Die Barmherzigkeit Gottes im Erlösungswerk Jesu Christi
Wunderbar groß und herrlich sind die Werke der Allmacht Gottes im Reich der Natur, aber größer und herrlicher sind die Werke seiner Barmherzigkeit im Reiche der Gnade.
Die Barmherzigkeit Gottes
Der königliche Sänger preist die Allmacht, Weisheit, Güte und Vorsehung Gottes in der Schöpfung und bewundert die Größe, Menge und Schönheit der Werke Gottes in derselben. Aber von der Barmherzigkeit Gottes sagt: „Seine Erbarmungen gehen über alle seine Werke“ (Ps. 144,9); über diese Barmherzigkeit entzückt, ruft er zu Gott: „Ich will dich preisen, Herr! Dir lobsingen unter den Nationen. Denn größer als der Himmel ist deine Barmherzigkeit!“ (Ps. 107, 4-5) und: „Die Erde, o Herr! ist voll deiner Barmherzigkeit“ (Ps. 118, 64). Er ruft den Völkern zu: „Die Barmherzigkeit des Herrn währt von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Ps. 102,17). – „Lobet den Herrn, alle Völker, lobet ihn, alle Nationen! Denn es ist bestätigt über uns seine Barmherzigkeit“ (Ps. 116,1-2). Denn die Werke der Barmherzigkeit sind sowohl von Seiten Gottes größer und wunderbarer, als alle Werke der Schöpfung, als auch für und Menschenkinder notwendiger und heilsamer, als alles Übrige, was Gott für uns gewirkt oder wirken kann. Was wären wir ohne diese Barmherzigkeit, und was nützte uns alles Andere? Die Erde wäre ein Land des Fluches, das Leben eine trostlose Marter, der Tod ein hoffnungsloses Scheiden aus den zeitlichen in die ewigen Peinen. Ohne diese Barmherzigkeit gäbe es in der ganzen sichtbaren Schöpfung kein elenderes und unglückseligeres Wesen als den Menschen.
Diese Barmherzigkeit Gottes aber liegt mit ihrer ganzen Fülle in dem Erlösungswerk Jesu Christi, unseres Herrn und Heilandes, ausgegossen, in welchem der Sohn Gottes in Knechtsgestalt für uns sich dem schmerzlichsten und schmachvollsten Tode am Kreuz hingeopfert hat, um uns aus dem ewigen Verderben für die ewige Seligkeit zu erretten. Wenn daher etwas unauslöschlich unseren Herzen eingeprägt, und unserem Geist stets gegenwärtig sein; wenn etwas von der ganzen Menschheit zu allen Zeiten und an allen Orten mit Dank und Jubel gefeiert werden soll: so ist es gewiß das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi, durch welches wir erlöst worden sind, und einst erlöst sein werden von allen wie immer geartete Übeln, durch welches wir einen ewigen Himmel voll der unaussprechlichen Wonnen, Reichtümern und Herrlichkeiten gewinnen, und durch welches selbst das Leben auf Erden erträglich, trostvoll und hoffnungsreich sich gestaltet.
Vergiß nicht die Wohltat des Bürgen
Der heilige Geist brandmarkt denjenigen als einen Sünder und Ungerechten, welcher auf die Wohltat dessen vergißt, der sich selbst für ihn verpfändet und geopfert hat, und sagt: „Vergiß nicht der Wohltat des Bürgen; denn er hat sich selbst für dich hingegeben. Der Sünder und Ungerechte flieht vor seinem Bürgen.“ (Eccli. c. 29, 20-21) Wo gibt es nun aber einen größeren und erhabeneren Bürgen als den Sohn Gottes; und wer hat sich so für die gesamte Menschheit hingegeben wie der Sohn Gottes durch seine Menschwerdung und durch sein Leiden und Sterben? Was wäre darum sündhafter und ungerechter, als auf diese Wohltat zu vergessen, dadurch diesem göttlichen Bürgen die Anerkennung seiner Rettungstat zu verweigern, so ihm gleichsam den Rücken zu kehren und vor ihm zu fliehen?
Dieses Erlösungsopfer Christi, des Herrn, ist unsere Rettung aus der Knechtschaft der Sünde, des Todes, der Mächte der Finsternis, der ewigen Verdammnis; und der heilige Ambrosius sagt: „Das Leiden Christi ist unsere Erlösung, der Tod Christi ist unser Leben.“ (Serm. 56. de Cruce) Was muss uns daher teurer sein, was sollen wir dankbarer unserem Gedächtnis einprägen, liebender im Geiste erwägen, sorgfältiger im Herzen bewahren, begeisterter mit der Zunge preisen und eifriger durch unser ganzes Leben verherrlichen, als eben dieses Leiden des Herrn?
Der heilige Bonaventura schreibt: „Das so glorreiche Leiden Jesu Christi ist nicht nur die Grundlage unseres Glaubens, sondern auch die Aufrichtung unserer Hoffnung, da er sich selbst hingegeben, und die Entflammung unserer Liebe, da er sich für uns geopfert hat“ (Stimul. Amoris P.I.c.6); und: „Das Leiden Christi ist die Quelle der Gnade und der Glorie“ (Ebd. c.12). Aus welcher Quelle sollen wir also begieriger und emsiger schöpfen? Wo soll unser Herz Befriedigung, unser Gemüt Trost, unser Geist Licht und Beruhigung finden, wenn nicht in diesem wunderbaren Geheimnis?
Die Notwendigkeit der Betrachtung
Das Leiden Christi bietet uns sichere Zuflucht und rettenden Schutz in allen Trübsalen und Bedrängnissen des Leben, wie der heilige Augustinus sagt: „Die Wunden des Erlösers sind die sicher und zuverlässige Ruhe für die Schwachen und für die Sünder“ (Manual. c.21); und: „In allen Widerwärtigkeiten habe ich kein so kräftiges Heilmittel gefunden, wie in den Wunden Christi; da schlafe ich sicher, und ruhe ich ohne Furcht“ (ebd. c.22). Wer aus uns aber ist nicht schwach? Wer ist kein Sünder? Wer ist ohne Widerwärtigkeit? Wer soll daher nicht diese Wunden aufsuchen? Wer soll in denselben nicht seine Wohnung aufschlagen? Wer soll sich von denselben trennen lassen?
Es ist auch nichts geeigneter, uns recht leben und alle Tugenden über zu lehren, als der leidende und sterbende Heiland, der uns eben auf dem Kreuzweg und auf dem Kreuz sein erhabenes Vorbild in den blutigen Zügen seiner Schmerzen und in der Flammen-Schrift seiner Liebe in die Seele drückt. Daher schreibt der heilige Petrus Damianus: „Das Kreuz ist die Lebensregel in Christo, und für alle Gerechten der Unterricht in den guten Sitten“ (Serm. 48 de exaltat. S. Crucis), ein Lehrstuhl aller Tugenden. Niemand kann daher der Betrachtung des Kreuzes Christi entbehren; und wem es ernstlich um ein gottgefälliges, heiliges Leben zu tun ist, der darf das Leiden und Sterben des göttlichen Erlösers niemals aus den Augen verlieren.
Wollen wir endlich erkennen, welche Schätze wir uns aus der Betrachtung und Erwägung des Leidens und Sterbens des Herrn verschaffen können; so hören wir, was der ehrwürdige Thomas von Kempen darüber sagt; er schreibt: „Das Andenken an das Leiden Christi entzündet die Liebe Gottes, unterweist zur Geduld, tröstet in der Trübsal, verschmäht die Ausgelassenheit, bietet Stoff zu heiliger Zerknirschung, beschäftigt die innere Andacht, verbannt die Verzweiflung, erweckt die zuversichtliche Hoffnung auf die Verzeihung der Sünden, versöhnt die göttliche Gerechtigkeit, beruhigt die ängstlichen Verwirrung, macht auch eine harte Züchtigung erträglich, vertreibt den bösen Gedanken, unterdrückt die fleischliche Versuchung, lehrt demütige Unterwürfigkeit, verschafft Trost in der Krankheit des Leibes, macht weltliche Ehre verschmähen, zeitlichen Überfluss verachten, rät zu freiwilliger Armut, ermuntert zur Ablegung des eigenen Willens, zum Aufgeben überflüssiger Bedürfnisse, beseitigt den lauen Wandel, entflammt eine eifrige Besserung, erwirkt größere Gnaden, führt himmlische Tröstungen herbei, erweckt brüderliches Mitleid, bereitet zur Anschauung Gottes vor, vermehrt die künftige Seligkeit, vermindert die gegenwärtigen Strafen, ersetzt die Reinigung des zukünftigen Feuers“ (De Christi Passione Meditat. 25.c.9). Wer also diese großen und kostbarenSchätze gewinnen, wer mit Ernst sein ewiges Heil besorgen, mit Mut, Kraft und Sicherheit nach der Tugend und Vollkommenheit streben will; der wird auch sein Hauptaugenmerk auf das Leiden des Herrn richten, in demselben für die vielen und verschiedenen Bedürfnisse seiner Seele Hilfe suchen, und dann auch im eigenen Leben mutig und standhaft den Kreuzweg wandeln, der in den Himmel führt.
Daher sehen wir auch, daß die Betrachtung des Leidens und Sterbens des Herrn das tägliche Brot war, womit die Heiligen ihr Geistesleben nährten, und daß sie von allen Geisteslehrern dringend empfohlen werde. Verschieden ist aber die Art und Weise, wie sie diese Geheimnisse behandeln. –
aus: Georg Patiss SJ, Das Leiden unsers Herrn Jesu Christi nach der Lehre des heiligen Thomas von Aquin, 1883, S. 1 – S. 5