Die tröstliche Lehre, Christus im Leiden nachzuahmen
Wie hat denn nun also der himmlische Vater Christum, den Herrn, dem Leiden und dem Tod hingegeben? Er hat in seinem göttliche Ratschluss das Leiden und Sterben seines Mensch gewordenen Sohnes als Mittel bestimmt und festgesetzt, um mit demselben den Zweck der Mensch-Erlösung zu erreichen, wie geschrieben steht: „Der Herr hat unsrer Aller Missetaten auf ihn gelegt“ (Is. 53, 6) und: „Der Herr wollte ihn zermalmen in der Schwachheit.“ (Ibid. 10) Der himmlische Vater hat ferner der menschlichen Seele des Sohnes die Liebe eingegossen, und durch den Einfluss seiner Gnade den menschlichen Willen desselben bewogen, für uns zu leiden und zu sterben; wie ebenfalls geschrieben steht: „Er ist geopfert worden, weil er es selbst gewollt hat.“(Ibid. 7) Der himmlische Vater hat ihn auch gegen seine Feinde nicht in Schutz genommen, sondern dem Leiden und dem Tod überlassen; wie dies die Worte des Herrn selbst beweisen, die er bei seiner Gefangennehmung zu den Juden gesprochen: „Das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis“ (Luk. 22, 53); und zu Pilatus: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben herab gegeben worden wäre“ (Joh. 19, 11); und zuletzt auf dem Kreuz zu seinem Vater selbst: „Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“ Endlich hat der himmlische Vater die menschliche Natur seines viel geliebten Sohnes mit seiner göttlichen Kraft unterstützt, daß sie dem Leiden nicht erlag, bis es das bestimmte Vollmaß erreicht hatte; wie dies aus der Größe und Menge der Leiden, denen die menschliche Natur, sich selbst überlassen, hätte fortwährend erliegen müssen, erhellt, und aus dem hervor geht, was das heilige Evangelium von seinem Leiden auf dem Ölberg sagt: „Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn.“ (Luk. 22, 43) So hat der himmlische Vater Christum, den Herrn, dem Leiden und dem Tode übergeben; das hat Gott der Vater, und das hat Christus als gleicher Gott mit dem Vater mit demselben göttlichen Willen gewollt, dem hat Christus als Mensch mit seinem menschlichen Willen beigestimmt, und so hat, wie der Vater ihn, er sich selbst den Feinden überlassen, und dem Leiden und dem Tod übergeben, der Vater und der Sohn aus freiem Willen und in unendlicher Liebe und Barmherzigkeit für uns arme Menschenkinder.
Darin liegt eine höchst wichtige und zugleich sehr tröstliche Lehre für uns, die wir unsern göttlichen Erlöser, wie im ganzen innern und äußern Leben, so auch im Leiden nachahmen müssen. Denn es gibt wohl keinen Menschen, der nicht von andern Menschen zu leiden hätte; es gibt Viele, die sehr Vieles, und es gibt Manche, die auch das Äußerste von Anderen ertragen müssen. Es ist aber auch unser Leiden von Gott voraus gesehen, die Zulassung desselben im ewigen Ratschluss Gottes festgesetzt, und zwar um unseres Heiles willen, aus Liebe und Barmherzigkeit. Gott haßt die Bosheit und die bösen Werke derer, welche uns ungerechter Weise das Leiden verursachen; aber er will, daß wir unsererseits die Leiden so aufnehmen und ertragen, wie es seinen liebevollen und barmherzigen Absichten entspricht. Gott gibt auch uns dem Leiden und dem Tod hin, wie seinen eingeborenen, viel geliebten Sohn; aber es sollen auch wir, wie Christus, der Herr, uns dem Leiden und dem Tod hingeben. Das Erste also, was wir in Bezug auf die Leiden zu tun haben, ist dies, daß wir dieselben als von Gott uns zugesendet ansehen, und von seiner Vaterhand annehmen, nicht aber auf die nächsten Ursachen, von welchen sie ausgehen, hinblicken; wir sollen die Worte, welche die der Herr zu Petrus gesprochen: „Soll ich den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, nicht trinken?“ (Joh. 18, 11) uns selbst zurufen. Sieht man auf die Menschen, auf ihre Bosheit, auf ihre bösen Reden und Taten, welche die Leiden verursachen; so empört sich die ganze Natur, und man ist versucht, sich recht zu verschaffen, oder sogar Böses mit Bösem zu vergelten und Rache zu nehmen. Sieht man aber auf Gott und dessen Anordnung; so findet man in dem Leiden große Schätze, und in denen, welche sie uns verursachen, Werkzeuge, mit welchen uns Gott diese schätze verschafft. So kann man auch den ärgsten Feind nicht zürnen; man kann sie sogar lieben, wegen ihrer Sünden aber, die sie in ihrer Bosheit begehen, und wegen des Unglücks, in das sie sich dadurch hinein stürzen, bemitleiden, und mit Christus, dem Herrn, für die beten: „Vater! vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Luk. 23, 84)
Es verleiht dieser gläubige Aufblick zu Gott im Leiden Mut und Kraft, um dasselbe nach Gottes Wohlgefallen zu bestehen; weil man überzeugt ist, daß man damit Gottes Willen erfülle; und weil dieser Glaube zugleich die Sicherheit gewährt, daß Gott, wie er das Leiden zuläßt, so auch die Gnade verleihe, dasselbe bis ans Ende zu ertragen, nach den Worten des heiligen Paulus: „Gott aber ist betreu; er wird euch nicht über eure Kräfte versucht werden lassen, sondern bei der Versuchung auch den Ausgang geben, daß ihr ausharren könnt“ (1. Kor. 10, 19) und: „Denen, die Gott lieben, gereicht Alles zum Besten!“ (Röm. 8, 28)
Überdies geziemt es sich für einen gläubigen, Gott liebenden, dankbaren Christen, der sieht, wie Gott der Vater seinen eigenen Sohn, und dieser sich selbst, und zwar für uns, dem Leiden und dem Tod hingegeben, das Leiden zu lieben und es sogar zu wünschen, wenn es ohne Sünde des Nächsten erreicht werden könnte; um durch dasselbe dem Vater und dem Sohn sich wohlgefällig zu machen, Gegenliebe zu erweisen und Gottes Ehre, das Heil der eigenen Seele, und auch das Heil anderer Seelen zu fördern. Je feuriger die Liebe Gottes im Herzen brennt, desto flammender erhebt sich in demselben auch diese Sehnsucht nach dem Leiden. Das sehen wir an unserm göttlichen Erlöser. –
aus: Georg Patiss SJ, Das Leiden unsers Herrn Jesu Christi nach der Lehre des heiligen Thomas von Aquin, 1883, S. 212 – S. 215
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