Zum Entwicklungsgang der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis Mariä
Die Erklärung des Franziskaners Duns Scotus
Die religiösen Orden der Kirche haben die Marienverehrung nicht nur in tausend sinnigen und innigen Weisen innerhalb der Mauern ihrer Klöster gepflegt und daraus wunderbare Früchte der Heiligung für sich und die Gläubigen, mit denen sie ihr Beruf in Berührung brachte, erzielt, nein sie haben auch mit den schneidigen Waffen des Wortes Gottes und der Wissenschaft die Ehre der Gottesmutter verteidigt, und, wo Gottes Ruf an sie erging, mächtig eingegriffen in die Bewegung der Geister, die der weitere Entwicklungsgang der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis Mariä in der Kirche hervorrief.
Eine ganz hervorragende Stelle war in Bezug auf diese weitere Entwicklung des Dogmas der Unbefleckten Empfängnis Mariä von der göttlichen Vorsehung diesen großen Orden und unter ihnen besonders dem Franziskaner-Orden zugewiesen, allen voran dem große Duns Scotus dem sogenannten Doctor subtilis, wie ihn die Geschichte nennt, der mit einer ganz seltenen Frömmigkeit und Heiligkeit eine geradezu stupende Gelehrsamkeit und eine solche Schärfe des Geistes verband, daß er nach dem Urteil aller Sachverständigen unstreitig zu den hervorragendsten Vertretern der alten Scholastik gehört.
Johannes Duns, von seiner Heimat im südlichen Schottland Scotus, der Schotte, genannt, war im Jahre 1265 zu Dunston in Northumberland geboren, trat in Newcastle in den Franziskanerorden ein und ward bald an das neue Mertons-Kollege zu Oxford behufs seiner Studien gesandt. Sein Lehrer war dort der berühmte William de Warra, ein eifriger Verehrer der Mutter Gottes und Verteidiger des Festes ihrer Unbefleckten Empfängnis. Zum Doktor graduiert, ward er bald an die Pariser Universität, die damals den großen Mittelpunkt der Gelehrsamkeit bildete, geschickt; dort blieb er sieben Jahre, mit Gebet, Studium und Lehren beschäftigt…
… die Pelagianer leugneten mit der übernatürlichen Gnade auch die Erbsünde, und im Kampf gegen diese Häresie wurde natürlich die Lehre des heiligen Paulus von der Wirklichkeit und Allgemeinheit der Erbsünde von der Verteidigern der katholischen Lehre als entscheidendes Argument betont. Der heilige Paulus spricht nichts von einer Ausnahme irgend eines Menschen vom Gesetz der Erbsünde. Und so musste also das Dogma von der Erbsünde und der Allgemeinheit der Erbsünde mit der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis Mariä, die sich offenbar als eine Ausnahme vom Gesetz der Sünde herausstellt, im Einklang gebracht werden. Dazu kam noch, daß man sich von dem Sinn dieses Vorrechtes der Unbefleckten Empfängnis damals noch nicht allgemein jene geklärte Vorstellung machte, wie sie durch die scharfsinnigen Unterscheidungen des Duns Scotus angebahnt wurde. Man hatte in der Bestimmung des Begriffes mehr die Eltern der seligsten Jungfrau im Auge, als die seligste Jungfrau selbst im ersten Augenblick ihres persönlichen Daseins.
Mahnung des hl. Bernhard
Und so geschah das, was wir in der Geschichte der Dogmen oft wahrzunehmen Gelegenheit haben, es trat auf Grund auftauchender Schwierigkeiten, und weil die reiche Tradition des Orients und die Lehre der Kirche damals im Abendland, die römische Kirche ausgenommen, einigermaßen in Vergessenheit gekommen war, ein Schwanken der Geister ein, das nur eines Anlasses bedurfte, um eine Opposition innerhalb der Kirche ins Leben zu rufen, – es ist das die Phase zeitweiliger Verdunkelung des Dogmas.
Den Anlass zum Streit bot die Festfeier der Unbefleckten Empfängnis in Lyon. Im Abendland gelangte dieses Fest außer in Neapel und Sizilien, wohin es durch die Verbindung mit dem Orient früher gekommen war, erst im XI. Jahrhundert in Aufnahme. Und so kam es, daß, als die Lyoner Domherren 1140 zu Ehren der Empfängnis Mariä eine Festfeier veranstalten wollten, der heilige Bernhard, der ebenso sehr in Eifer für die katholische Wahrheit, wie für die kirchliche Autorität glühte, seine warnende Stimme erhob, man möge doch bevor die Kirche gesprochen, nicht eine derartige Festfeier veranstalten, „deren Gegenstand“, wie er sagte, „noch nicht völlig klar und sicher sei“.
Damit war der heilige Bernhard nach seiner tiefsten Überzeugung vollends im Recht und bewirkte mit seiner Mahnung zur Vorsicht gerade das, was er nach den Absichten Gottes für die weitere Entwicklung des Dogmas zu wirken bestimmt war, nämlich die ganz genaue Präzisierung des Inhalts des Dogmas gegenüber einer unrichtigen Auffassung desselben, wie sie damals von manchen Gelehrten und Theologen festgehalten worden. Der Verbreitung des Festes hat die Warnung des Heiligen wenig Eintrag getan, noch viel weniger dem Eifer, mit welchem allenthalben die Gläubigen die unbefleckte Gottesmutter verehrten. Wie der heilige Bernhard trotz seiner Mahnung zur Vorsicht im Prinzip über die kirchliche Lehre selbst dachte, das spricht er klar und deutlich in demselben berühmten Brief an die Lyoner Domherren aus, wo er sagt: „Was ich hier ausgeführt habe, soll ohne irgend ein Präjudiz zu Ungunsten eines Weiseren gesagt sein. Insonderheit stelle ich alles dies wie auch alles übrige hier Einschlägige der Autorität und Prüfung der römischen Kirche anheim, bereit, mich, falls ich von ihr in irgend einem Punkt abweiche, durch ihr Urteil verbessern zu lassen.“
So spricht ein treuer Sohn der Kirche, so jener Heilige, der mit seinem Geist sein Jahrhundert beherrschte. Wie beschämend für die heutige Gesellschaft, die ohne Heiligkeit und ohne theologisches Wissen, beinahe hätte ich gesagt, ohne die Fähigkeit logisch zu denken, über Kirche und die erhabensten, subtilsten Lehren der Kirche so rasch, so leichtfertig aburteilt!
Duns Scotus Erklärung
So war also in der Gelehrtenwelt, in der theologischen Wissenschaft die Frage über die Unbefleckte Empfängnis Mariä aufgerollt und nahm nun den verlauf, den ein wissenschaftlicher Streit in solchen Fällen gewöhnlich nimmt; auf beiden Seiten wurden mit allem Scharfsinn die Gründe geltend gemacht, die für die eine oder die andere Ansicht zu sprechen schienen; und während das von den hervorragendsten Geistern beiderseits mit jener Ruhe und Mäßigung geschah, die dem wahren Forscher meist und dem Heiligen immer eigen ist, fanden sich immerhin auch manche, welche in der Hitze des Streites und in der Voreingenommenheit für ihre eigene Ansicht die ruhige Fassung verloren und nicht immer ganz wissenschaftliche Gründe, Urteile und Äußerungen ins Feld führten. Zu dieser Art von Kämpfern gehörten aber weder ein heiliger Thomas von Aquin, noch der ehrwürdige Duns Scotus, der, wie gesagt, berufen war, Licht in die Sache zu bringen. Beiden galt die Wahrheit und die Ehre Gottes und der seligsten Jungfrau als das einzige Ziel, wofür sie mit der ganzen Kraft ihrer Überzeugung ihre Gründe oder Gegengründe geltend machten.
In diesem bedeutsamen Austausch der Meinungen und Gründe, an dem die größten Geister der damaligen Zeit teilnahmen, hat nun, wie gesagt, der gelehrte Franziskaner das rechte Wort gefunden, das die kirchliche Lehre von der Unbefleckten Empfängnis mit dem scheinbar widersprechenden Dogma von der Allgemeinheit der Erbsünde in Einklang brachte und zugleich den Inhalt des Dogmas gegenüber gewissen falschen Auffassungen und Deutungen desselben zur vollständigen Klärung brachte.
In Bezug auf die dogmatische Wahrheit, daß alle Menschen der Erlösung bedürftig und von Christus dem Herrn wirklich erlöst worden, wies der scharfsinnige Theologe nach, daß die vollkommenste Art der Erlösung offenbar darin besteht, eine Seele von der Erbsünde gänzlich zu bewahren, womit sie sonst nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge behaftet gewesen wäre; und da eine derartige vollkommene Erlösung bei der Mutter des Herrn ganz und gar am Platz gewesen, so hat sie auch wirklich stattgefunden: Potuit, decuit; ergo fecit; Gott konnte es, es war angezeigt, daß er es tat, also hat er es wirklich getan. Dahin zielen auch die meisten Aussprüche der Heiligen Väter.
… Duns Scotus stellt fest, daß der recht verstandene Begriff der Empfängnis alles aus dem Spiel lasse, was mehr die Eltern der Gottesmutter als Maria selbst angeht, und daß wir uns unter dem heiligen Geheimnis der Unbefleckten Empfängnis nichts anderes zu denken haben, als daß die Person der seligsten Jungfrau im ersten Augenblick ihres Lebens, im Augenblick, wo ihre Seele sozusagen von ihrem Leib Besitz ergriff, durch die Erlösungs-Gnade Jesu Christi bereits geheiligt und daher von der Erbsünde unberührt geblieben war…
Mit dieser doppelten, klaren und scharfsinnigen Unterscheidung war auch in der Tat jedes Missverständnis, aber auch jeder Grund einer Einwendung weggeräumt. –
aus: Alois Jos. Schweykart SJ, Die Verehrung der Unbefleckten Empfängnis Mariä in der Geschichte der Kirche, 1905, S. 83 – S. 88