Die Berufung Abrahams (Gn. 11, 22 bis 12, 7) – Auszug Abrahams aus der Stadt Ur
Unter der Menge der Gott entfremdeten Heiden lebte ein sehr frommer und tugendhafter Mann, der den Glauben an den allein wahren Gott noch bewahrte. Diesen erwählte sich Gott aus allen, damit durch ihn und seine Nachkommen der wahre Glaube und die Hoffnung auf den künftigen Erlöser erhalten und verbreitet würde. Dieser Mann hieß Abram (1). Seine Heimat war Ur im Land Chaldäa (2). Sein Vater hieß Thare und war aus dem Geschlecht Sems; sein Weib hieß Sarai (3) und war kinderlos. Abram hatte zwei Brüder, Aran und Nachor, von denen der erstere frühzeitig gestorben war und einen Sohn, namens Lot, und zwei Töchter, Melcha und Jescha, hinterlassen hatte.
Mit seinem Vater Thare und dessen Familie verließ Abram Ur (4). Ihr Weg wendete sich gen Nordwesten dem Land Kanaan zu und führte zunächst am Euphratfluss aufwärts (5); so blieben sie vorerst noch in Mesopotamien und kamen bis Haran (6), wo sie sich niederließen.
Über die Gründe, die Abraham zum Auszug aus seiner Heimat bewogen oder vielmehr für den Befehl Gottes an Abraham bestimmend waren, gibt der Text der Genesis keine Andeutung.
Aus Jos 24, 2 ergibt sich jedoch, dass in der Familie Thares bereits Götzendienst eingerissen war (7), und aus Is. 29, 22, dass Abraham von Gott erlöst, d. h. aus seiner götzendienerischen Heimat herausgeführt worden ist. Jdt. 5, 6-9 gibt sicher eine altjüdische Überlieferung wieder, nach welcher Abraham mit den Seinen (seiner Familie im engeren Sinne und denjenigen, die sich ihm anschlossen, Dienstleuten u. dgl.) nicht den Göttern seiner Väter in Chaldäa anhängen und deren Gebräuche, die sich auf eine Vielheit der Götter bezogen, befolgen, sondern den einen Gott des Himmels verehren wollte.
Seine Wanderung nach Kanaan bedeutete ohne Zweifel eine Entfernung aus dem unmittelbaren babylonischen Machtbereich. Fand er auch daselbst „keine Gottesfurcht im Land“ (Gn. 20, 11), vielmehr mannigfache Gräuel des Götzendienstes vor, so war für den Fremdling und seine Familie doch die Gefahr der Ansteckung nicht so groß wie im Haus seines Vaters und inmitten seiner Verwandtschaft.
Da Abraham in der biblischen Erzählung durchaus als treuer Verehrer des einen wahren Gottes, ja als Freund Gottes charakterisiert wird, der freilich durch göttliche Führung erst allmählich zur vollen Erkenntnis und Höhe seines Berufes als Vater der Gläubigen geführt wird, so ist anzunehmen, dass die wahre Gotteserkenntnis und Verehrung nicht vollständig abhanden gekommen war, dass die Offenbarung vielmehr an „die noch vorhandenen Reste des reinen Gottesglaubens und der ursprünglichen Überlieferungen angeknüpft und so in Abraham einen neuenAnfang der Heilsgeschichte begründet hat. (8)
In welcher Weise sich die Reste und Überlieferungen des Monotheismus inmitten des zu Hammurabis Zeit schon lange und stark entwickelten Polytheismus erhalten und fortgepflanzt haben, wissen wir nicht. Dass es möglich war, beweist die von der Religionsgeschichte auch sonst bestätigte Tatsache, dass ältere Ideen, Überlieferungen, Übungen oft lange und zähe im Volk oder in engeren Kreisen festgehalten werden, obwohl die offizielle Religion (und diese allein und nicht einmal vollkommen kennen wir aus den babylonischen Urkunden) sich längst davon entfernt hat.
Bestätigt sich nun – wenigstens in der Hauptsache – dass die ältere babylonische Gestirn-Religion einen gewissen monotheistischen (oder doch henotheistischen und monolatrischen) Hintergrund bewahrt hat, ja dass gar monotheistische Strömungen vor der Hammurabi-Zeit besonders kräftig im Bereich des Mondkultus (Ur, Haran) zur Geltung gekommen sind (9), zeigt sich ferner an dem Beispiel des Melchisedech, dass auch in Kanaan der reinere Gottesglaube noch nicht spurlos verschwunden war, so sind nach der religiösen Seite hin die natürlichen Voraussetzungen gegeben, die uns die folgende Geschichte Abrahams verständlich machen.
Gott sprach nämlich – nach Gn. 12, 1ff. – zu Abraham: „Gehe aus deinem Land, und aus deiner Verwandtschaft, und aus dem Haus deines Vaters, und komme in das Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zu einem großen Volk machen und dich segnen, und will deinen Namen groß machen, und du wirst gesegnet sein. Ich will segnen die, welche dich segnen, und will fluchen denen, welche dir fluchen, und in dir werden gesegnet werden alle Geschlechter der Erde!“
Wohl erhielt hier Abraham ein schweres Gebot, das durch die Aufzählung der einzelnen Güter, denen er entsagen sollte, noch viel schwerer wurde. Darum säumte aber auch Gott nicht, ihm die Bedeutung und den Lohn dieser Opfer ebenso im einzelnen vor Augen zu stellen. Abraham sollte sich ganz rückhaltlos an Gott und seine Leitung hingeben, aber nur, damit Gott sich seiner zu den höchsten und segenvollsten Absichten für die ganze Menschheit bedienen, gewissermaßen all seine Güter, ja sich selbst ihm für die Menschen anvertrauen könne. So vergilt Gott jedes Opfer stets durch herrlichen Lohn.
Abraham wird ausersehen zum Stammvater des auserwählten Volkes (siehe den Beitrag: „Abraham der Stammvater des christlichen Glaubens“), das die wahre Religion und die Verheißungen bewahren soll, und durch einen seiner Nachkommen, den schon im Paradies verheißenen Erlöser, soll allen Geschlechtern der Erde Heil und Segen widerfahren. Hiermit wiederholt Gott die im Paradies gegebene und nach der Sündflut erneuerte trostreiche Verheißung des Erlösers und fasst sie zugleich weit enger und bestimmter. Denn während dort der Erlöser überhaupt nur als ein Nachkomme Evas und nachher Sems bezeichnet wurde, ist hier mit Ausschluss aller übrigen Völker gesagt, dass er dem von Abraham abstammenden Volk angehören soll.
Es ist dies die dritte große messianische, die sog. Patriarchalische Verheißung. Sie wurde später dem Abraham wiederholt nach der Aufnahme der Fremden vor der Zerstörung Sodomas, und besonders feierlich nach der Aufopferung Isaaks. Sodann dem Isaak und Jakob. 10)
Stets enthält sie drei Hauptpunkte:
1. Die Ausscheidung eines Volkes als Volk Gottes;
2. die Hervorhebung, dass dies geschehe zum Heil aller Völker;
3. die Hindeutung auf den einen Sohn Abrahams, durch welchen dieses Heil einstens verwirklicht werden soll (11).
Daneben her geht die Verheißung des Landes Kanaan, das von nun an erst durch die Wanderungen der Patriarchen gewissermaßen geheiligt ((12), der Schauplatz der göttlichen Offenbarung und der Entwicklung des Volkes Gottes, endlich des Lebens, Leidens und der Verherrlichung des göttlichen Erlösers selbst sowie der Gründung seiner Kirche werden sollte (13).
Anmerkungen:
(1) Ab-râm, d. i. erhabener Vater; später nannte ihn Gott Ab-ráham, Vater der Menge. Der Name Abram ist jetzt keilinschriftlich in der Form Abi-ramu = mein Vater (d. i. Gott) ist erhaben oder Vater des Erhabenen (acu Aburama) bezeugt; desgl. Sarai, Nachor; auch Jakub-ilu und Jaschup-ilu finden sich im Babylonischen. Vgl. Dornstetter, Abraham 188; Nikel, Genesis 211f.
Zu besserem Verständnis auch für das Folgende möge hier eine Stammtafel seiner nächsten Verwandtschaft stehen:
(2) So hieß die Landschaft südlich von Babylon, deren Hauptstadt Ur man in den großartigen Trümmern bei dem heutigen Mugeïr, gegen 300 km südöstlich von Babylon, am rechten Euphratufer, wieder erkannt hat. (Vgl. Kaulen, Assyrien usw. 96ff 110).
Es war ein uraltes Landesheiligtum daselbst, das der letzte babylonische König Naboned um 550 v. Chr. Wieder herstellte. Die Chaldäer sind wahrscheinlich nicht Chamiten, sondern aramäische Semiten, die schon zur Zeit Nemrods in Babylonien wohnten (vgl. Is. 23, 13, auch Jdt. 5, 6), womit zusammen stimmt, dass weder nach der Heiligen Schrift (auch nicht nach Gn. 22, 22) noch nach den assyrischen Keilschriften je anderswo als südlich von Babylonien Chaldäer sich finden, die allmählich auch in Babylonien immer mehr Einfluss gewannen. Ihre Könige, zeitweilig unter assyrischer Oberhoheit, regierten seit Nabopolassar 625 v. Chr. Auch über Babylonien. Daher heißen bei Habakuk und Jeremias die Babylonier „Chaldäer“. Einen engeren Sinn (=Magier) hat der Name im Buch Daniel.
Der Name kommt in der Form Kasdim, Kaldu und Kardu vor.
(3) Sarai bedeutet „die fürstliche“; später wurde sie Sara, d. h. Fürstin, genannt, als Stammmutter großer Völker. – Aus Gn. 11, 29 lässt sich vermuten, dass Sarai mit Jescha gleichbedeutend war, sofern es den Anschein hat, dass Abram und Nachor die Töchter ihres bedeutend älteren Bruders Aran geehelicht hatten. Nach unserer Stelle nämlich (11, 32) scheint es, und der hl. Stephanus (Apg. 7, 4) sagt es ausdrücklich, dass Abraham erst nach dem Tod seines Vaters, der 205 Jahre alt wurde, aus Haran auszog. Danach ist Abraham, der beim Auszug aus Haran 75 Jahre alt war, erst im 130. Jahr Thares, mithin 60 Jahre später als sein Bruder Aran geboren.
(4) Ur bedeutet im Chaldäischen soviel wie Stadt. Man hat es auch mit dem Hebräischen in Verbindung gebracht und =Feuer, Licht, Glut gedeutet. Damit hängt die jüdische Legende zusammen, Abraham sei, weil er sich weigerte, an der Abgötterei teilzunehmen, ins Feuer geworfen, von Gott aber wunderbar errettet worden; vgl. Gn. 15, 7; Neh. 9, 7; Jdt. 5, 6-9; Josephus, Jüdische Altertümer 1, 7, c. 1; Aug. De civ. Dei 16, 13; auch in den kirchlichen Commendatio animae wird darauf Bezug genommen: sicut liberasti Abraham de Ur Chaldaeorum. –
In Wirklichkeit war Ur ein Hauptsitz der Verehrung des Mondgottes (Sin) und darum keinesfalls der geeignete Schauplatz für die Offenbarung. Das gleiche gilt von Haran, wo ebenfalls der Mondgott verehrt wurde. Es scheint, als ob Abraham seinen Vater zum Auszug aus UR bewogen habe, dann aber diesem zuliebe in Haran geblieben sei. Für die Annahme, die Auswanderung sei durch eine religiöse „Reform“, die Hammurabi zu Gunsten des Frühjahrsgottes Marduk eingeleitet habe, veranlasst worden, liegt ebenso wenig ein Anhaltspunkt vor wie dafür, dass Abraham selbst etwa um seiner Wanderung willen als „Mondheros“ anzusehen sei.
Auch von einer „Volkswanderung“ oder gar von einem „kriegerischen Eroberungszug“ weiß die biblische Erzählung nichts, obwohl man sich die Begleitung Abrahams von Haran aus nicht allzu gering vorstellen darf und nach Kap. 14 der Stammfürst Abraham auch auf die Verteidigung seiner und seiner Bundesgenossen Habe eingerichtet war.
(5) Direkt nach Westen konnten sie mit ihren Herden nicht ziehen, weil sie da über 1100 km weit die völlig öde und trostlose Syrische Wüste hätten durchwandern müssen, während sie vom oberen Euphrat bei Haran bis Kanaan nur den nördlichen Rand dieser Wüste streiften.
(6) Gn. 11, 31f. Haran, griechisch Carrhae, eine Stadt im oberen Mesopotamien (hebr. Aram naharaim) lag an der großen Handelsstraße vom Mittelmeer nach dem Persischen Golf, über 1100 km nordwestlich von Ur, etwa 60 km südlich von Edessa, 110 km östlich vom Euphrat, berühmt durch die Niederlage des römischen Feldherrn Crassus, 53 v. Chr.
(7) „Eure Väter wohnten anfangs jenseits des Flusses (Euphrat), Thare, Abrahams Vater, und Nachor, und dienten fremden Göttern; da nahm ich euren Vater Abraham weg von den Grenzen Mesopotamiens und führte ihn nach Kanaan.“ Beispiele götzendienerischer oder doch verwerflicher abergläubischer Übungen in der mesopotamischen Verwandtschaft Abrahams erzählen Gn. 31, 19; 35, 2.
(8) Beachtenswert sind jedenfalls die für die Geschichte Abrahams charakteristischen Gottesnamen: El (der Erhabene, Mächtige), El-Olam (der Gott der Urzeit oder der Welt). El-Schaddei (der Allmächtige), denen El-Ejom (der Allerhöchste) = Schöpfer Himmels und der Erde im Mund des Melchisedech (14, 19) entspricht. Diese Namen können nicht aus späterer Erfindung oder Überarbeitung erklärt werden; sie beruhen auf „alter, gut historischer Überlieferung“ und verdienen von religionsgeschichtlicher Seite mit besonderer Gewissenhaftigkeit gewürdigt zu werden (Baentsch).
(9) Daß „freie und erleuchtete Geister in Babylon offen gepredigt haben sollen, alle Götter seinen in Marduk dem Lichtgott eins“, ist eine Übertreibung (vgl. Delitzsch, Babel u. Bibel II 49), aber auch die Annahme, die älteste Religionsform in der Urheimat der Hebräer weise Spuren von Animismus, Totemismus, Fetischismus und Ahnenkult auf, ist als unbegründet erwiesen. Keinesfalls kann es sich um „Entlehnung“ des biblischen Monotheismus aus Babylon handeln, selbst wenn der Name Jahve (Genauer eine Grundform desselben = Jah oder Ja-u) sich in babylonischen Eigennamen und Urkunden aus der Zeit um 2500 v. Chr. nachweisen ließe. Denn sie würde über den Gottesbegriff der Urzeit Israels nichts aussagen. –
Der Satz „Die Religion Abrahams knüpfte an die vorhandene Ideenwelt an im Sinne eines reformatorischen Fortschritts“ (Jeremias, ATAO 334) kann einen richtigen Sinn haben und hat sicher mehr Berechtigung als die Auffassung, die jeden natürlichen Anknüpfungspunkt ablehnt und in Abraham einen absolut neuen Anfang des Gottesreiches sieht (König, Gesch. des Gottesreiches 54ff.). Aber die „religionsgeschichtliche Analogie“, auf die sich der Panbabylonismus stützt, um Abraham als Mahdi, seinen Auszug als Hedschra – ähnlich „der religiösen Bewegung unter Mohammed“ – verstehen zu lernen (Jeremias a.a.O.), kann schon um deswillen nicht als zutreffend erachtet werden, weil dabei außer gelassen wird, was für die Bibel das Wesentliche ist: Abraham ist von Gott erwählt, berufen, erleuchtet, geführt.
(10) Vgl. Gn. 18, 18; 22,18; 26. 4; 28, 14.
(11) Vgl. Gal. 3, 8 u. 14; Apg. 3, 25; Mt. 1, 1.
(12) So wurden durch Erscheinungen und besondere Gnaden-Erweisungen Gottes, Erbauen von Altären und viele andere Tatsachen und göttliche Führungen im Pilgerleben der Patriarchen viele Orte für ihre Nachkommen als Stätten heiliger Erinnerung überaus ehrwürdig.
(13) Vgl. Gn. 12, 7; 13, 12-18; 15, 12-21; 26, 3f.; 28, 13f.; 35, 12; 46, 3f.; 48, 3 u. 21f.; 50, 23; Ex. 23, 31ff.; 33, 1f.; 34, 11-16 usw. Reinke, Beiträge I 269 usw. über das Recht der Israeliten an Kanaan. –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. I, Altes Testament, 1910, S. 270 – S. 275
Bildquellen
- Abraham’s_Journey_(en).svg: wikimedia | CC BY-SA 4.0 International
- abrahams-reise-von-ur-nach-kanaan: Wikimedia