Heiligenkalender
17. September
Die heilige Hildegard von Bingen Äbtissin
Unter den heiligen Frauen Deutschlands und des Benediktinerordens verdient Hildegard durch ihre Tugenden, ihre übernatürliche Wissenschaft und ihre großartige Wirksamkeit unter ihren Zeitgenossen eine der ersten Ehrenstellen. Sie war 1098 zu Böckelheim in der Pfalz aus ritterlichem Geschlecht geboren und verriet von Kindheit an eine wunderbare Begabung. Sie war eine Seherin; schon in ihrem dritten Jahre war sie von einem innern Gnadenlicht so durchleuchtet, daß ihr Geist unsichtbare und übernatürliche Dinge ebenso klar schaute, wie ihr leibliches Auge die äußern und sichtbaren: ihr selbst fiel dies nicht auf; sie meinte, daß alle Leute diese Gabe hätten, zeichnete sich aber durch besondere Sittenreinheit und Liebe zum Gebet aus. Deshalb übergaben ihre Eltern sie in ihrem achten Jahre der frommen Jutta, Äbtissin der Benediktinerinnen auf dem Disibodenberg, zur Erziehung. Hier lernte sie notdürftig lesen, die Psalmen singen und blieb sonst jeder wissenschaftlichen Bildung fremd. Ihre Gesichte dauerten fort, sie erzählte davon in aller Einfalt und wunderte sich nur darüber, daß Jutta und die Nonnen nie etwas dergleichen sagten. Deshalb schämte sie sich über ihre Geschwätzigkeit und entschloss sich, nichts mehr von ihren Erscheinungen zu plaudern; aber öfters brach sie ihren Vorsatz, wenn das innere Licht gar mächtig leuchtete und die Fülle der Wahrnehmungen, besonders der Weissagungen sie zur Mitteilung drängten; sie beweinte dann bitter ihre Schwäche.
Als sie das erforderliche Alter erreicht hatte, legte sie die Ordensgelübde ab und entwickelte sich zum lieblichen Vorbild in allen klösterlichen Tugenden: in der Liebe, im Stillschweigen, in der Demut, Abtötung und Geduld. Zugleich läuterte Gott sie durch viele und schmerzliche Krankheiten. Nach Jutta `s Tod (1136) fiel die Wahl zur Äbtissin auf Hildegard. Um diese Zeit befahl ihr eine Stimme vom Himmel, daß sie Alles, was sie sehe und höre, aufschreiben solle; aber aus weiblicher Schüchternheit und tiefer Demut unterließ sie es, bis sie von sehr harter Krankheit bedrängt, sich dem Beichtvater ganz offenbarte, der ihr dann strengen Gehorsam gegen die himmlische Stimme auftrug.
Als sie zu schreiben anfing, ward sie plötzlich gesund, was man als eine Bestätigung des göttlichen Willens ansah. Um diese Zeit (1141) geschah an ihr ein seltenes Wunder: ei feuriges, funkelndes Licht, nicht brennend wie eine Flamme, sondern erwärmend wie die Sonne fuhr vom offenen Himmel ihr durch Gehirn und Herz, und sogleich verstand sie die Auslegung der ganzen heiligen Schrift. Ihre ersten Aufzeichnungen wurden dem Bischof von Mainz zur Prüfung vorgelegt, der sie als von Gott eingegeben und aus der wahren Gabe der Weissagung hervor gegangen erklärte, wie solche die alten Prophetinnen Debora, Anna,… besessen haben.
Ihr Hauptwerk „Scivias – Erkenne die Wege des Herrn“ zeigt, daß Gott die Fülle seines Reichtums ihr mitgeteilt hat. Sie durchschaute die Schöpfung wie einen Kristall und den Zusammenhang der äußern Erscheinungen nach ihrem Anfang und Endziel; sie erkannte im allgegenwärtigen Gott Vergangenes und Zukünftiges und das in der Gegenwart Verborgene; sie kannte die Gebrechen ihrer Zeitgenossen, wußte, welche Folgen sie haben, und welche Strafen sie nach sich ziehen würden; und was sie für die Gesamtheit erkannte, das erkannte sie auch für den Einzelnen, Neben der breiten Straße des Abfalles erkannte sie auch den Weg, der zu Gott zurück führt, und machte darauf aufmerksam; sie las in den Seelen derjenigen, die ihren Rat suchten, wie in einem aufgeschlagenen Buche, auch wenn sie sehr weit entfernt und ihr ganz unbekannt waren. Sie schaute diese Geheimnisse nicht im Schlaf, wie die Magnetisierten, welche nach dem Erwachen nichts mehr davon wissen, auch nicht wie die Verzückten, deren äußere Sinne gebunden sind, sondern sie lebte eigentlich in der übernatürlichen Welt ganz frei und zwanglos wie in ihrer wahren Heimat.
Sie hat ihre Sehergabe folgendermaßen beschrieben: „Seit meiner Kindheit schaue ich immer ein Licht in meiner Seele, jedoch nicht mit den äußeren Augen, nicht mit den innern Gedanken, noch mit den fünf Sinnen. Ich vermag an diesem Licht eben so wenig eine Gestalt zu erkennen, als ich die Sonnenscheibe vollkommen anzuschauen vermag; es wird mir genannt „der Schatten des lebendigen Lichtes“. Aus ihm leuchten mir Schriften, Reden, gute und böse Werke der Menschen entgegen. Was ich in diesem Lichte schaue und lerne, bleibt mir lange im Gedächtnis. Was ich sehe, höre und lerne, weiß ich im Nu: was ich nicht schaue, weiß ich auch nicht, weil ich ganz unwissend und ohne Bildung bin. Bei dem, was ich vermöge jenes Lichtes schreibe, brauche ich nur solche Worte, die ich vernehme. Ich vernehme jene Worte auch nicht so, wie sie aus des Menschen Mund tönen, sondern wie eine leuchtende Flamme.“
Der Ruf von Hildegard`s Weisheit und Heiligkeit bewog so viele heilsbegierige Jungfrauen der höheren Stände zum Eintritt in ihr Kloster, daß der Mangel an Platz den Bau eines neuen Hauses notwendig machte. In einem Gesicht wurde ihr der St. Rupertsberg bei Bingen gezeigt, wo sie ein neues, größeres Kloster gründen solle. Die Schwierigkeiten, diesen Platz zu erwerben und das Gebäude aufzuführen, waren von weltlicher und geistlicher Seite sehr groß; aber Hildegard`s Gottvertrauen siegte. Im Jahre 1147 verließ sie mit achtzehn Nonnen den Disibodenberg, wo man ihr schmerzliche Abschiedstränen nachweinte, und ließ sich auf dem St. Rupertsberg nieder, wo sie vom Volk mit Jubel und Psalmen-Gesang in feierlicher Prozession empfangen wurde. Anfangs hatte sie viel mit Not und Armut zu kämpfen; aber ihre ausharrende Geduld trug prächtige Rosen: reichliche Almosen, fromme Stiftungen und der Eintritt zahlreicher adeliger Töchter sicherte den Bestand. Um diese Zeit (1148) hielt Papst Eugen III. ein Konzil zu Trier; der Bischof von Mainz legte ihm die Schriften Hildegard`s zur Prüfung vor. Der Papst interessierte sich angelegentlichst dafür, ordnete mehrere Bischöfe an Hildegard ab, um genaue Kunde über ihre Person und Begabung einzuziehen, las selbst dem Konzil ihre Schriften vor, die von allen Anwesenden, besonders vom hl. Bernhard, wohl dem zuverlässigsten Richter, belobt wurden. Nun schrieb Eugen eigenhändig an Hildegard, die von bösen Zungen als eine Närrin, Heuchlerin, Besessene verschrien worden, und ermunterte sie in dieser Begnadigung demütig zu verharren.
Solche Zeugnisse verbreiteten ihren Ruf und mehrten das Zutrauen zu ihr. Die Päpste Eugen III., Anastasius IV., Hadrian IV., die Kaiser Konrad III. und Friedrich I. schickten Briefe und empfahlen sich ihrem Gebet. Sie antwortete ihnen, tadelte mit dem Freimut eines Propheten ihre Pflicht-Versäumnisse und ermahnte sie zur Besserung. Bischöfe, Fürsten, Äbte, Doktoren, Korporationen legten geistliche und weltliche Angelegenheiten, sogar gelehrte Fragen, ihrem Rat, ihrer Entscheidung vor, und ihre Antworten zeugten von ihrer wunderbaren Einsicht und Klugheit. Aus Frankreich, Belgien und ganz Deutschland kamen Geistliche und Weltliche, Hohe und Niedere, Kranke und Bedrängte in Scharen zu ihr, und sie hatte für Jeden Rat, Trost und Hilfe. Manche, besonders Juden, kamen mit böser Neugier, Argwohn und Spott im Herzen; aber die Seherin entlarvte sie, erschütterte ihre Herzen und bekehrte sehr viele zu gänzlicher Besserung. Sie machte, wenn sie aufgefordert wurde, große Reisen in viele Städte Deutschlands, selbst nach Paris, um die Geistlichkeit und das Volk zur Bekehrung und Frömmigkeit aufzumuntern. Auf diesen Reisen wirkte sie, die selbst ein Wunder war, viele Wunder an Blinden, Kranken und Besessenen. Sie gründete auch das Kloster Eibingen, weil der Zudrang unter ihre Leitung sehr groß war. Schwere Leiden und Sorgen drückten ihre Schultern; aber sie war stets fröhlich und freudig, weil sie es als eine Gnade erkannte, aus Liebe zu Gott leiden zu dürfen.
Ihr an himmlischen Gnaden und durch öffentliches Wirken so großartiges Leben beschloß sie im 81. Altersjahr durch einen schönen Tod, der ein sehr feierliches Begräbnis in der Kirche auf dem Rupertsberg folgte. Als 1632 dieses Kloster von den Schweden zerstört wurde, brachte man ihre Reliquien nach Eibingen, wo ihr Ring aufbewahrt wurde mit der Inschrift: „Ich leide gerne.“ Später wurden ihre Reliquien in der Rochuskapelle verehrt; der Ring ist abhanden gekommen. –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 688-690