Die dogmatische Entwicklung bis zum Ausgang des Mittelalters
Die großen Orden der Dominikaner und Franziskaner
Am Anfang des 13. Jahrhunderts entstand die Universität Paris als Mittelpunkt der scholastisch-theologischen Studien und blühte die Universität zu Oxford in England auf. Fast zur gleichen Zeit traten die beiden großen Orden der Dominikaner und Franziskaner ins Leben und wurden durch Übersetzungen aus dem Griechischen und Arabischen das gesamte Schrifttum des Aristoteles, des gelehrtesten der altgriechischen Philosophen, und die Geistesarbeit der arabisch-jüdischen und neuplatonischen Philosophie im Abendland bekannt. Diese Elemente wirkten zusammen, daß die theologische Entwicklung auf der Grundlage des im 12. Jahrhundert Erreichten zu ihrer höchsten Blüte empor stieg. Die beiden neuen Orden übertrafen einer den anderen im Schaffen überragender Werke der Theologie.
Die franziskanische Schule
Unter den Söhnen des heiligen Franziskus ragten hervor der Engländer Alexander von Hales († 1245), der Doctor irrefragabilis, der Begründer der Franziskanerschule, der als erster die Philosophie des Aristoteles in die wissenschaftliche Durchdringung des Glaubensgehaltes einführte und die syllogistische Methode systematisch zur Anwendung brachte. Sein Landsmann und Ordensgenosse, der kritische Roger Bacon († um 1295), ergänzte die scholastische Methode durch Verwertung biblischer, philologischer und naturwissenschaftlicher Studien, während der größte Theologe des Franziskanerordens, der Italiener Bonaventura (1221 bis 1274), der „Fürst unter den Mystikern“ (Leo XIII.) als Doctor Seraphicus die theologische Wissenschaft mit dem Liebesfeuer seiner Seele durchglühte und der scharfsinnige Schotte Duns Scotus († 1308), der Doctor subtilis, das Haupt der Franziskanerschule, die unendliche Liebe Gottes zum Zentralpunkt seines theologischen Forschens machte, die Menschwerdung als unabhängig von Sündenfall und Erbsünde deutete und sich durch seine Begründung der Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens den Ehrentitel eines Doctor Marianus erwarb.
Die Schule der Dominikaner
Die franziskanische Schule neigte in der Art ihrer Arbeit mehr zu Plato und Augustinus als zu Aristoteles, rückte die Bedeutung des Willens gegenüber dem Intellekt in den Vordergrund und faßte die Theologie stärker von der praktischen Seite. Ihr gegenüber betonte die Schule der Dominikaner, auf Aristoteles gestützt, den Primat des Intellekts. Beide rangen in edlem Wettstreit um eine immer tiefere Erkenntnis der Glaubenswahrheit und ergänzten sich in schönster Weise.
Gleichzeitig mit dem Franziskaner Alexander von Hales wirkte der Dominikaner Albertus Magnus (1193 bis 1280), einer der größten Deutschen, aus der adeligen Familie der Bollstädter, der Doctor universalis, der an Umfang seines philosophischen, naturwissenschaftlichen und theologischen Wissens sämtliche Zeitgenossen überragte, die soeben erschlossene griechische und arabisch-jüdische Literatur vollkommen beherrschte und die Lehren von der Trinität und der Gottesmutter durch selbständige Forschungen befruchtete. „Die von ihm ausgehende neuplatonische Richtung in der deutschen Theologie ist der Heimatboden der deutschen Mystik.“ (1)
In der Ausgeglichenheit des Denkens, der Reinheit und Tiefe der Spekulation und der Vollkommenheit der Form überragte ihn noch sein Schüler, Thomas von Aquin (1225 bis 1275), der Fürst der Scholastik, der den höchsten Ehrentitel der Wissenschaft trägt, den Titel „Doctor Angelicus“, der engelgleiche Lehrer. „Er ist für die Scholastik, was Augustin unter den Vätern, vor allen übrigen Scholastikern ausgezeichnet, wie durch Kenntnis der Schrift und Tradition, Tiefe, Reichtum, Wahrheit und Klarheit der Ideen, Vollendung der Methode und des Ausdruckes, so auch durch die Vielseitigkeit und den Umfang der theologischen Leistungen, da er über alles und in all den Formen geschrieben hat, worüber und worin die übrigen einzeln gearbeitet.
Mit genialer spekulativer Begabung und logischer Architektonik verbindet Thomas ausgesprochenen Sinn für positive Studien. Eine ganz auf das Sachliche eingestellte, überall einzig die Wahrheit suchende, im schönsten Sinn unpersönliche Art des Forschens und Arbeitens breitet über sein Schriftttum wohltuende Ruhe und Abgeklärtheit aus. Unaufdringlich und doch auch mit ergreifender Wärme macht sich in seinen Werken ein mystischer Zug geltend, Licht- undWärmestrahlen aus seinem Gott hingegebenen Seelenleben, einem Seelenleben voll Weisheit, Frieden und Liebe“ (2), so kennzeichnet der beste Kenner der Scholastik die Bedeutung des Aquinaten. Thomas vollendete in der Verbindung der christlichen Ideenwelt mit den Geistesarbeiten des Aristoteles jene geistigen Bau, dessen Fundamente Augustinus in der Synthese zwischen Christentum und der Gedankenwelt Platos in gewaltigen Quadern gelegt hatte. Über seine Bedeutung bemerkt mit Recht ein Kenner der mittelalterlichen Geisteswelt: „Zwischen langer Sehnsuchtszeit und langer Zersetzung liegt ein Augenblick der Erfüllung. Auf diesem schmalen Gipfelgrat steht die monumentale Gestalt des Thomas.“ (3)
Thomas hat in seiner „Summa theologica“, seiner „Summa contra gentiles“, seinem „Quaestiones“, seinen exegetischen Werken und zahlreichen kleineren Schriften in der Durchdringung der Glaubenswahrheiten mit der philosophischen Gedankenwelt des Aristoteles die Erkenntnis der verschiedenen dogmatischen Lehren befruchtet und wissenschaftlich vertieft. Er hat im christlichen Gottesbegriff die Hervorgänge der göttlichen Personen in den Vordergrund gestellt, die durch die hypostatische Vereinigung der Naturen bedingte Einheit in Christus, gleichzeitig aber auch die Eigenart seines menschlichen Seins und Wirkens schärfer gezeichnet, die von Anselm begründete Sühnetheorie des Opferleidens Christi unterbaut, das Wesen der Gnade und ihr Verhältnis zur Natur klarer heraus gearbeitet und über die Wirkungsart der Sakramente und die Anschauung Gottes seitens der Seligen im Himmel Aufschlüsse gegeben, wie sie nur unter dem Einfluss göttlicher Erleuchtung und der Vereinigung von Gebet und Studium, Forschung und Betrachtung erwachsen können.
Im Gefolge dieser ganz großen Geister aus den verschiedenen Ländern der Kirche zog ein Heer von Gottesgelehrten, die, gestützt auf deren Werke, den Inhalt des Glaubens immer tiefer durchleuchteten und sein Verständnis weiten Kreisen vermittelten. Besonders trug „die Polarisierung der thomistischen Theologie durch die deutsche Mystik eine Vertiefung des religiösen Lebens in weitere Kreise“. (4) Das 13. Jahrhundert stellt nicht nur eine der glänzendsten Perioden der Kulturgeschichte aller Zeiten dar, sondern bildet auch den Höhepunkt der kirchlichen Wissenschaft.
(1) Grabmann, a.a.O., 74.
(2) ebd., 75f.
(3) P. L. Landsberg, Die Welt des Mittelalters und wir (1925), 61.
(4) R. Seeberg, Gr. d. D. G., 113. –
aus: Konrad Algermissen, Konfessionskunde, 1939, S. 258 – S. 260