Die Aszese des göttlichen Heilandes
Die Lehre der christlichen Entsagung oder Abtötung
Das ist die Lehre der christlichen Abtötung. Sie ist, richtig aufgefaßt und verstanden, sowohl im Wesen des Christentums als auch unserer edlen vernünftigen Natur begründet. Wer ein Christ und ein edler Mensch sein will, muss sich Gewalt antun und sich überwinden. Selbst die freiwillige Abtötung, die verschrieene Selbstpeinigung der Heiligen ist in ihrer Art gerechtfertigt durch die Grundsätze des Glaubens und des Christentums. Es sind namentlich drei Wahrheiten des Glaubens, auf denen die Begründung ruht.
Die erste Wahrheit ist der Sündenfall. Wir sind nicht mehr, was wir waren und nach der ursprünglichen Absicht Gottes sein sollten. Das Sündenverderben in uns bezeugt unsern Fall und sagt uns täglich, wozu wir fähig sind, wenn wir nichts stets das Mittel der Selbstüberwindung zur Hand haben und gebrauchen. Das Böse ist in uns als ein Gesetz (Röm. 7, 21), als stehende Macht (Lk. 14, 31ff). Gesetz und Macht können durch Gesetz und Macht überwunden werden. Deshalb muß die Selbstverleugnung eine allgemeine und grundsätzliche sein.
Die zweite Wahrheit, aus welcher die freiwillige Abtötung sich ergibt, ist die Erlösung durch Christus. Wie wir frei werden sollen von dem Baum der Sünde, sagt uns das Beispiel Christi, das kein anderes als das der Abtötung und Selbstverleugnung ist. Kann es zudem etwas Edleres und Rührenderes geben, als aus Ehrfurcht und Liebe gegen Christus und aus der Absicht, Gott genugzutun für die Versündigungen der andern Menschen, sich mit freiwilliger Buße für dieselben zu belasten?
Die dritte Wahrheit, auf welche die freiwillige Abtötung sich stützt, ist die Gewissheit eines ewigen Lebens, bei welchem Vergeltung eintritt für alles, was wir hienieden Gutes getan, und namentlich für jedes Opfer, das wir uns aus Liebe zu Gott und zu den Menschen auferlegt haben (Mt. 16, 27).
Die christliche Entsagung ist hoch erhaben über die Lebensweisheit der Weltkinder; aber auch diese scheuen nicht davor zurück, sich zeitlich etwas zu versagen, um es später besser zu haben. So spart und müht sich der kleine Mann, um einst einen sorgenlosen und vergnüglichen Lebensabend zu genießen; und der Ringkämpfer, sagt der hl Paulus, lebt eingeschränkt und enthaltsam eines vergänglichen Kranzes wegen (Vgl. 1. Kor. 9, 25). Und wird er ihm? Unsere Krone aber ist sicher und von ewiger Dauer (1. Petr. 5, 4). Aber es braucht Glauben und Christentum; den Juden und den Heiden ist das Kreuz ein Ärgernis und eine Torheit (1. Kor. 1, 23). Beseligung und Selbstentsagung sind in der Aszese Jesu ganz unzertrennliche Begriffe und bilden den ganzen Inhalt des Evangeliums. Dieses ist das Mittel, jenes das Ziel. In der Herrlichkeit dieses Zieles erhält die Mühe und Herbigkeit des Mittels seine Erklärung, seine Weihe und selbst seine wunderbare Anziehungskraft. –
aus: Moritz Meschler SJ, Gesammelte Kleinere Schriften, 1. Heft: Zum Charakterbild Jesu, 1908, S. 18 – S. 19