„Es war aber Satan in Judas gefahren“ (Luk. 22, 3)
Die Frage, wie war es psychologisch möglich, daß Judas, der erwählte Apostel, seinen Herrn verriet, können wir auf Grund der Anhaltspunkte, die uns die Evangelien geben, etwa so beantworten: Als Judas zum Apostel erwählt wurde, hatte er vom Messias und seinem Reich noch ungeläuterte irdische Hoffnungen und Erwartungen; aber die übrigen Apostel hatten solche nicht minder. Allein während diese nach den Belehrungen, die sie in der Schule Jesu empfingen, und nach den Erfahrungen, die sie machten, ihre falschen Anschauungen verbesserten, tat dies Judas nicht. Die übrigen Apostel erhoben sich zu jenem Glauben, dem Petrus in der Synagoge von Kapharnaum nach der Verheißung des allerheiligsten Sakramentes Ausdruck gab mit den Worten: „Wir haben geglaubt und erkannt, daß du bist Christus, der Sohn Gottes.“ (Joh. 6,70). Judas aber teilte diesen Glauben nicht. Nun hätte er die Gesellschaft des Herrn verlassen müssen; denn der Heiland hatte ausdrücklich gesagt: „Wollt auch ihr gehen?“ d.h. wenn ihr meinem Wort nicht glaubt, müsst ihr euch von mir trennen; Judas aber blieb. Ohne Glauben im beständigen Umgang mit Jesus verharrend, wurde er ein Heuchler. Auch die Leidenschaften des Herzens, besonders die in ihm schlummernde Habsucht, unterdrückte er nicht mehr und wurde ein Dieb. (Joh. 12,6) Durch Unglauben, Heuchelei und Habsucht kam er in eine innere Verfassung, die es dem Satan leicht machte, den Plan des Verrates in seine Seele zu werfen und ihn für die Ausführung dieses Planes ganz in Besitz zu nehmen. Diesen dämonischen Anteil an der Tat des Judas deuten die Evangelien mehrfach an. (Lk. 22,3; Joh. 13, 2 27) –
Die Frage, wie konnte der Heiland Judas zum Apostel erwählen, wenn er vorher wusste, daß er zum Verräter würde, beantwortet treffend v. Keppler:
„Die Erwählung des Judas widerspricht nicht der Güte und Heiligkeit Gottes; ihr entsprach es, ihn zum Christentum und zum Apostolat zu berufen im Hinblick auf die gute Seite seines Wesens und auf seine Geistesanlagen, die ihn zum Apostelamt qualifizierten, und es entsprach ihr, an dem durch eigene Schuld tiefer und tiefer Sinkenden durch unermüdliche Gnaden-Einwirkung und bis ans Ende fortgesetzte Besserungs-Versuche die ganze Größe der Erlöserliebe zu offenbaren. Der göttlichen Wahrheit entsprach es, die Schuld des Jüngers in den Erlösungsplan aufzunehmen, sie in einen Kausal-Zusammenhang mit dem Erlösungstod zu setzen, sie durch den Mund des Propheten und des Heilandes vorauszusagen und so das Böse in den Dienst des Heilswerkes zu ziehen. Es entsprach der Universalität der Passion, daß in ihren wehevollen Leidenskreis auch der Verrat eines der Vertrauten und die durch ihn verursachte Seelenqual herein genommen wurde, und es entsprach der Gehorsams-Stellung des Sohnes auf Erden, dem Erlösungs-Ratschluss auch in diesem in der Schrift voraus bezeichneten Punkt sich zu fügen, die vom Zusammenleben mit Judas unzertrennliche Seelenpein zu tragen und wissentlich und willentlich sich dem Verrat des Tischgenossen zum Opfer zu geben. Dabei erfuhr die Freiheit des Judas keinerlei Determination oder Prädestination zum Bösen; die Vorherverkündigung der Tat begründet keine Vorherbestimmung zur Tat, ihre Eingliederung in den Erlösungsplan keine Nötigung, sie zu begehen.“ (KL VI 1918f.) –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. II, Neues Testament, 1910, S. 437 – S. 438