Der göttliche Ausweg
„Ich glaube an Jesum Christum, den eingebornen Sohn Gottes, unsern Herrn.“ (Grund- und Schlußstein)
Der Mensch war von Gott in der lieblichsten Unschuld erschaffen worden; er war ein Heiliger, aber noch kein fertiger, denn er konnte diese Heiligkeit durch freie Schuld verlieren, er konnte sündigen. Seine Heiligkeit war erst nur pures Geschenk. Aber noch Gottes Plan sollte der Mensch diese Heiligkeit selber bewahren und sollte durch Gebrauch seiner Freiheit es endlich dahin bringen, gar nicht mehr sündigen zu können. So wäre eine Weltgeschichte geworden, wo es keine Sünde, keinen Haß und Zorn, keinen Diebstahl, keinen Neid und Geiz, keine Unlauterkeit und keine Hoffart, keine Lüge und und kein Betrug, keine Ehrabschneidung und kein Ohrenblasen, kein Fluchen und keinen Meineid gegeben hätte. Dagegen wäre unter den Menschen immerwährende Eintracht und lIebe, Treue und Wahrheit, Einfalt und Demut, Keuschheit und Gerechtigkeit, Gehorsam und Ordnung und die reinste Gottesliebe auf Erden gewesen; ein wunderschönes Königreich und Gott sein väterlicher König.
Weiter hätte es nach Gottes erstem Plan keinen Tod auf der Welt gegeben. Es wäre Niemand gestorben, sondern nach einem frischen, gesunden, starken Leben wären die heiligen Leute ohne Tod umgewandelt worden in eine Herrlichkeit, wo sie gar nicht mehr hätten sterben können, gerade so wie Christi Leib jetzt glorreich und unverweslich im Himmel lebt.
Aber leider ist die Sache anders, gar anders geschehen. Der Mensch hat das Gewebe Gottes zerrissen, hat gewaltsam Gottes Plan umgeworfen und sich selber einen andern machen wollen; er hat die Sünde – Abfall von Gott – zu Grunde gelegt, und darauf baut sich die jetzige Weltgeschichte auf – mit Mord, Krieg, Krankheit, Streit, Neid, Zorn, mit schandvollen Untaten und Grausamkeiten und Qualen aller Art, wie wir es Alles erlebt haben seit sechstausend Jahren. Und doch ist das Allerärgste, was der Mensch für seinen Abfall von Gott verdient hätte, gar nicht mal geschehen.
Das Allerärgste wäre nämlich gewesen, wenn Gott den Menschen in seiner Sünde hätte stecken lassen und ihn dann zum wohl verdienten Lohn – immer und ewig von sich verstoßen und in die ewige Hölle begraben hätte. Dann hättest du keinen Trost in deinen Leiden, keine Aussicht auf Gnade, keine Hoffnung auf einmaliges Wiederaufleben zu seligem Leben gehabt und empfunden, könntest nie mit Vertrauen und Liebe zu Gott sagen: „Vater unser“, wie das doch der Fall ist. Und so ist auch die jetzige Weltgeschichte nicht so, wie sie ausgefallen wäre, wenn Gott der Herr den abgefallenen Menschen sich selbst und der Sünde und ihren Folgen überlassen hätte. Was ist denn dazwischen gekommen?
Wir wissen es wohl, und will ich dir die Sache von Einem erzählen lassen, der es hundertmal besser kann als ich. Es ist Sankt Bernhard, und er bringt die schöne Geschichte beiläufig also vor.
Wie der Mensch, sagt er, drunten im Abgrund der Sünde gelegen, und nahe daran gewesen sei, daß ihm von der beleidigten Majestät Gottes der Prozeß auf zeitlichen und ewigen Tod sollte gemacht werden, da habe es im Himmel einen wunderbarlichen Streit gegeben zwischen der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes. Die Gerechtigkeit habe von der Majestät Gottes scharfes und unerbittliches Gericht und Strafe für den Delinquenten, den Menschen in seinem ganzen Geschlecht verlangt; sie habe vorgestellt, wenn das nicht geschehe, werde der Mensch noch immer frecher und sie, die Gerechtigkeit von ihm nur ausgelacht und verspottet werden. Dagegen habe die Barmherzigkeit eingewendet, die Gerechtigkeit hätte schon an den verworfenen Geistern ihre ganze Strenge und ihr volles Recht geübt; jetzt bei dem Menschen soll sie auch ihr, der Barmherzigkeit, Rechnung tragen; sonst würde man mit Recht Gottes Majestät nur an ihrer Strenge und in ihrer Furchtbarkeit, aber nie in ihrer Milde erkennen, und wenn die Barmherzigkeit auch diesmal den Kürzeren ziehen müßte, würde kein Mensch mehr auf auf sie achten. Es soll daher die Majestät des richtenden Gottes diesmal Gnade für Recht ergehen lassen.
So redeten die Beide in Angelegenheit des armen Menschen hin und wider und kamen an kein Ende; und doch musste es sich entscheiden, ob in der 1000-jährigen Menschengeschichte Gottes Gerechtigkeit oder Gottes Barmherzigkeit das Regiment führen solle.
Da trat die ewige Weisheit dazwischen und gab einen ganz wundervollen Rat. Es sollte ein Ausgleich zwischen Beiden geschehen. Die Gerechtigkeit sollte volle Genugtuung erhalten, und die Barmherzigkeit auch. Es sollte Einer aufgefunden werden, der nicht in der Sünde begriffen ist, und dieser sollte aus Liebe anstatt der Menschen Alles abzahlen, was die Gerechtigkeit von ihnen zu fordern habe.
Dieser Spruch der Weisheit hat gefallen, und nun ist die Gerechtigkeit ausgegangen in die ganze Welt und hat den Unschuldigen gesucht, der ihre Forderungen zahlen sollte, und die Barmherzigkeit ist ausgegangen und hat den gesucht, der in Liebe die schuld auf sich nehmen und tilgen möchte. Aber auf der ganzen Welt ist keiner gefunden worden, der so schuldlos und so liebreich gewesen wäre und sie kehren traurig wieder zurück zum Throne Gottes.
Jetzt aber geht Beider Ansicht dahin, daß sie, die ewige Weisheit, welche diesen schönen Ausgleich erfunden, ihn nun auch selber ausführen sollte. Da trat nun die göttliche Weisheit, der ewige Sohn des Vaters, vor, und erklärte: Er wolle es auf sich nehmen, seinen eigenen Rat selber auszuführen. Er wolle Mensch werden und die unendlichen Schuldforderungen der Gerechtigkeit mit unendlichem Preis austilgen, den Menschen aus den Abwegen der Sünde wieder dem Vater zurück führen, den ersten Plan Gottes, den die Sünde zerrissen, in andererWeise wieder herstellen und demnach eine neue Ordnung der Weltgeschichte einführen. Er warte nur auf die Zustimmung des ewigen Vaters…
Die Menschen haben damals zwar darum nichts gewußt – aber du Leser weißt jetzt darum, was der Vater für dich und mich für einen Entschluß gefaßt. Mit goldenen Buchstaben sollte ein Engel diesen Entschluß hier hersetzen und wir sollten ihn tausendmal küssen; er ist wohl wert. Tue auf dein Herz in Freude und Staunen und lasse überströmen in Freudentränen deine Augen:
„Gott, der reich ist an Erbarmen, hat in der gar großen Liebe, mit welcher er uns geliebt hat, seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns Alle hergegeben – damit er in den kommenden Jahrhunderten den überströmenden Reichtum seiner Gnade in Milde gegen uns erzeige in Christo Jesu.“ St. Paulus.
Das ist der große Ratschluß Gottes, auf welchen hinauf jetzt ein neuer Plan der Weltgeschichte entworfen wird. Der Sohn Gottes wird in Menschengestalt auf der Erde erscheinen und Alles neu gestalten.
aus: Franz Ser. Hattler SJ, Wanderbuch für die Reise in die Ewigkeit, I. Band, Erster Teil. Wo gehst du hin?, 1883, S. 61-66