Darf oder muss man Privatoffenbarungen glauben?
Nachdem du diese ganz außergewöhnlichen Vorkommnisse im Leben der hl. Hildegard gelesen und vernommen, daß selbst Papst Eugen III. und der so berühmte hl. Bernhard sie ermuntert haben, ihre Offenbarungen aufzuschreiben, drängt sich dir die Frage auf: „ Was ist von den Offenbarungen zu halten, welche Privatpersonen erhalten zu haben behaupten und Andern mitteilen? Darf oder muss man sie glauben? Kann man erkennen, ob sie glaubwürdig sind? Was lehrt hierüber die katholische Kirche?
Diese deine Frage ist ganz gerechtfertigt, weil in der gegenwärtigen Zeit Privat-Offenbarungen ein sehr gangbarer Artikel sind, weil Prophetinnen, Zigeunerinnen, Somnambülen, Magnetisierte, redende und klopfende Tische in den Städten und bei den „Gebildeten“ mit ihren Offenbarungen einträgliche Geschäfte machen. Höre hierüber die Lehre der katholischen Kirche:
1. Sie lehrt die Möglichkeit der Privat-Offenbarungen. Gott kann einzelnen Menschen Geheimnisse, zukünftige Dinge, seinen heiligen Willen und besondere Anordnungen mitteilen und auch den Auftrag geben, solche Andern kund zu tun. Diese Möglichkeit lehrt die Kirchen-Versammlung von Trient ausdrücklich, indem sie erklärt, Niemand könne mit absoluter Glaubens-Gewissheit seiner endlichen Beharrlichkeit, bzw. auch der erlangten Rechtfertigung gewiß sein, es sei denn, daß er es „aus einer speziellen Offenbarung“ wisse. Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, daß Gott vielen Heiligen die Stunde ihres Todes und viele zukünftige oder ganz verborgene Dinge geoffenbart hat, deren Wahrheit durch das genaue Eintreffen ganz klar bestätigt worden ist. Immerhin müssen diese Offenbarungen sowohl dem Inhalt als dem Zweck nach der Weisheit und Güte Gottes angemessen, dem wahren Heile des Menschen und seiner Vervollkommnung nützlich sein.
2. Die katholische Kirche lehrt, daß sie als oberste Lehrerin und Hüterin des religiösen Lebens das Recht habe, ein authentisches Urteil zu fällen, ob solche Privat-Offenbarungen echt, wirklich von Gott eingegeben seien, ob sie keine Verstöße gegen die katholische Glaubens- und Sittenlehren enthalten. Wenn nun die katholische Kirche solche Offenbarungen approbiert und als echt anerkennt, was sie jedoch nur in seltenen Fällen tut, so will sie durch ihre Approbation Niemanden verpflichten, an die Echtheit oder den Inhalt derselben zu glauben, sondern sie will nur erklären, daß dieselben vernünftiger und frommer Weise für echt gehalten werden und zur Erbauung und Veredlung dienen können. Jedoch wäre es gewiß unvernünftig und vermessen, solche von der Kirche anerkannten Offenbarungen mit Spott und Verachtung abzuweisen.
3. Eine Glaubenspflicht gegenüber solchen Offenbarungen besteht einzig nur für diejenige Person, welcher sie von Gott selbst unmittelbar mitgeteilt werden, wenn sie überzeugt ist, daß sie wirklich von Gott kommen, dagegen nie für diejenigen, welche nur mittelbar davon Kenntnis erhalten. Immer und in jedem Falle sind sie zu verwerfen und zu verabscheuen, wenn sie Verstöße und Widersprüche gegen die allgemeinen Glaubens- und Sittenlehren enthalten, wie solche von Jesus Christus den Aposteln übergeben sind und von der heiligen Kirche zu glauben vorgestellt werden, oder wenn sie zu diesen allgemeinen Glaubens- und Sittenlehren etwas „wesentlich Neues“ hinzufügen würden. Denn in Jesus Christus ist die Heilsoffenbarung vollendet und abgeschlossen, und deshalb sagt schon der hl. Paulus: „Wenn ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündigte, als wir euch verkündigt haben, der sei verflucht.“ (Gal. 1,8) –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 690 – S. 691