sohn! Lieber möchte ich dich tot als in einer Todsünde wissen“, so verstehen wir, daß die in der Tugend für ewig befestigte Seele diejenigen nicht mehr lieben oder auch nur bemitleiden kann, welche ihrerseits ihr höchstes und einziges Gut nicht lieben, sondern fliehen und hassen, welche durch das zentnerschwere Gewicht ihrer Sündenschuld unwillkürlich von ihm und allen seinen Kindern abgezogen werden und nicht mehr zurück kehren können noch wollen.
Die Seligen nehmen teil an dem Abscheu Gottes gegen das Böse. Darum auch ist ihr Abscheu, obgleich er die strengste Mißbilligung und Verurteilung der Sünde in sich schließt, nicht mehr von widerlichen Empfindungen begleitet, die ihre Seligkeit stören könnten. Von einem eigentlichen Haß aber, der andern Übles will, weil und inwiefern es für sie ein Übel ist, und aus demselben Grund auch über ihr Unglück sich freut, kann bei den Verklärten auch den Verdammten gegenüber nicht die Rede sein. Wenn es von Gott heißt: „Du liebst alles, was ist, und hassest nichts von dem, was du gemacht hast“ (Buch der Weish. 11, 25), so muss auch von seinen Auserwählten gelten, daß sie nichts im eigentlichen Sinne hassen. Das Gefühl des Hasses, seiner Natur nach bitter, unruhig und darum störend, ist der Heiligen unwürdig. Dieselben können sich nur insofern über das Schicksal der Gottlosen freuen, als durch dasselbe die Gerechtigkeit Gottes ihren Sieg feiert. (Thom. Aq., Suppl. q. 99 . a. 1. ad 4) In demselben Sinn preist der Psalmist die Gerichte des Herrn, und jubelt die Stimme in der geheimen Offenbarung: „Alleluja! Es herrscht der Herr, unser Gott, der Allmächtige. Freuen wir uns und frohlocken wir; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen.“ (Offenb. 19, 6 f) Es muss hinzugefügt werden, daß die Seligen in gewissem Sinne auch die Verdammten noch lieben, weil auch diese Geschöpfe, wenn auch ungeratene und deshalb verworfene, Geschöpfe Gottes sind, und daß sie darum denselben das Gute gönnen, das Gott ihnen noch gelassen, auch die Strafmilderung, die er nach der Meinung einiger Väter und Theologen um des Blutes Christi willen ihnen gewährt. Gewiß fehlt diesen Unglücklichen die geduldige Ergebung, mit der die armen Seelen leiden. Da aber ihre ganze Natur ins Böse verkehrt und ihr innerstes Wesen im Haß und in der Feindschaft Gottes für immer verstockt ist, so ist einzig die ewige Verdammnis der ihnen zukommende Anteil und der allein naturgemäße Zustand. Im Himmel würden sie daher noch unglücklicher sein als sie in der Hölle sind; das himmlische Licht würde sie heftiger peinigen als das höllische Feuer, das sich aus zwingender Notwendigkeit in allen Gliedern des Körpers entzündet und wie ein Naturtrieb in ihnen wütet. Infolge der klaren Erkenntnis ihrer unwiderruflichen Gottverstoßenheit sind sie derart an dasselbe hingegeben, daß sie eine Erlösung nicht wollen können.
Sie hassen endlich Gott, nicht insofern er das höchste Gut ist, sondern wegen seiner furchtbaren Gerechtigkeit und Rache, die sie fühlen müssen.
Man liebt es, die Kirche anzuschuldigen, daß sie die liebenswürdige Religion Christi gefälscht, den liebevollen Vater im Himmel als einen unerbittlichen Gläubiger und als einen erbarmungslosen Richter hingestellt habe. Aber nicht erst die Kirche, sondern ihr Stifter hat die Hölle gelehrt und mit der Hölle gedroht. Und diesen Verstoß gegen die „Duldsamkeit“ wollen ihm die Freidenker am wenigsten verzeihen. „Jesus glaubt an die Hölle, die Hölle gefällt ihm; weg mit der Hölle!“ schreit zornerfüllt die bekannte Schriftstellerin George Sand. –
aus: Wilhelm Schneider, Das andere Leben, Ernst und Trost der christlichen Welt- und Lebensanschauung, 1896, S. 298 – S. 300