Die Irrtümer der modernen Welt
Teilung und Zersplitterung der Wahrheit
Christus hat, indem er der ungläubigen Welt von Neuem die Einheit Gottes, die Einheit des menschlichen Geschlechtes und die Einheit der Erlösung offenbarte, uns gezeigt, daß alle Verirrungen der alten Welt, zusammen gefaßt in der Abgötterei, dieser großen Häresie der Uroffenbarung, immer, unter verschiedenen Beziehungen, das Resultat einer Teilung oder Verstümmelung der Wahrheit waren.
Er ist es auch, oder sein, gemäß seiner Verheißung, immer lebendiges Wort ist es, welches uns in allen Irrtümern der neuen Welt denselben Geist der Teilung und Zersplitterung zeigt, der in der verschiedensten Weise die Einheit der Offenbarung und die Offenbarung der Einheit angreift.
Das Judentum zuerst ist nichts Anderes als die Trennung oder Teilung des alten und neuen Bundes, des alten und neuen Testamentes, deren Harmonie Jesus Christus ist. Das neue Judentum ist nicht mehr der Mosaismus. Ich leide um der Verheißung willen, die unseren Vätern gegeben worden (Act. 26, 6), sprach der heil. Paulus, als er den Juden die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten in Jesus Christus verkündigte.
Die ersten christlichen Häresien waren orientalischen Ursprunges. Sie versuchten es, die Teilung in die göttliche Natur selbst hinein zu tragen, durch die Lehre von den zwei ewigen Prinzipien und von den Emanationen. Von daher rührt der Manichäismus und überhaupt der Gnostizismus, unter welchem allgemeinen Namen man die Irrtümer dieser ersten Zeiten begreift. Dann kommt der Arianismus und der Macedonianismus, welche die unteilbare Dreieinigkeit zu teilen strebten, jener durch die Leugnung der Konsubstantialität (Anm.: Wesensgleichheit) des Wortes mit dem Vater, dieser durch die Leugnung der Konsubstantialität des heiligen Geistes.
Nach den Häresien, welche die Einheit Gottes und die Wesenseinheit des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes angriffen, trat der Nestorianismus auf, der Christus teilen wollte, indem er die persönliche Einheit desselben in seinen beiden Naturen, der göttlichen und der menschlichen, leugnete. – Der Eutychianismus, welcher die Naturen vermischen wollte, zerriß nicht minder das Band ihrer Einigung in der Person des Wortes.
Nachdem der Geist der Teilung in seinen Angriffen gegen Gott und seinen Gesalbten besiegt war, erneuerte er seinen Angriff und versuchte wenigstens die Gaben Gottes zu teilen. Wir haben vom Himmel die Freiheit und die Gnade erhalten.
Pelagius leugnete, um erstere zu verteidigen, die Notwendigkeit de anderen, und seine Schüler setzten unter verschiedenen Namen diesen Krieg fort, indem sie mehr als einmal ihre Pläne änderten, und ihre Waffen wechselten.
Die Feinde der Gnade waren kaum besiegt, als ein neuer Kampf bezüglich des Kultus sich entspann (später haben andere Häresien die Freiheit im Namen der Gnade geleugnet.) Durch den Kultus nahen wir uns Gott, und eben durch denselben kommt auch Gott zu uns und teilt uns seine Gaben in einer unserer Doppel-Natur entsprechenden Weise mit. Der Mensch ist kraft seiner Schöpfung gewissermaßen ein inkarnierter Geist, weil Gott in uns Leib und Seele in einer und derselben Natur, der menschlichen Natur, persönlich geeinigt hat. (Es ist klar, in welchem Sinne man den Menschen einen inkarnierten Geist nennen kann, nämlich nicht in dem Sinne einer Präexistenz der Seele.)
Deshalb will uns auch Gott seine geistigen Gaben auf eine sinnliche Weise gewähren. Die ewige Wahrheit kommt zu uns unter dem Schleier des Wortes, und das göttliche Wort, das es nicht verschmäht auf unsere Seele durch ein tönendes Bild, das in unseren Ohren klingt, zu wirken, liebt es auch noch durch andere Bilder zu unseren Augen zu sprechen.
Der Geist der Lüge verwarf die Schrift, welche alle Menschen verstehen, und welche durch die Bilder des Kreuzes, der Mutter unseres Herrn Jesu Christi, der Apostel, der Märtyrer, der Jungfrauen in einer so kräftigen Weise die großen Wahrheiten des Christentums predigten und alle Gefühle des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe, der Buße und des vertrauensvollen Gebetes einflößten. Ebenso sehr als die Götzenbilder die Seelen von Gott entfernten, ebenso sehr brachten die heiligen Bilder sie wieder Gott näher durch die Erinnerung an seine Wohltaten und durch die Anschauung der großen Vorbilder in allen christlichen Tugenden. Die Bilderstürmer wollten die Wahrheit ohne Bilder und zerteilten mit Gewalt, was der Urheber unserer Natur aus Liebe zu uns vereinigt hatte.
Um diese Zeit trat der Muhamedanismus auf. Er behauptete, sich zugleich auf die Ur- und patriarchalische Offenbarung, auf die mosaische Offenbarung und auf die christliche Offenbarung zu stützen; in der Wirklichkeit aber zerriß er alle drei, indem er die Erlösung nicht erkannte, welche aus diesen drei Offenbarungen nur eine einzige macht. In Jesus Christus verheißen, verkündigt, erwartet, erfüllt, ist die Erlösung die Seele der wahren Religion. Christus ist es, der lebt in allen Jahrhunderten: Heri, hodie et in saecula. (Hebr. 1, 8: Gestern, heute und in Ewigkeit.)
Diese große Einheit ist es, welche der Islam angreift. Eine mächtige, jüdisch-arianische Sekte und zu gleicher Zeit eine ganz sensualistische, naturalistische und, weil sie den Fall und die Wiedergeburt des menschlichen Geschlechtes leugnet, mit dem modernen Deismus sehr übereinstimmende Lehre, war sie lange Zeit die Seele des großen antichristlichen Reiches, das in unseren Tagen zerfällt, und sie könnte wohl noch ihren Anteil beitragen, um dasselbe später unter neuen Bedingungen wieder herzustellen.
Der Islam ist in Wirklichkeit nicht das ottomanische Reich. Während dieses sich auflöst, gewinnt jener Mittelafrika und Mittelasien und versteht es bis in den Okzident hinein große rationalistische Stimmen zu finden, welche den Propheten preisen und im Verein mit ihm die große Einheit des Glaubens bekämpfen im Namen einer andern Einheit, welche sie eine erhabenere nennen, welche aber nichts anderes ist, als die gänzliche Leugnung jeglicher Wahrheit, wie wir schon gesehen haben.
Die einzige große Häresie des Mittelalters, die der Albigenser, erneuerte den Manichäismus und behandelte überhaupt mit Verachtung und Wut die Sakramente Jesu Christi, diese sichtbaren Zeichen der Gnade, welche sie zugleich mitteilen und andeuten.
Endlich vereinigte der Geist der Trennung und Zersplitterung alle seine Kräfte, um durch die letzte der Häresien Alles das, was Gott in seiner Kirche, in diesem lebendigen Gebäude der gesamten Offenbarung geeinigt hat, zu trennen. Der Glaube rettet uns, aber durch die Liebe, welche er uns einflößt; der Protestantismus aber trennt durch den weithin schallenden Ruf seiner Patriarchen den Glauben von der Liebe und erklärt den Glauben ohne die guten Werke für hinreichend, um uns Anteil nehmen zu lassen an den Früchten der Erlösung.
Die Hoffnung stützt sich im Gebet auf die Verdienste Jesu Christi, aber Jesus Christus selbst will, daß wir uns ihm nahen, von Herzen vereinigt mit unseren Brüdern im Himmel und auf der Erde, mit den Heiligen und Engeln, die vor uns triumphiert haben, und insbesondere mit dem großen Vorbild der Hoffnung und des Gebetes, mit der Mutter des wieder geborenen menschlichen Geschlechtes, mit Maria, von welcher geboren ward Jesus (Matth. 1, 16). Diese lebendige Einheit, diese Gemeinschaft der Heiligen (Symb. Apost.), welche die Apostel auf der ganzen Erde gepredigt haben, welche in allen Jahrhunderten geglaubt und geübt wurde, welche sich eingegraben findet, auf den Steinen der Katakomben und auf allen Denkmälern der apostolischen Kirchen, der Protestantismus leugnet sie, verlangt gedankenlos, daß man sie ihm in der Bibel (*) aufzeige, und will, daß die streitende Kirche nicht sprechen könne zur triumphierenden Kirche, daß sie nicht laut genug seufzen könne, um in dem Himmel gehört zu werden, als wenn es für die Stimme des Herzens und der Tränen Entfernungen gäbe, und als wenn nicht das Stillschweigen schon zu den Geistern spräche.
Die göttliche Liebe trennt der Protestantismus von dem Kultus, der ihr göttlicher Ausdruck ist, zumal in der Eucharistie, die das Herz des Christentums bildet; die Gnade trennt er von den Sakramenten, welche ihre Kanäle sind; das Eine Opfer der Erlösung trennt er von seiner fortwährenden Darbringung auf den Altären des neuen Testamentes; die weltumfassende Gesellschaft, welche Jesus Christus gegründet hat, trennt er von der Autorität, die ihr Christus selbst als Grundlage gegeben hat; das geschriebene Wort trennt er von der lebendigen Überlieferung, welche deren Ursprung gezeugt und deren Sinn uns aufschließt; und er zertrennt diese Schrift selbst, indem er ihre Stellen auseinander reißt und so ihren Zusammenhang und ihre Einheit, d. h. Ihre Wahrheit zerstört nach dem Beispiel desjenigen, der Christum selbst durch die Bibel bekämpfte bei der Versuchung in der Wüste.
Der Irrtum ist nach allem Diesem meistens nur ein Bruchstück der Wahrheit. Der reine Irrtum würde nie verführen. Er verführt die große Mehrzahl nur durch die Überreste der Wahrheit, welche er verstümmelt. Aber wir haben eben gesehen, daß diese Verstümmelung ihre Geschichte hat, und daß der Plan, welchen sie ausführt, einen Geist von staunenswerter Konsequenz verrät. Sollten die Urheber der Häresien in Zwischenräumen von langen Jahrhunderten im Einverständnis mit einander gehandelt haben? Nein, sondern sie haben einen Vater, den Vater der Lüge. Es existiert in Wahrheit eine solche Verkettung unter den Häresien, welche von Jahrhundert zu Jahrhundert auf einander gefolgt sind, daß man blind sein müßte, um hier nicht das Werk eines und desselben Gedankens, die zusammen hängende Arbeit eines listigen und mächtigen Gegners zu erkennen. Was wir hier sagen, wird, das wissen wir wohl, mehr als ein Lächeln hervorrufen, allein das wissen wir auch, daß dieses nicht das Lächeln der wahren Wissenschaft ist. Die wahre Wissenschaft stimmt hierin, wie immer, ganz überein mit der christlichen Offenbarung, welcher die Philosophien des Orients, Griechenlands und Roms in diesem Punkt dasselbe Zeugnis ablegen, wie die allgemeinen Traditionen. Es gibt noch andere Geister, als der menschliche Geist; dies ist der Glaube aller Zeiten und aller Völker. Die Engel sind unsere älteren Brüder bezüglich der Prüfung, der Treue und der Untreue, und wer immer die Wirklichkeit der Beziehungen zwischen den Menschen und diesen unsichtbaren, treuen oder abgefallenen Mächten verkennt, ignoriert eines der Elemente der Weltgeschichte, weil er eine der mächtigsten Triebkräfte in dem großen Kampf der Ideen und Leidenschaften, woraus alle andere Kämpfe entspringen, ignoriert. Der Vater aller Irrtümer hat sie alle, wie wir eben gesehen, durch die Verstümmelung und Spaltung der Wahrheit hervor gebracht. Dieses große Werk der Trennung und Verneinung vollendet er im radikalen Protestantismus oder dem Rationalismus. Der Rationalismus vollendet wirklich die Trennung zwischen Vernunft und Glauben, zwischen Natur und Gnade, sogar zwischen Gott und dem Menschen, nicht allein in dem Atheismus, welcher Gott leugnet, oder in dem Pantheismus, welcher ihn mit dem Menschen und der Welt identifiziert, was auf dasselbe hinaus kommt, sondern auch in dem Deismus oder dem Naturalismus, welcher das Band zwischen Gott und dem Menschen zerreißt, und behauptet, die Religion sei nur ein einfaches Aufseufzen der Menschheit zu Gott, ohne daß der taube und stumme Gott jemals darauf geantwortet habe.
Der letzte Irrtum kehrt so wieder zu dem ersten zurück, denn der Gott des Rationalismus ist nicht der lebendige und persönliche Gott, sondern die vergötterte Natur, die vergötterte Welt und die vergötterte Menschheit.
Die Logik treibt den Deisten unwiderstehlich zum Pantheismus, und der Pantheismus, was ist er anders, als das philosophische Heidentum? Allein es ist klar, daß dieses philosophische Heidentum nicht auf die Dauer über die Geister herrschen könnte ohne auch mehr und mehr den populären Götzendienst zurück zu führen und damit auch den ganzen Zustand der antiken Staaten, den Kultus der Welt und der erschaffenen Geister, die Vergötterung des Staates, die Vermischung der beiden Gewalten, die Sklaverei, die Entwürdigung des Weibes, die Vernichtung der Werke und Institutionen jener göttlichen Menschenliebe, die am Fuße des Kreuzes geboren worden ist. Haben wir ja schon oben den beginn dieser Rückkehr des sozialen Heidentums konstatiert, und es würde unfehlbar zu dessen vollständiger Verwirklichung kommen, wenn nicht die unzerstörbare Wirklichkeit des Christentums ein Hindernis dagegen wäre.
(*) Die Bibel sagt, daß man sich im Himmel freut über die Bekehrung der Sünder (Luk. 15, 7). Sie sagt auch von den auserwählten, daß sie wie die Engel im Himmel sein werden (Matth. 22, 30). Sie sagt ferner, daß Jeremias nach seinem Tode betete für das Volk Israel (2. Mach. 15, 14). Man weiß also im Himmel, was auf der Erde vorgeht; man betet daselbst für die, welche sich auf der Pilgerfahrt des Lebens befinden; und während wir, so lange wir als Pilger in dieser Welt wandeln, für einander beten und und uns wechselseitig in unsre Gebete empfehlen müssen, wie es uns die Bibel an hundert verschiedenen Stellen sagt, und wie es uns die Apostel durch ihr Beispiel lehren, sollten wir uns nicht unseren uns liebenden Brüdern im Himmel anempfehlen können! – Zeigt uns das in der Bibel, antworten uns mit einer unzerstörbaren Ruhe die Protestanten. Allein mögen sie uns in der Bibel so viele Dinge zeigen, welche sie noch mit uns glauben und welche nicht darin enthalten sind: zum Beispiel die Taufe der kleinen Kinder und die Feier des sonntags, um nur zwei Punkte anzuführen, in welchen sie dem ursprünglichen Glauben treu bleiben trotz ihres unhaltbaren Prinzips: Nichts als die Bibel!
Ist die Bibel also die ganze Religion? Das hieße soviel, als im Angesicht eines Gebäudes behaupten, man finde dasselbe nur in seinem Grundriß. Und dann, steht Alles in der Bibel geschrieben? Offenbar nein; die Bibel selbst bestätigt, daß der Glaube die Frucht der lebendigen Predigt ist; daß nicht Alles geschrieben worden ist; daß man die Tradition, wie die Schrift beobachten muß; daß das Apostolat immer fort dauert; daß Jesus Christus mit der lehrenden Kirche ist bis zum Ende der Zeiten; und daß die Kirche also für alle Zeiten die unerschütterliche Stütze der Wahrheit ist. (Matth. 28, 19. 20.) – Joh. 21, 25. – 2. Thess. 2, 14. – 2. Tim. 3, 15.) War der Glaube nicht unter den Nationen verbreitet, ehe die Evangelien nieder geschrieben waren? Waren die Völker nicht christlich, ehe sie eine einzige Zeile des neuen Testamentes in ihrer eigenen Sprache gelesen hatten? – Offenbar, wenn das Prinzip des Protestantismus das wahre wäre, so hätte unser Herr Jesus Christus, anstatt dem Apostolat seinen Beistand zu versprechen, die Buchdruckerei erfinden und die Bibelgesellschaft gründen müssen. – Die protestantische Behauptung ist wahrhaft ein Spott auf die Geschichte und die gesunde Vernunft.
aus: Victor Dechamps, aus der Gesellschaft des allerheiligsten Erlösers: Christus und die Antichristen nach dem Zeugnisse der Schrift, der Geschichte und des Gewissens, 1859, S. 228-236