Verschiedene Weisen der Betrachtung der Passion Christi
… wer mit Ernst sein ewiges Heil besorgen, mit Mut, Kraft und Sicherheit nach der Tugend und Vollkommenheit streben will; der wird auch sein Hauptaugenmerk auf das Leiden des Herrn richten, in demselben für die vielen und verschiedenen Bedürfnisse seiner Seele Hilfe suchen, und dann auch im eigenen Leben mutig und standhaft den Kreuzweg wandeln, der in den Himmel führt.
Daher sehen wir auch, daß die Betrachtung des Leidens und Sterbens des Herrn das tägliche Brot war, womit die Heiligen ihr Geistesleben nährten, und daß sie von allen Geisteslehrern dringend empfohlen werde. Verschieden ist aber die Art und Weise, wie sie diese Geheimnisse behandeln. Die einen verfolgen den Gang der Erzählung, wie sie von den heiligen Evangelisten dargelegt ist, begleiten im Geiste den göttlichen Heiland auf seinem Leidensweg von dem letzten Abendmahl bis zum Grabe, als wenn sie Zuschauer und Zuhörer wären, die alles beobachten und erwägen, was da geschieht und gesprochen wird, und erwecken in ihrem Herzen den verschiedenen Geheimnissen entsprechende Anmutungen, Gefühle und Tugendakte. Andere erwägen bei den einzelnen Geheimnissen, was der Herr an seinem Leibe, was er an seiner Seele gelitten, wie die Gottheit die Menschheit diesen Leiden überlassen, und nur in so weit unterstützt hat, daß sie nicht unterlag, bis der Leidenskelch ausgetrunken war, aus welchen Ursachen, um welcher Sünden willen er die einzelnen Leiden auf sich genommen, für wen er sie erduldet, und welche Tugenden er in denselben geübt hat. Viele betrachten neben dem Leiden des Herrn die Menge, die Schwere, die Bosheit und die Abscheulichkeit der Sünden in Reue und Zerknirschung, beten erschüttert die göttliche Gerechtigkeit an, welche eine solche Genugtuung gefordert, und bewundern die göttliche Barmherzigkeit, welche diese Genugtuung selbst für das Menschengeschlecht geleistet, so wie die unbegreifliche Liebe, mit welcher der himmlische Vater seinen eingeborenen Sohn für uns hingegeben, und der Sohn Gottes für uns dieses blutige Erlösungswerk auf sich genommen hat. Manche betrachten die Wohltaten, welche der Herr fortwährend den Menschen gespendet, und den entsetzlichen Undank, mit welchem die Menschen ihm dieselben vergolten haben, also das Leiden, in wie fern es von den Menschen ausgegangen ist…
Es gibt auch Geistesmänner, welche in der Betrachtung des Leidens und Sterbens des Herrn auf die erhabene Würde des Gottmenschen sehen, und erwägen ihr gegenüber die schrecklichen Unbilden und die gräuelhaften Verbrechen, welche an ihm begangen worden sind. So schreibt der ehrwürdige Thomas von Kempen:
„Sieh! Der Allerhöchste über alle wird unter alle erniedrigt, der Edelste wird entehrt, der Schönste wird mit dem Auswurf besudelt, der Weiseste wird verlacht, der Mächtigste wird gebunden, der Unschuldigste wird gegeißelt, der Heiligste wird mit Dornen gekrönt, der Sanftmütigste wird mit Backenstreichen geschlagen, der Reichste wird arm gemacht, der Freigebigste wird beraubt, der Keuscheste wird entblößt, der Würdigste wird gelästert, der Beste gescholten, der Weiseste wird als Narr behandelt, der Liebendste wird gehaßt, der Wahrhaftigste wird verleugnet, der Süßeste wird mit Galle getränkt, der Gebenedeiteste wird verflucht, der Friedfertigste wird gepeinigt, der Gerechteste wird angeklagt, der Schuldloseste wird verurteilt, der Arzt wird verwundet, der Sohn Gottes wird gekreuzigt, der Unsterbliche wird getötet.“
Diese Geheimnisse sind eben unendlich, und darum unerschöpflich; es kann daraus jede Seele nach ihrer Fassungskraft und nach den Bedürfnissen ihres Zustandes schöpfen; jede Geistesrichtung findet darin, was sie braucht. Was aber der göttliche Lehrmeister, der heilige Geist, in liebenden Seelen wirkt, welche in das Leiden Christi teilnehmend, mitleidend sich verabgründen, und mit gänzlicher Hingabe ihrer selbst gleichsam mit dem Leidenden und Gekreuzigten sich verschmelzen; wer kann das erforschen, ausdrücken, oder beschreiben? Die heilige Kirche stellt uns solche hochbegnadigte Seelen in ihren Heiligen vor Augen, welche auch äußerlich das leibhaftige Bild des Gekreuzigten an sich trugen, und im eigentlichen Sinne mit dem heiligen Paulus von sich sagen konnten: „Ich trage die Wundmale des Herrn Jesus an meinem Leibe“. (Gal. 4,17) –
aus: Georg Patiss SJ, Das Leiden unsers Herrn Jesu Christi nach der Lehre des heiligen Thomas von Aquin, 1883, S. 5 – S. 7