Die Weissagungen des Propheten Daniel (Dn 7-12)
Die Weissagung Daniels von den 70 Jahrwochen
Unter den wunderbaren Gesichten über die Zukunft, deren Daniel von Gott gewürdigt ward, sind vier besonders hervorragend:
I. Das erste (Kap. 7) erhielt er im ersten Jahr des Königs Baltassar im Traum. Er schreibt darüber: Ich sah vier Tiere aus dem Meer hervorsteigen. Das erste glich einem geflügelten Löwen, das zweite einem Bären, das dritte einem Leoparden; das vierte mit zehn Hörnern, fürchterlich anzusehen, hatte eiserne Zähne und Klauen und fraß und zermalmte damit alles.
Da erschien der Altbetagte (1) auf seinem Thron; sein Kleid war weiß wie Schnee, die Haare seines Hauptes wie reine Wolle, sein Thron glich Feuerflammen; ein reißender Feuerstrom ging von seinem Angesicht aus, tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Hunderttausende (2) standen vor ihm. Er setzte sich zu Gericht und nahm den Tieren ihre, jedem nur für eine bestimmte Zeit gestattete Gewalt.
Siehe, da kam einer in den Wolken des Himmels, wie eines Menschen Sohn (3), vor den Altbetagten, und „dieser gab ihm Gewalt und Ehre und das Reich, dass ihm alle Völker und Geschlechter und Zungen dienten (4) auf immer und ewig. Seine Gewalt ist ewige Gewalt, die nicht genommen, und sein Reich (ist ein Reich), das nicht zerstört wird“.
Auf Daniels Bitte erklärte ihm einer der um den Thron Stehenden: Die vier großen Tiere sind vier große Reiche, welche auf der Erde sich bilden; zuletzt aber werden die Heiligen Gottes (5) das Reich erhalten und es in Ewigkeit besitzen.
II. Im ersten Regierungsjahr des Königs Darius flehte Daniel mit Fasten und Buße in Sack und Asche, daß der Herr seine durch Jeremias (Ir. 27, 11f) gegebene Verheißung erfüllen und nach den nun bald zu Ende gehenden 70 Jahren der Gefangenschaft sein Volk nach Jerusalem zurückführen und das Heiligtum wieder herstellen möge (Ir. 9, 1-20). Plötzlich – es war zur Zeit des Abendopfers (6) – stieg der Engel Gabriel vom Himmel herab und sprach zu ihm: „Merke wohl: Siebzig Wochen (7) sind bestimmt, (festgesetzt) über dein Volk und deine heilige Stadt, damit die Übertretung getilgt, der Sünde ein Ende gemacht, die Ungerechtigkeit ausgelöscht, die ewige Gerechtigkeit (8) gebracht, Gesicht und Weissagung erfüllt (9), und der Allerheiligste (10) gesalbt werde (11).
Wisse also und merke: Von der Zeit an, da ausgeht das Wort, Jerusalem wieder zu bauen (12), bis auf den Gesalbten (Christus), den Fürsten (13), sind 7 Wochen und 62 Wochen (14), und Straßen und Mauern werden wieder erbaut werden in bedrängter Zeit. Und nach den 62 Wochen wird (der Gesalbte) Christus getötet werden (15), und es wird sein Volk nicht (mehr) sein, das ihn verleugnen wird (16). –
Und Stadt und Heiligtum wird zerstören ein Volk mit einem kommenden Fürsten (17); und die Verwüstung ist beschlossen nach dem Ende des Krieges (18). Aber (19) in einer (derselben) Woche wird er (20) (der Gesalbte und Fürst) vielen den Bund stärken (21); und in der Mitte der Woche wird Schlachtopfer und Speiseopfer aufhören (22); und es wird im Tempel der Gräuel der Verwüstung sein (23), und die Verwüstung wird bis zum letzten Ende dauern.“ (9, 25-27)
Anmerkungen:
(1) Der ewige Gott.
(2) Unzählige Engel.
(3) „wie eines Menschen Sohn“, also in menschlicher und doch überirdischer Erscheinung. Dass der König des ewigen (messianischen) Reiches gemeint ist, ergibt sich aus dem Folgenden. Christus selbst bezieht den Ausdruck Menschensohn und das Kommen in den Wolken des Himmels (= Besitz unvergänglicher Macht) auf sich. Zwischen erster und zweiter Ankunft wird in der Prophetie nicht unterschieden; sie fasst die Erscheinung des Messias als Haupt eines ewigen Reiches im Gegensatz zu den bildlich geschilderten Weltmächten in ein Bild zusammen.
Gegen die von fast allen neueren nicht katholischen Exegeten „mit seltener Einmütigkeit“ vertretene Auffassung, die in dem Menschensohn nur eine Personifikation für „das Volk der Heiligen“ erblicken will, vgl. Tilmann, Der Menschensohn, in Bst XII 1 85; desgl. BZ V 35ff: Hat die Selbstbezeichnung Jesu „der Menschensohn“ ihre Wurzel in Dn 7, 13? (Antwort: Ja).
(4) Im Hebr. (Aram.) steht das Zeitwort palach, das bei Daniel immer von göttlicher Verehrung, also von Anbetung, gebraucht ist (vgl. 3, 12 u. 14 u. 17f u. 23; 6, 17 u. 21; 7, 27), worauf ja auch die ewige Herrschaft deutet.
(5) Unter ihrem König Jesus Christus.
(6) Die Stunde des Abendopfers ist bedeutsam, weil sie dieselbe ist, in der Christus sein großes Versöhnungsopfer vollendete.
(7) Jahrwochen, also 490 Jahre. Dies ist nahegelegt durch die Anknüpfung dieser Weissagung an das Gebet Daniels, Gott möge seine Verheißung der Befreiung Israels jetzt am Ende der 70 Jahre erfüllen. Dies soll geschehen, und dem Volk Gottes sollen noch 70 x 7 Jahre für die Wiedererstehung und den Bestand Jerusalems gewährt werden.
Jahrwochen waren ohnehin eine den Juden geläufige Rechnung, da jedes siebte Jahr ein Sabbatjahr, nach sieben Jahrwochen aber das Jubel- und Erlassjahr sein sollte. Hier wird ihnen das große Jubel- und Erlassjahr, das große „Jahr der Versöhnung vom Herrn“ (IS. 61, 2; Lk. 4, 19) angekündigt. Die 70 Wochen oder 490 Jahre stehen als ganz allgemeine Zeitbestimmung für den Termin, wann das ganze Werk des Messias vollbracht werden wird. Die Wochen sind in hebräischer Weise für voll gerechnet, obwohl (nach Vers 27) schon in der Mitte der 70. Woche das Erlösungswerk vollbracht wird.
(8) Vgl. die Verheißung derselben auch Is. 46, 13; 51, 5 u. 8; 53, 11. Der Ausdruck kann auch konkret = der Gerechte gebraucht sein, also parallel und synonym mit dem folgenden „der Allerheiligste“.
(9) D. h. alle Weissagungen und Vorbilder vom Messias. (Vgl. Mt. 11, 13: „Alle Propheten und das Gesetz haben prophezeit bis auf Johannes.“)
(10) Hebr.: „Die Heiligkeit der Heiligkeiten“, vielfach als Neutrum = „ein Allerheiligstes“ gefasst. Die persönliche Erklärung „der Allerheiligste“ entspricht ganz und gar dem Ausdruck und Zusammenhang: „Die Heiligkeit der Heiligkeiten“, welche gesalbt wird, ist nicht der Tempel und seine Geräte (speziell der zweite Tempel), sondern der Messias. Denn
a) das Allerheiligste des Tempels heißt immer (elfmal) kodesch ha֨ kodaschim mit Artikel, hier fehlt der Artikel.
b) Weder bei der Einweihung des zweiten Tempels und seiner Altäre (Esr. 6, 14-17; 3, 2-3) noch bei seiner Reinigung durch die Makkabäer (1. Makk. 4, 52-58) wird eine Salbung erwähnt. Sie konnte auch gar nicht stattfinden, weil nach der einstimmigen Tradition der Juden das heilige Salböl im zweiten Tempel fehlte.
c) Das, was hier gesalbt wird, ist offenbar identisch mit dem Gesalbten, von dem sofort nachher (25d und 26b) die Rede ist. Jedenfalls müsste das Gegenteil klar im Text angezeigt sein, wenn der Prophet uns nicht in Irrtum führen wollte. Maschiach ist aber im Folgenden sicher nicht der Tempel oder etwas zum Tempel Gehöriges, sondern eine Person, und zwar der Messias. Für ihn passt in der Tat der Name „der Hochheilige“ vorzüglich.
Heilig ist, was in enger Verbindung mit der Gottheit steht: der Priester, jeder fromme Diener Gottes (das allerheiligste, der Altar, die Weihegaben, Opfer usw.) Der Messias also ist der Heilige mit Vorzug, der Hochheilige, kodeschkodaschim (ohneArtikel als Eigenname).
Der Einwand, dass im AT nie Personen hochheilig heißen, trifft nicht zu. Wohl hieß man Personen nicht gern hochheilig, weil dieses Prädikat Gott allein zu gebühren schien. Aber der Hohepriester des Alten Bundes trug an seiner Stirn die Inschrift „Heilig dem Herrn“, und 1. Chr. 23, 13 werden die Priester des Alten Bundes hochheilig genannt. Warum soll also der Messias nicht so genannt werden können? Der Parallelismus mit Vers 24f. zeigt, dass dieser Name den Messias uns vorführt als den Hohenpriester der Menschheit, dessen Aufgabe es ist, die Welt zu entsündigen und zu heiligen.
Schon Theodoret (Migne, P. G. LXXXI 1471) hat dies erkannt. Hontheim, Das Todesjahr Christi und die Danielische Wochenprophetie, in Kath 1906, II 101ff. Dazu stimmt, dass derselbe Engel bei der Erfüllung dieser Weissagung zu Maria sprach: „Deshalb wird auch das Heilige, das aus dir geboren wird, Sohn Gottes heißen.“ (Lk. 1, 35) „Der Heilige“ ist auch sonst ein Name des Messias (vgl. Apg. 3, 14; 4, 27 u. 30f; Joh. 10, 36); die Dämonen nennen Jesus „den Heiligen Gottes“. (Vgl. Mk. 1, 24; Lk. 4, 34)
(11) 9, 21-24. Zwei große Güter werden hier dem Volk Gottes angekündigt, jedes in drei Ausdrücken: Tilgung der Sünde und Herstellung einer ewig währenden Gerechtigkeit, beides durch den Messias, in dem alle Weissagungen ihr Ziel und ihre Erfüllung haben. –
Die Salbung ist in der Heiligen Schrift stets Sinnbild der Mitteilung des göttlichen Geistes. Im höchsten Sinne ist der Messias „der Gesalbte“ (vgl. Ps. 2, 2; 44, 8; Is. 61, 1); dieser Name wurde den Juden ganz geläufig (vgl. Mt. 2, 4; 26, 63; Lk. 2, 11 u. 26; 3, 15; Joh. 1, 20 u. 41; 3, 28; 4, 25; 10, 24), und die chaldäischen Übersetzungen, welche die Juden von den heiligen Schriften haben, setzen in den Stellen, die sich auf den Messias beziehen, geradezu das Wort Messias bei.
Der Messias ist gesalbt, d. h. der Fülle des Geistes Gottes teilhaftig durch die Vereinigung der göttlichen mit der menschlichen Natur in der Person des Sohnes Gottes. (Vgl. Is. 61, 1; Lk. 3, 22; 4, 18ff; Apg. 10, 38; Hebr. 1, 9)
Dem nächsten Zusammenhang nach lässt sich die Salbung auch als bildlicher Ausdruck für die Berufung und Sendung des Messias zu seinem Werk, speziell zu seinem Opfertod verstehen, so dass sich als Sinn des Vers 24 einfach ergibt: 70 Jahrwochen werden verfließen, bis der Messias als Beauftragter (Gesalbter) Gottes für die Sünden der Menschheit stirbt. Hontheim in Kath 1906, II 104.
(12) Es wurden vier Edikte zu Gunsten der Juden gegeben: a) durch Cyrus die Erlaubnis zur Rückkehr 536 v. Chr. (1. Esr. 1, 1-4; 6, 3-5); b) durch Darius Hystaspis die Erlaubnis zur Vollendung des Tempels 520 v. Chr. (1. Esr. 4, 24; 6, 1-12); c) durch Artaxerxes I. im siebten Jahr seiner Regierung, 458 v. Chr., die Entsendung des Esdras mit ausgedehnten Vollmachten für Ordnung der Verhältnisse in Palästina (1. Esr. 7; vgl. 9, 9 u. Neh. 1 u. 2); d) durch denselben Artaxerxes im zwanzigsten Jahr seiner Regierung, 445 v. Chr., die Entsendung des Nehemias.
Dieser erhielt ausdrücklich die Erlaubnis zum Wiederaufbau der Mauern und betrieb dieses Werk trotz aller Hindernisse mit solcher Energie, dass schon nach 52 Tagen die ganze Stadtmauer samt ihren Türmen und Toren fertig war und die feierliche Einweihung stattfinden konnte. (Vgl. Neh. 2, 5 u. 8 u. 17ff; 6, 15; 12, 27; Kap. 3 u. 4 u. 6; auch Sir. 49, 15)
Aber er spricht davon (Neh. 1, 3-14), dass die schon vorher wenigstens großenteils wieder aufgebauten Mauern verbessert worden seien, ohne Zweifel durch die Samaritaner. Man ist also berechtigt, dass Dekret von 458 als Ausgangspunkt zu betrachten, zumal da das zweite Dekret des Artaxerxes I. nur eine Wiederholung und Ergänzung desselben war.
(13) Maschiach (der Gesalbte) und nagid (Fürst) sind beide als Eigennamen behandelt und deshalb ohne Artikel. Die Ausdrücke gehen auf den Messias. Denn
a) nur der Messias, der Gesalbte und König mit Vorzug, konnte antonomastisch maschiach nagid genannt werden. Jede andere Person musste näher determiniert werden.
b) Der Gesalbte hier ist natürlich derselbe, von dessen Salbung Vers 24 redet. Der Hochheilige aber oder das Hochheilige, dessen Salbung dort erwähnt wird, ist nach dem Zusammenhang der Entsündiger der Menschheit, der Messias (jedenfalls nicht das Allerheiligste des Tempels).
c) Der terminus ad quem der 69 Wochen hier ist identisch mit dem terminus ad quem der 70 Wochen in Vers 24. Es handelt sich ja um den gleichen Zeitraum, der 69 Wochen und den Bruchteil einer Woche umfasst. Der terminus ad quem in Vers 24 ist aber die Entsündigung der Menschheit und die Erfüllung aller Prophetie, d. i. der Messias. Also müssen wir auch hier an den Messias denken.
d) Es ist unmöglich, einen anderen Gesalbten und König zu finden, auf den die Worte gehen könnten, wenn nicht den Messias. Man nennt neuerdings den Hohenpriester Josue (Esr. 3, 2). Aber der lebte lange vor 458, d. i. lange vor dem Terminus a quo der Rechnung, er ist also sicher nicht der terminus ad quem. Es lässt sich überhaupt kein terminus a quo auffinden, von dem jener Josue 69 Wochen abstände. Er war durchaus keine so wichtige Person, dass es sich lohnte, das Datum seiner Ankunft der Welt durch den Erzengel Gabriel voraus zu verkünden. Ein so bedeutender Mann ist nur der Messias.
e) Das ganze Altertum verstand unter dem Gesalbten, dem König, einstimmig den Messias. Hontheim a.a.O. 107.
(14) Die 7 und 62 Wochen sind miteinander zu verbinden, nicht zu trennen: “7 Wochen sind es und 62 Wochen“, d. h. im ganzen 69 Wochen. Die ganze Zeit ist eine Periode der Drangsal, des Harrens auf den Messias und der Anfeindungen durch die Heidenvölker, eine Zeit der Unruhe und des Leidens. Jedenfalls liegt keine Notwendigkeit vor zu trennen: 7 Wochen sind es, dass die Stadt hergestellt wird, eine Zeit der Drangsal – und dann wieder 62 Wochen, nach denen Christus getötet wird.
Da ergibt vielmehr eine grammatische und sachliche Schwierigkeit. Hat man wirklich gerade 7 Jahrwochen an der Stadtmauer gebaut? Vgl. Neh. 6, 15 und 12, 57. – Die Aufteilung der 70 Wochen in 7 + 62 + 1 Woche hat ihren Grund zunächst darin, dass die letzte Woche abgetrennt werden musste, weil sie etwas Besonderes bedeutete und auch nicht ganz vollständig ist. Für die 69 Wochen bedient sich der Engel dem Sprachgebrauch des Propheten entsprechend, der Formel 7 + 62, wie z. B. 7, 25 und 12, 7 statt 3 !/2 gesagt ist: 1 + 2 + ½ . Einen besonderen Termin für das Ende der 69 Wochen (z. B. Die Taufe Christi oder der Beginn seines öffentlichen Lehramtes) braucht man deshalb nicht zu suchen.
(15) Von diesem Opfertod des Erlösers reden besonders deutlich und eingehend Ps. 21 und Is. 53; Daniel gibt nun auch die Zeit an. An einen andern Gesalbten als den im ganzen Zusammenhang gemeinten ist natürlich nicht zu denken. Die Beziehung der Stelle auf den im Jahr 171 v. Chr. ermordeten (ehemaligen) Hohenpriester Onias III. (2. Makk. 4, 34) ist ganz willkürlich, stimmt auch nicht zu den Jahrwochen (statt 483 oder 490 Jahren wären es nur 287).
(16) Dies ist dem Sinn nach übersetzt; im Hebräischen steht nur: „und nicht ist (er, oder es) ihm“, d. h. nicht ist er, der Messias, ihm, dem Volk; oder nicht ist es, das Volk, ihm, dem Messias; oder vielleicht mit Beziehung auf das Folgende: nicht ist ihm, dem Messias, Stadt und Heiligtum und Volk, gehört ihm nicht mehr an. So erklärten auch die Rabbinen dem hl. Hieronymus: „Der Messias wird das Reich der Juden verlassen und ganz verwerfen“ (S. Hieron., Comm. In Dan. 9, 24 sub fine). Nach einer von Fell in TQS 1892, 355ff. vorgeschlagenen Textverbesserung ist vielleicht zu lesen: (wird Chr. getötet werden) „ohne dass ihm eine Schuld eignete“.
Hontheim (a.a.=. 111f) schlägt vor, ohne jede Textänderung oder Ergänzung zu übersetzen: und zwar ist es (das Getötet werden, Sterben) nicht für ihn, d. h. er stirbt nicht für sich, sondern für die andern, für die Menschheit. „Es ist das die bekannte, in der HeiligenSchrift gar häufige Figur der Litotes, z. B. Jb. 4, 21 ’sie sterben nicht ob ihrer Weisheit‘, d. h. ob ihrer Torheit und Sünde; Jb. 34, 20 ’sie stürzen nicht durch (Menschen-)Hand‘, d. h. durch Gottes Strafgericht usw. usw. Zur Konstruktion vgl. z. B. Ex. 22, 2; Jb. 28, 14.“
(17) Dieser Satz lässt sich auch übersetzen: „Stadt und Heiligtum werden zerstört (wird man zerstören) mit dem König, dem kommenden Fürsten.“ „Der da kommen soll“ ist nämlich eine in Dn. 7, 13 begründete und in den Evangelien ganz gebräuchliche Bezeichnung für den Messias (vgl. Matth. 3, 11; 11, 3; Mk. 11, 9 u. 10; Lk. 7, 19; Joh. 1, 15; 6, 14 u. ö.). Christus stirbt für die Menschen, dann geht Jerusalem unter mit ihm.
Der Untergang der Stadt ist verursacht durch den Tod des Königs. Ein physischer Zusammenhang, wonach ein feindliches Heer die Stadt erobert und der König naturgemäß mit seiner Hauptstadt fällt, liegt nicht vor. Das hieße: „Der König geht unter mit seiner Stadt“, nicht: „Die Stadt geht unter mit dem König“.
Der Zusammenhang kann also nur ein moralischer sein. Die Stadt hat ihren König, den Grund ihrer Stärke, die Quelle ihres Glückes verloren. Deshalb ereilt sie das Verderben. Wie kann aber Jerusalem seinen Messias verlieren? Nur durch seine Schuld.
Jerusalem, d. i. der gottlose Teil des Volkes, tötet seinen König, es weist das ihm angebotene Heil schnöde zurück. Zur Strafe geht es unter; d. h. die gottlose Masse geht unter mit dem irdischen Jerusalem und dem irdischen Tempel, die Frommen aber werden aufgenommen in das neue, geistige Sion, das durch den Tod des Messias begründet wird. Alles das lässt der Text in tiefer eindringender Betrachtung ahnen. Er drückt es nicht direkt aus. Der Grund der Zurückhaltung ist klar. Eine deutlichere Sprache hätte nicht zur Vermehrung der freudigen Hoffnung der Frommen dienen können. Hontheim in Kath 1906, II 113f.
(18) Das Hebr. gibt an: Und ihr Untergang ist gleich bösem Wetter (Sturm und Unwetter), und bis zum Untergang ist Krieg, Unheil und Verwüstung. – Auch die Prophezeiungen in Kap. 8 und 12 schließen mit einer Ankündigung der Verwüstung der Stadt.
(19) Dieser Vers gibt nach der gewöhnlichen Erklärung zum Abschluss der großen Prophetie die Gegenüberstellung der zweifachen Wirkung der Erscheinung und des Opfertodes des Messias: vielen bringt er die Güter des Neuen und ewigen Bundes; aber dem Judenvolk als solchem Verderben und Untergang durch dessen eigene Schuld. Nach andern bildet er einfach die Fortsetzung des voraus gehenden Vers 16: in derselben Woche, die Krieg und Verwüstung bringt, wird er vielen den Bund stärken usw.
(20) Der Messias.
(21) Der Bund ist für alle und stark, d. h. fest, ewig. Viele = alle; in dem Wort „vielen“ liegt wohl auch ein Hindeutung darauf, dass nicht alle dieses Bundes teilhaftig werden, und zwar durch eigene Schuld, wie das Judenvolk im Großen und Ganzen. (Vgl. Mt. 26, 28; Mk. 14, 24; auch Mt. 20, 16; 22,14)
(22) Dieselben werden keine Bedeutung mehr haben, weil das eine wahre Versöhnungsopfer als Erfüllung an deren Stelle getreten, und der Altre Bund abgeschafft ist.
(23) Der Ausdruck „Gräuel der Verwüstung“ ist bereits 1. Makk. 1, 54 auf eine schändliche Entweihung durch heidnische Opfer bezogen. Hieronymus und die älteren Erklärer dachten an die Errichtung eines verabscheuungswürdigen Götzenbildes (des Jupiters Olympius), die Antiochus Epiph. Vorgenommen hat; Christus bezieht sich auf diese Stelle, wo er die Zerstörung des Tempels und die Verwerfung des Judenvolkes vorhersagt. Mt. 24, 15f. Das Hebr. kann auch übersetzt werden: „Auf die Gräuel folgt Verwüstung, und auf die Verwüstung folgt (strömt nieder) Unheil bis zur Vernichtung.“ Vgl. Hontheim a.a.O. –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. I, Altes Testament, 1910, S. 991 – S. 996