Die dogmatische Entwicklung bis zum Ausgang des Mittelalters
Die Scholastik und Mystik (1033 bis 1153) – Anselm von Canterbury und Bernhard von Clairvaux
Damit sind wir dogmengeschichtlich in jene Zeit gekommen, in der infolge der Ausbreitung des Christentums über die ganze Kultur-Menschheit und der wachsenden Autorität der Kirche die Einheit des Glaubens, trotz mancherlei Irrlehren in breiten Volkskreisen, kaum gefährdet wurde. In dieser Zeit konnte sich das selbständige, wissenschaftliche Forschen auf theologischem Gebiet ungestört betätigen. Es entfaltete sich seit dem 11. Jahrhundert in zwei Richtungen, der spekulativen und der kontemplativen Theologie. Die erste, die Scholastik, suchte mit Hilfe der aristotelischen Philosophie den Glaubensgehalt verstandesmäßig zu erfassen, zu durchdringen, zu zergliedern und vernunftgemäß zu erweisen. Dieser dialektischen Methode gegenüber suchte die zweite Richtung, die Mystik, auf dem Weg innerer Betrachtung und geistiger Versenkung in die Tiefen der geoffenbarten Wahrheit durch das Mittel der Selbstentäußerung und innigen Gottesliebe zum Erfassen des Göttlichen zu kommen. Beide Richtungen liefen nicht starr nebeneinander her, sondern begegneten sich in vielem. Die größten Scholastiker waren gleichzeitig Mystiker; und die großen Vertreter der Mystik brachten ihre Schau der Wahrheit auch in wissenschaftlicher Darstellung zum Ausdruck. Beide Richtungen haben in der Erfassung, Erweitung und Entfaltung der göttlichen Wahrheit Außerordentliches geleistet.
Der Vater der Scholastik ist Anselm von Canterbury (1033 bis 1109), von dem Grabmann treffend sagt: „Unter der Devise ‚Fides quaerens intellectum‘ eröffnete St. Anselm das Rittertum des Geistes, d. h. das männlich ernste und kühne, von der Begeisterung des kindlichen Glaubens getragene und von der zartesten Liebe beseelte Ringen nach dem Vollbesitz der christlichen Wahrheit, indem er zunächst, im Anschluss an den heiligen Augustinus, an einigen Hauptdogmen versuchte, in knapper, streng logischer Form eine scharfe und systematische Entwicklung ihres Inhaltes aus ihren inneren Gründen zu geben.“ (1) Dabei pflegte das verstandesmäßige denken bei Anselm in fromme Kontemplation überzugehen. Durch Einführung neuer und klarerer Bezeichnungen über das Verhältnis der göttlichen Personen zueinander (2), durch Klärung der Lehre von der Fortpflanzung der Erbsünde und durch Darlegung der Notwendigkeit einer unendlichen Sühne für die Unendlichkeit der Sündenschuld hat er die dogmatische Entwicklung wesentlich gefördert.
Von Anselm wurde die bedeutendste theologische Schule jener Zeit, St. Viktor bei Paris, beeinflußt, deren hervorragendste Lehrer die Augustiner-Chorherren Hugo und Richard waren. Hugo (1096 bis 1141), ein Sachse aus dem Geschlecht der Grafen von Blankenburg am Harz, „in dessen Brust weltliche Gelehrsamkeit und heilige Wissenschaft, gedankentiefe Scholastik und gottinnige Mystik, der forschungsfreudige Gelehrte, voll von wissensfreudigem Idealismus, und der in Gott versenkte, in sich gekehrte und dem Mitmenschen liebenswürdige Aszet einen schönen Lebensbund geschlossen hatten“ (3), hat die dogmatische Entwicklung in den Fragen über das Wesen des Glaubens, die Wirksamkeit der priesterlichen Absolution im Bußsakrament und die Grundlagen der Mystik gefördert (4). Sein Schüler, der Schotte Viktor († 1173), der, nach Dante, „an Gedankentiefe mehr war als Mensch“ (4), hat durch seine Forschungen über die Kontemplation die mystische Entwicklung außergewöhnlich beeinflußt und Grundlegendes auf den Gebieten der Gottesbeweise und Erkenntnislehre geleistet.
Unter Richards Einfluss stand auch Petrus Lombardus († 1160 als Bischof von Paris), dessen Hauptwerk „Sententiarum libri quattuor“, eine systematische Zusammenfassung der gesamten Theologie, das eigentliche theologische Lehrbuch für das ganze Mittelalter wurde. Er hat fruchtreich als Vermittler der Lehre der Väter, auch des Johannes Damaszenus, gewirkt, reicht aber weder an geistiger Tiefe noch persönlicher Bescheidenheit an die erwähnten großen, mystisch veranlagten Lehrer der Pariser Schule heran. Seine Neigung ging mehr zu Petrus Abaelardus († 1142), der wohl der bedeutendste philosophische Kopf des 12. Jahrhunderts war, aber die Gefahr rationalistischer Zersetzung vom philosophischen Denken her in die Theologie trug.
Diese Gefahr bannte vor allem der einflussreichste Theologe jener Zeit, der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (1090 bis 1153), aus burgundischem Hochadel stammend, erfolgreich in praktischer Wirksamkeit als Ordner in Staat und Kirche, als Kreuzzugs-Prediger und Reformator des Ordens- und Priesterlebens – er schuf von seiner Gründung Clairvaux aus achtundsechzig Klöster und gab dem machtvollen Templerorden die Regel -, ausgezeichnet durch seine umfassende Gelehrsamkeit, bedeutend als scharfer Dialektiker im Kampf gegen Abaelard, hinreißend durch die Glut seiner Beredsamkeit, überragend als tiefsinniger Mystiker, von klarem Geist, reichem Gemüt, intuitiver Schau der Wahrheit, den die Kirche zur Würde eines Kirchenlehrers erhoben, die Theologie seit dem 15. Jahrhundert mit dem Ehrentitel „Doctor mellifluus“ ausgezeichnet hat, der dem suchenden Dante der letzte Führer wurde auf dem Weg zu Gott. Im Himmel empfing ihn Bernhard:
„als Greis
umkleidet mit dem Kleid der Seligen,
Antlitz und Augen voller Güt‘ und Friede,
voll Liebe, wie ein Vater ist zum Kind“,
der schon auf Erden
„durch seine begnadete Beschauung den Himmelsfrieden kostete“,
und dessen Einfluss – nach Dante – selbst im Himmel so groß ist, daß er dem Dichter-Theologen die Versicherung geben konnte:
„Es wird die Himmelskönigin, für die ich glühe
in Liebesfeuer, jede Gnad‘ Dir schenken,
weil ich Bernardus bin, ihr treuer Freund.“ (6)
Bernhard hat den Grundsatz Anselms „Credo, ut intelligam“ – „Ich glaube, um die Wahrheit zu erkennen“ vertieft durch seinen Grundsatz „Credo, ut experiar“ – „ich glaube, um die Wahrheit innerlich zu erleben“. Er ist der Vater der Christusmystik, der das Verhältnis Christi zur Seele gedankentief dargestellt und einen außergewöhnlichen Einfluss auf die Entwicklung der mystischen Theologie und dadurch auf die Entfaltung der Glaubenserkenntnis überhaupt ausgeübt hat.
(1) M. Grabmann, Die Geschichte der katholischen Theologie seit dem Ausgang der Väterzeit (1933), 30.
(2) Bes. der termini „principium“ (statt causa) und „relatio“.Anselms Werke bei Migne PL 158 und 159.
(3) Grabmann, a.a.O., 36.
(4) Seit Hugo und Petr. Lombardus wurde auf Grund eines dogmatisch immer mehr geläuterten Sakramentsbegriffs auch die Siebenzahl der Sakramente aus der Zahl heiliger Handlungen klarer heraus geschält und gelehrt, daß nur diese sieben von Christus als Sakramente eingesetzt sind und sakramental wirken. Die Festlegung erfolgte auf Grund der Bibel und Tradition; auch die von der Katholischen Kirche getrennte Orthodoxe Kirche wie die in ganz frühen Jahrhunderten abgespalteten nestorianischen und monophysitischen Kirchen des Orients erkennen die sieben Sakramente der Katholischen Kirche an. Diese sieben Sakramente waren von Anfang des Christentums in Gebrauch, aber von anderen heiligen Handlungen nicht klar geschieden.
(5) Dante, Par. X, 132.
(6) Dante, Par., 31, 61-63 und 100-102. –
aus: Konrad Algermissen, Konfessionskunde, 1939, S. 255 – S. 258