Die Gewalt des Leidens Jesu Christi

Jesus, der durch die Leiden zu Boden gefallen ist unter der Last des Kreuzes, begegnet seiner Mutter, die vor ihm kniet, rechts sind die Schergen, die grimmig auf den Heiland einschlagen wollen, links die Frauen, die weinen

Von der Gewalt des Leidens Jesu Christi

Welche Gewalt die Betrachtung des Leidens Jesu Christi hat, die Liebe Gottes in den Herzen der Menschen zu entzünden

Der Pater Balthasar Alvarez, ein großer Diener Gottes, pflegte zu sagen: So lange wir Jesum den Gekreuzigten nicht fortwährend in unserem Herzen tragen, dürften wir ja nicht glauben, auf dem Weg Gottes Fortschritte gemacht zu haben. Und der heilige Franz von Sales schreibt: die Liebe, die nicht im Leiden geboren ward, ist schwach. So ist es auch wirklich; denn was könnte uns wohl mehr verpflichten, unseren Gott zu lieben, als das Leiden Jesu Christi, und der Gedanke,, daß der ewige Vater, um uns das Übermaß seiner Liebe zu bezeigen, seinen eingeborenen Sohn auf die Erde senden wollte, damit Er für uns Sünder sterbe? Deshalb, schreibt der Apostel, wollte Gott aus allzu großer Liebe zu uns, daß der Tod seines Sohnes uns Allen das Leben bringe. Gott hat uns um seiner überaus großen Liebe willen, womit Er uns geliebt hat, da wir tot waren in Sünden, mit belebt in Christo (Eph. 2,4). Moses und Elias wollten uns dies auf dem Berg Tabor zu erkennen geben, da sie von dem Leiden Jesu Christi sprachen und keinen anderen Namen dafür zu finden wußten, als daß sie es ein Übermaß der Liebe nannten. Und sie redeten von dem Übermaß (seiner Liebe), das zu Jerusalem sich erfüllen sollte (Luk. 9,31).

Als unser Heiland in die Welt kam, um für uns Menschen zu sterben, vernahmen die Hirten den Gesang der Engel: Ehre sei Gott in der Höhe! (ebd. 2,14) Und doch schien es damals, als der Sohn Gottes aus Liebe zu den Menschen sich so tief erniedrigte, ein Mensch zu werden, als sollte die Herrlichkeit Gottes sich eben so schnell verbergen, als sie sich geoffenbart. – Nein, geliebte Seelen, die Herrlichkeit Gottes hätte sich der Welt nicht besser offenbaren können, als da Jesus Christus für das Heil der Menschen starb; denn das Leiden Jesu gibt uns erst die Vollkommenheit der göttlichen Eigenschaften zu erkennen. Hier zeigte sich die Größe der Barmherzigkeit Gottes, da ein Gott sterben wollte, um die Sünder zu retten.; da Er sogar eines so schmerzlichen und schmachvollen Todes sterben wollte. Der heilige Johannes Chrysostomus sagt, da Leiden Jesu Christi sei nicht ein gewöhnliches Leiden, sein Tod nicht ein einfacher Tod gewesen, wie der Tod eines anderen Menschen.

Das Leiden Christi gibt uns aber auch die göttliche Weisheit zu erkennen. Wäre der Erlöser nur Gott gewesen, so hätte Er für den Menschen nicht genug tun können, weil Gott nicht sich selbst für den Menschen genug tun konnte; auch hätte Gott nicht durch Leiden genug tun können, da Er als Gott des Leidens unfähig ist. Wäre Jesus dagegen nur ein Mensch gewesen, so hätte Er für die schwere Beleidigung nicht genug tun können, welche der Mensch der göttlichen Majestät zugefügt hatte. Was tat nun also Gott? Er sandte seinen eigenen Gott, welcher wahrer Gott war, wie der Vater, damit Er das Fleisch des Menschen annehme und so als Mensch durch seinen Tod der göttlichen Gerechtigkeit die Schuld bezahle und als Gott seinem ewigen Vater vollkommen genug tue.

Ferner erschien aber auch im Leiden Christi die Größe der göttlichen Gerechtigkeit. Der heilige Johannes Chrysostomus sagt, daß die Hölle, womit Gott die Sünder straft, nicht so sehr die Größe der Gerechtigkeit Gottes zu erkennen gäbe, als Jesus Christus am Kreuz; denn in der Hölle werden die Geschöpfe nur für ihre eigenen Sünden bestraft; aber am Kreuz sehen wir einen Gott mißhandelt, weil Er für die Sünden der Menschen genug tun will! Was verpflichtet aber Jesum Christum, für uns zu sterben? Er ward geopfert, weil er selbst wollte (Is. 53,2). Er konnte, ohne ungerecht zu sein, den Menschen seinem Verderben überlassen; aber die Liebe, die Er zu uns trägt, ließ es nicht zu, daß Er unser ewiges Verderben mit ansähe. Deshalb wollte Er sich selbst einem so peinlichen Tode preisgeben, um uns das Heil zu erlangen. Er hat und geliebt und sich selbst für uns hingegeben (Eph. 5,2). Ja der Prophet Jeremias lehrt uns, daß Jesus den Menschen von Ewigkeit her geliebt habe: Mit ewiger Liebe liebe ich dich (Jer. 31,3). Da sich aber seine Gerechtigkeit genötigt sah, den Menschen zu verdammen und von Sich entfernt und getrennt in der Hölle die ganze Ewigkeit hindurch zu bestrafen, so suchte seine Barmherzigkeit ein Mittel auf, denselben zu erretten. Aber auf welche Weise sollte Ihm das gelingen? Dadurch, daß Er selbst der göttlichen Gerechtigkeit durch seinen Tod genug tat; und deshalb wollte Er, daß an demselben Kreuz, an welchem Er starb, das Urteil, welches den Menschen zum ewigen Tode verdammte, angeheftet und hierauf mit seinem Blut ausgelöscht werde. Er hat die Handschrift des Urteils, die uns entgegen war, ausgelöscht, sie weg genommen und an`s Kreuz geheftet (Kol. 2,14). So hat Er uns durch die Verdienste seines Blutes all` unsere Sünden vergeben. Indem Er euch alle Sünden vergeben hat (ebd. 2,13). Dadurch nahm Jesus zugleich dem Teufel alle Rechte ab, die derselbe auf uns erlangt hatte, und führte sowohl die Feinde als auch uns, die wir ihre Gefangenen waren, im Triumph mit Sich fort. Er entwaffnete die Oberherrschaften und die Gewalten, führte sie mutvoll einher und triumphierte über sie öffentlich durch sich selbst (ebd. 2,15). Theophylakt(us) bemerkt hierüber: Wie ein Sieger, der im Triumph einher zieht, führt Er Beute und Feinde mit Sich fort.

Darum sprach Jesus Christus, als Er, um der göttlichen Gerechtigkeit genug zu tun, am Kreuze starb, nur Worte der Barmherzigkeit: Er bat den Vater sowohl den Juden, welche seinen Tod begehrt, als auch den Henkersknechten, die Ihn töten würden, barmherzig zu sein. Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! (Luk. 23,34) Als Er am Kreuze hing, lästerten Ihn die beiden Räuber: Die, welche mit Ihm gekreuzigt wurden, schmähten Ihn (Mark. 15,32). Aber Er strafte sie nicht; und als bald darauf Einer derselben Ihn um Verzeihung bat mit den Worten: Herr, gedenke meiner, wenn Du in dein Reich kommst! (Luk. 23,24) – da versprach Er ihm also gleich, im Übermaß seiner Barmherzigkeit, daß Er ihn noch an demselben Tage in sein Paradies aufnehmen wolle: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein (ebd. 43). Vom Kreuz herab gab Jesus Christus uns allen in der Person des heiligen Johannes seine Mutter zu unserer Mutter: Er sprach zu dem Jünger: Sieh deine Mutter! (Joh. 19,27) Dort am Kreuz erklärt Er selbst, daß Er alles getan habe, um uns das ewige Heil zu erlangen, worauf Er durch den bitteren Leidenstod sein Opfer vollbrachte. Danach, da Jesus wußte, daß Alles vollbracht sei, sprach Er: es ist vollbracht. Und Er neigte sein Haupt und gab den Geist auf. (Joh. 19,30)

So war also durch den Tod Jesu Christi der Mensch von der Sünde und von der Gewalt des Teufels befreit; er erfreute sich wiederum der Gnade Gottes, und zwar einer noch größeren Gnade, als jene war, die Adam verloren hatte. Als die Sünde überschwänglich war, wurde die Gnade noch überschwänglicher, sagt der heilige Paulus. (Röm. 5,20) Es bleibt uns also jetzt nichts Anderes mehr übrig, sagt der Apostel, als daß wir oft mit Vertrauen zu diesem Throne der Gnade, welcher da ist: Jesus der Gekreuzigte, unsere Zuflucht nehmen, damit wir von seiner Barmherzigkeit Gnade erlangen, um die Versuchungen der Welt und der Hölle zu überwinden und selig zu werden. Lasset uns mit Zuversicht hinzutreten zum Throne der Gnade, damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden, wenn wir Hilfe nötig haben! (Hebr. 4,13)

Verlangt vielleicht Jesus zu viel, wenn Er begehrt, daß wir uns ganz Ihm hingeben, nachdem Er uns sein Blut und sein Leben dargebracht, nachdem Er für uns am Kreuz gestorben ist? Die Liebe Christi drängt uns (2.Kor. 5,14). Hören wir, was der heilige Franz von Sales über diese Worte sagt: Wenn wir es wissen, daß Jesus Christus uns bis zum Tode, ja bis zum Tod am Kreuz geliebt hat: müssen da nicht unsere Herzen gewaltig ergriffen werden, und zwar mit desto größerer Gewalt, je liebenswürdiger Jesus ist? Der Heilige fügt hinzu: Mein Jesus hat Sich ganz mir gegeben, und ich übergebe mich ganz ihm; an seiner Brust will ich leben und sterben, ja weder Leben noch Tod soll mich je wieder von Ihm trennen.

Deshalb ist, wie der heilige Paulus sagt, Jesus Christus gestorben, damit Jeder von uns nicht mehr der Welt, nicht mehr sich selbst, sondern allein dem lebe, der Sich ganz uns hingegeben hat. Für Alle ist Christus gestorben, damit, die da leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist (ebd. 5,15). Wer der Welt lebt, sucht der Welt zu gefallen; wer sich selbst lebt, sucht sich selbst zu gefallen; wer aber Jesu Christo lebt, der sucht nur Jesu Christo zu gefallen, und fürchtet nichts anderes, als Ihm zu mißfallen; er freut sich an Nichts, als wenn er sieht, daß Jesus geliebt wird; er betrübt sich über Nichts, als wenn er seinen Heiland verachtet sieht. Das heißt Jesu Christo leben, und das fordert Er von einem Jeden von uns. Ich frage also noch einmal: Fordert Jesus etwa zu viel, nachdem Er für einen Jeden von uns sein Blut und sein Leben hingegeben hat? –
aus: Alphons Maria von Liguori, Das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi, Ein Gebet- und Betrachtungsbuch für die heilige Fastenzeit, 1892, S. 9 – S. 14

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