Was Pius XII über die religiöse Toleranz sagt
Auszug aus der
Ansprache Papst Pius XII. vom 6. Dezember 1953
Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft (*)
3971 Bei dieser Gelegenheit möchten Wir Uns mit Ihnen – die Sie sich gerne katholische Juristen nennen – über eine der Fragen unterhalten, die sich in einer Völkergemeinschaft stellen, nämlich über das praktische Zusammenleben der katholischen Gemeinschaften mit den nicht-katholischen.
3972 Entsprechend dem Religionsbekenntnis der überwiegenden Mehrheit der Bürger oder aufgrund einer ausdrücklichen Erklärung ihrer Verfassung werden Völker und Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft in christliche, religiös indifferente oder bewusst laizistische oder auch ausdrücklich atheistische unterschieden werden können. Die religiösen und sittlichen Belange verlangen für den ganze Bereich der Gemeinschaft eine genau festgelegte Regelung, die für das gesamte Gebiet der einzelnen souveränen Staaten, die Mitglieder der Staaten-Gemeinschaft sind, Geltung hat.
Diese positiv-rechtliche Regelung dürfte wahrscheinlich und aufgrund der Verhältnisse voraussichtlich ungefähr folgendermaßen aussehen: innerhalb seines Staatsgebietes und für seine Bürger regelt jeder Staat die religiösen und moralischen Angelegenheiten durch ein eigenes Gesetz; nichts desto weniger wird es im gesamten Gebiet der Staaten-Gemeinschaft allen Bürgern jedes Mitgliedstaates erlaubt sein, seine Glaubens-Überzeugungen und seine ethische und religiöse Praxis auszuüben, soweit diese nicht mit den Strafgesetzen des Staates, in dem er sich aufhält, in Widerspruch stehen.
3973 Für den katholischen Juristen, Politiker und Staat erhebt sich nun die Frage: können sie einer solchen Regelung ihre Zustimmung geben, wenn es sich darum handelt, der Völkergemeinschaft beizutreten und in ihr zu verbleiben?
3974 Hinsichtlich der religiösen und sittlichen Interessen stellt sich dabei eine doppelte Frage: die erste betrifft die objektive Wahrheit und die Gewissens-Verpflichtung gegenüber dem, was objektiv wahr und gut ist; die zweite betrifft die tatsächliche Haltung der Völkergemeinschaft gegenüber dem einzelnen dem einzelnen souveränen Staat und die Haltung dieses Staates gegenüber der Völkergemeinschaft in Fragen der Religion und der Sittlichkeit. Die erste Frage kann kaum ein Gegenstand der Diskussion und der Regelung zwischen den einzelnen Staaten und ihrer Gemeinschaft bilden, ganz besonders nicht im Fall einer Mehrzahl religiöser Bekenntnisse innerhalb der gleichen Gemeinschaft. Die zweite dagegen kann von größter Wichtigkeit und Dringlichkeit sein.
Das Problem der praktischen Duldung glaubensmäßiger oder sittlicher Abwegigkeiten
3975 Folgender Weg führt zur richtigen Beantwortung der zweiten Frage.
Vor allem ist eindeutig festzuhalten: keine menschliche Autorität, kein Staat, keine Staatengemeinschaft, welchen religiösen Charakter sie auch immer haben mögen, können einen positiven Befehl oder eine positive Ermächtigung erteilen, etwas zu lehren oder zu tun, was der religiösen Wahrheit oder dem sittlich Guten widerspräche. Ein Befehl oder eine Ermächtigung dieser Art hätte keine verpflichtende Kraft und bliebe unwirksam. Keine Autorität kann sie geben, denn es ist gegen die Natur, den Geist und den Willen des Menschen, zum Bösen und zum Irrtum zu verpflichten oder beides als gleichgültig zu betrachten. Nicht einmal Gott könnte einen solchen positiven Befehl oder eine solche positive Ermächtigung geben, da sie im Widerspruch zu seiner absoluten Wahrhaftigkeit und Heiligkeit stünden.
3976 Eine wesentliche andere Frage ist es, ob in einer Staaten-Gemeinschaft, zum mindesten unter bestimmten Umständen, der Grundsatz aufgestellt werden könnte, dass die freie Ausübung eines Glaubens oder einer religiösen oder sittlichen Praxis, die in einem der Mitgliedsstaaten Geltung haben, im Gesamtgebiet der Gemeinschaft nicht durch Gesetze oder staatliche Zwangsmaßnahmen verhindert werden darf. Mit anderen Worten, es fragt sich, ob das „Nichtverhindern“ oder die Toleranz unter solchen Umständen erlaubt und also positive Unterdrückung nicht immer eine Pflicht wäre.
3977 Wir haben eben die Autorität Gottes erwähnt. Kann Gott, obwohl es ihm möglich und leicht wäre, den Irrtum und die sittliche Entgleisung zu unterdrücken, in einigen Fällen das „Nichtverhindern“ wählen, ohne in Widerspruch mit seiner unendlichen Vollkommenheit zu geraten? Kann es geschehen, dass er unter bestimmten Verhältnissen den Menschen kein Gebot gibt und keine Verpflichtung auferlegt, ja ihnen nicht einmal das recht zugesteht, den Irrtum und das Falsche zu unterdrücken?
Ein Blick auf die Wirklichkeit gibt eine bejahende Antwort. Sie zeigt, dass sich Irrtum und Sünde weithin auf der Erde finden. Gott verwirft sie; doch er lässt sie bestehen. Daher kann der Satz: die religiöse und sittliche Verirrung muss immer, wenn es möglich ist, verhindert werden, da es an sich unmoralisch ist, sie zu dulden, nicht in absoluter Unbedingtheit gelten. Anderseits hat Gott auch der menschlichen Autorität kein solches uneingeschränktes und allgemeines Gebot gegeben, weder im Bereich des Glaubens noch in dem der Moral. Ein solches Gebot kennt weder die allgemeine Überzeugung der Menschen, noch das christliche Gewissen, noch die Quelle der Offenbarung, noch die Praxis der Kirche.
Um hier die anderen Texte der Heiligen Schrift, die sich auf dieses Thema beziehen, beiseite zu lassen, so hat Christus im Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut folgende Mahnung gegeben: Lasst das Unkraut auf dem Acker der Welt zusammen mit dem guten Samen wachsen wegen des Getreides. (Vgl. Matth. 13, 24-30) Die Pflicht, sittliche und religiöse Verirrungen zu unterdrücken, kann also keine letzte Norm des Handelns sein. Sie muss höheren und allgemeineren Normen untergeordnet werden, die unter gewissen Verhältnissen erlauben, ja es vielleicht als den besseren Teil erscheinen lassen, den Irrtum nicht zu verhindern, um ein höheres Gut zu verwirklichen.
3978 Damit sind die beiden Prinzipien geklärt, von denen in den konkreten Fällen die Antwort auf die bedeutungsvolle Frage der Haltung des katholischen Juristen, Staatsmannes und souveränen Staates zu einer für die Staaten-Gemeinschaft in Erwägung kommenden religiös-sittlichen Toleranzformel des oben angeführten Inhalts abzuleiten ist.
1. Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion.
2. Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen einzugreifen, kann trotzdem im Interesse eines höheren und umfassenderen Gutes gerechtfertigt sein.
3979 Ob dann diese Bedingung im konkreten Fall zutrifft – es ist die „Quaestio facti“ („Die Frage des Sachverhaltes“) -, muss vor allem der katholische Staatsmann selber entscheiden. Er wird sich bei seiner Entscheidung von dem Vergleich der schädlichen Folgen, die sich aus der Toleranz ergeben, mit den schädlichen Folgen, die durch Annahme der Toleranzformel der Staaten-Gemeinschaft erspart bleiben, leiten lassen, d. h. also von dem Gut, das sich bei einer weisen Voraussicht für die Gemeinschaft als solche und indirekt auch für den Mitgliedssaat davon erwarten lässt.
Was den religiösen und sittlichen Bereich angeht, so wird er auch das Urteil der Kirche einholen. Auf deren Seite ist in solchen entscheidenden Fragen, die das internationale Leben berühren, in letzter Instanz nur der zuständig, dem Christus die Leitung der ganzen Kirche anvertraut hat, der römische Papst.
Die Stellungnahme der katholischen Kirche zur Frage der religiösen Toleranz
3983 Doch wir wollen zu den beiden oben genannten Prinzipien zurückkehren und in erster Linie zu dem der unbedingten Ablehnung von allem, was religiös falsch und sittlich schlecht ist. Diesem Punkt gegenüber gab und gibt es in der Kirche keinerlei Schwanken, keinerlei Paktieren, weder in der Theorie noch in der Praxis. Ihre Haltung hat sich im Laufe der Geschichte nicht geändert und kann sich auch nicht ändern, wo und wann immer sie in den verschiedensten Formen vor die Entscheidung gestellt wird, entweder den Götzen Weihrauch zu streuen oder für Christus das Leben hinzugeben.
Der Ort, an dem Sie sich heute befinden, das Ewige Rom, mit den Überresten einer vergangenen Größe und mit den glorreichen Erinnerungen an seine Märtyrer ist der beredtste Zeuge für die Antwort der Kirche. Der Weihrauch wurde nicht vor den Götzenbildern verbrannt, und das Christenblut hat den heilig gewordenen Boden getränkt. Doch die Tempel der Götter liegen da in den kalten Ruinen der noch eindrucksvollen Trümmer, während an den Gräbern der Märtyrer Gläubige aller Völker und aller Zungen mit Inbrunst das altehrwürdige Credo der Apostel wiederholen.
3984 Was das zweite Prinzip betrifft, nämlich die Toleranz unter bestimmten Umständen, die Duldung auch in Fällen, wo man zur Unterdrückung schreiten könnte, so hat sich die Kirche – schon aus Rücksichtnahme auf diejenigen, die in gutem Glauben (irrtümlich zwar, doch unüberwindlich) anderer Meinung sind – veranlasst gesehen, sich tolerant zu verhalten, und hat dies auch getan, nachdem sie unter Konstantin dem Großen und den anderen christlichen Kaisern Staatskirche geworden war, immer um höherer und wichtigerer Ziele willen; so handelt sie auch heute, und auch in Zukunft wird sie sich vor derselben Notwendigkeit finden.
In solchen Einzelfällen ist die Haltung der Kirche vom Schutz und von der Rücksichtnahme auf das Bonum commune, das Gemeinwohl der Kirche und des Staates in den verschiedenen Staaten einerseits und andererseits das Gemeinwohl der universalen Kirche des Reiches Gottes auf der ganzen Erde, bestimmt. Für die Erwägung des Für und Wider bei der Behandlung der „Quaestio facti“ gelten dabei für die Kirche keine anderen Normen als die, welche Wir schon früher für den katholischen Juristen und Staatsmann aufgezeigt haben, auch was die höchste und letzte Instanz angeht.
(*) Ansprach an den Verband der katholischen Juristen Italiens: 6. Dezember 1953. AAS XLV (1953) 794-9802. Original: italienisch. –
aus: Utz OP/Groner OP, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., Bd. II, 1962, S. 2046 – S. 2052
siehe auch den Beitrag von Pater Joseph Clifford Fenton zur Allokution von Pius XII.:
Bildquellen
- Pius_XII_with_tabard,_by_Michael_Pitcairn,_1951_(retouched): wikimedia