Das Zeichen des Kreuzes am Himmel

Jesus Christus der Gottmensch sitzt als Pantokrator und Weltenrichter, die ganze Schöpfung mit seinen durchbohrten Händen umfassend, in der Mitte, die Engel und Heiligen bei Ihm, die Gottlosen als Verdammte gerichtet

Es ist das Zeichen des Menschensohnes am Himmel

Mit unvergleichlich größerem Schrecken als der todeswürdige Verbrecher dem Erscheinen des irdischen Gerichtshofes sieht der zum ewigen Tode bereits verurteilte Sünder der Ankunft des Weltrichters entgegen. Die furchtbare Strenge desselben, die er schon beim besonderen Gerichte hat fühlen müssen, raubt ihm nicht nur alle Hoffnung auf irgendwelche Milderung der Strafe, sondern macht ihm die Verschärfung derselben zur zweifellosesten Gewissheit. „Die Gottlosen werden am Tage der Untersuchung keinen Trost haben.“ (Buch der Weish. 3, 18)

„Weh euch, ihr verruchten Seelen,
Hofft nimmermehr, den Himmel zu erblicken!
Zum Ufer jenseits komm’ ich, euch zu führen
In ew’ge Finsternis, in Frost und Gluten.“ (Dante, Hölle)

In einer Lichterscheinung von wunderbarer Pracht wird am Himmel das Zeichen des Menschensohnes, das Bild des Kreuzes, sichtbar. Die Auserwählten begrüßen und bejubeln es mit überseligem Entzücken als das machtvolle Zeichen, in welchem sie gleich ihrem Erlöser alle Feinde ihres Heiles überwunden haben. Die Gottlosen aber zittern beim Anblick desselben am ganzen Leibe, und ein Schrei der Bestürzung und des Entsetzens geht durch ihre Reihen. „Die Geschlechter der Erde,“ d. h. diejenigen, deren Namen nicht im Himmel verzeichnet stehen, sondern in den Erdenstaub geschrieben sind, „werden wehe klagen.“ (Matth. 24, 30) Einst war das Kreuz auch für sie ein Zeichen des Heiles und der Gnade, der Hoffnung und des Trostes, jetzt wird es für sie ein Zeichen der schrecklichsten Beschämung und Verzweiflung. Das Kreuz, das sie beschimpft und gelästert haben, ist die glänzendste Rechtfertigung ihrer Verdammnis: angesichts desselben wird Satan zum Erlöser sprechen: Gerechter Richter! sprich Recht und erkläre diese Menschen, welche du, ihren besten Freund, verlassen und mir, ihrem schlimmsten Feinde, gedient haben, feierlich vor der ganzen Welt und endgültig als meine Sklaven!

Doch in den Lüften erscheint der Sohn Gottes selbst in seiner anbetungswürdigen Macht, Hoheit und Herrlichkeit, umflossen von blendendem Verklärungs-Glanz, getragen von einer das ganze Himmelsgewölbe erhellenden Lichtwolke und umgeben von den himmlischen Heerscharen, die in wunderbaren Lichtgestalten in die sichtbare Erscheinung treten. – Nun kennt der Jubel der Auserwählten keine Grenze mehr: schauen sie doch jetzt zum ersten Male mit ihren leiblichen Augen ihren himmlischen Bräutigam in seiner verklärten Menschheit. Mit einem unbeschreiblich huld- und liebevollen Lächeln blickt er sie an, begrüßt sie als die Gesegneten seines Vaters, heißt sie willkommen als seine heiß geliebten Bräute und zeigt ihnen seine strahlenden Wunden. Neuer Schauder aber überfällt die Gottlosen, denen sein zornsprühendes Auge, seine durchstochenen Hände und Füße und die furchtbare Majestät seiner ganzen Erscheinung unerträglich sind. „Den werden sie schauen, den sie durchbohrt haben!“ (Offenb. 1, 7) Sie möchten fliehen und vor Angst und Scham sich verkriechen in die tiefsten Abgründe der Erde, aber sie müssen stehen wie fest gebannt. Sogleich nimmt der göttliche Richter die Scheidung vor, „wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet; und er stellt die Schafe zu seiner Rechten, die Böcke aber zu seiner Linken.“ (Matth. 25, 32 f) Was für eine peinliche und beschämende Szene für den Sünder, der mitten unter den Teufeln seinen Platz angewiesen erhält und schon vor dem Richterspruch als rettungslos Verlorener gekennzeichnet wird; mit Schrecken ohne Ende erwartet er ein Ende mit Schrecken. Die Herrlichkeit des Richters leuchtet in die verborgensten Falten und in die geheimsten Schlupfwinkel seines Herzens und macht alles klar und offenbar. „Nichts ist verborgen, das nicht offenkundig werden wird (Luk. 12, 2), alles kommt ans Licht, mag es auch einst mit dem dichtesten Schleier der Heuchelei und Scheinheiligkeit bedeckt gewesen sein; denn Gott selbst ist es, „der die Geheimnisse der Dunkelheit ans Licht zieht und die Anschläge der Herzen offen deckt“ (1. Kor. 4, 5); der erfüllt, was er einst angedroht: „Ich will über dich herfallen und dich vor dein eigenes Angesicht bringen“ (Ps. 49, 21); ich werde den Völkern deine Blöße zeigen und den Nationen deine Schande“. (Nahum 3, 5) Alle Gräuel und Missetaten ladet er dem Sünder aufs Haupt (Vgl. Ezech. 7, 8), schreibt sie ihm auf die Stirne und bekleidet ihn damit, wie mit einem Gewande. (Vgl. Ps. 108, 29)

Wo Gott selbst, der alles gesehen hat und alles weiß, Zeugnis ablegt, da ist keine Beweisaufnahme erforderlich, da hilft kein Ableugnen. Den Blicken der Welt ist nur das äußere Handeln und Treiben eines Menschen zugänglich, dem Arm des irdischen Strafrichters nur die verbrecherische Tat und auch diese nicht immer erreichbar. Die Leuchte des jenseitigen Richters aber dringt auch in die verborgenen Gemächer, hinter verschlossene Türen, macht die dunkelste Nacht heller als den Tag und bringt die lichtscheuen Werke, die für immer begraben schienen, an die Öffentlichkeit: einen Berg von Missetaten! Wie Ungeheuer, die aus dem Schlafe aufgeschreckt worden, zieht das Heer der verborgenen und verheimlichten Taten heran. Vor dem großen Gericht am jüngsten Tage wird auch die geheime Quelle, der wahre Ursprung und Zweck, die ganze oft verwickelte Geschichte alles sündhaften Tuns erschlossen, werden die verborgenen Triebfedern, die versteckten Absichten, die stille Vorbereitung und der ganze innere Verlauf einer jeden Sünde bekannt; vor aller Augen liegt offen wie ein aufgeschlagenes Buch die geheime Werkstätte des Bösen, die schlechte Gesinnung; die ganze innere Welt von Lug und Trug, von Neid und Nachstellung, von Falschheit, Hinterlist und Verrat; es kommen zum Vorschein alle schändlichen Gedanken und Neigungen, alle entehrenden Begierden und Entschlüsse, alle Treulosigkeit, Ränkesucht, Rachgier und Feindschaft. Wer ermißt die bodenlose Beschämung des elenden Verbrechers, der hier öffentlich zur Schau ausgestellt ist. Vor einem Gericht, wo die unbestechliche und unerbittliche Gerechtigkeit des Allwissenden den Vorsitz führt, gibt es keine Verteidigung, gilt keine Entschuldigung. –
aus: Wilhelm Schneider, Das andere Leben, Ernst und Trost der christlichen Welt- und Lebensanschauung, 1896, S. 288 – S. 291

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