Zehnte Kreuzwegstation ein Gnadenbild

Christus, von Schergen umringt, halb nackt mit Dornenkrone, wird von einem dieser Bösen seines Obergewandes entkleidet

Die zehnte Kreuzwegstation ist ein Gnadenbild

Dort drüben auf dem Kalvarienberg steht auch ein junger Mann. Er ist unter wilde Menschen geraten, die haben seinem zarten Leibe tiefe Wunden mit scharfen Geißeln aufgeschlagen und in das edle Haupt spitze Dornen wie Nägel hineingestochen. Das Gewand, so sie ihm darüber gezogen, ist mit Blut angeklebt in den Wunden. Und jetzt reißen sie ihm Gewand und Dornenkrone schonungslos wieder weg, reißen die Wunden neuerdings auf und da wütet entsetzlicher Schmerz durch alle Glieder des Herrn, und das Blut rinnt in Bächlein zu Erde nieder. Diese Qual gleicht der Marter, die jemand aussteht, wenn man ihm bei lebendigem Leibe die Haut abzieht.

Aber es kommt noch etwas Ärgeres über den gepeinigten Gottessohn; das ist die schmachvolle Entblößung. Es tut einem, der auf seine Ehre hält, gar weh, wenn man ihn öffentlich beschimpft, aber noch viel tiefer als das Ehrgefühl sitzt im Menschen das Schamgefühl. Selbst im Traume verursacht es Qual, wenn man halbgekleidet unter die Menschen soll. Und viele Märtyrer, die alles über sich ohne Klage ergehen ließen, vor der Schmach der Entblößung zitterten sie, und die heilige Jungfrau Potamiena wollte lieber drei Stunden lang langsam mit den Kleidern angetan in brennendes Pech eingetaucht werden, als entkleidet einen schnellen Tod erleiden. Oft flehte sie zu Gott um Bewahrung vor dieser Seelenpein und Christus verstand dieselbe, und schickte wunderbare Hilfe dagegen. Aber sich selber wollte er dieses bitterste Herzleid nicht ersparen, und muss am hellen Tag vor einer großen Volksmenge entblößt dastehen. Weißt du auch, warum? –

Weil er noch etwas viel Ärgeres, Entsetzlicheres dadurch abwehren will, nicht von sich, wohl aber von jemand anderem. Von wem denn? Von den Menschen, welche durch Fleischeslust sich an ihrem Leibe versündigen, den lebendigen Tempel des heiligen Geistes schänden, sich unter das Tier herabwürdigen und den furchtbarsten Strafgerichten Gottes anheimfallen sollen. Diese Strafen will der Heiland von ihnen abwehren, wenn sie nur selber wollen; darum läßt er sich anrechnen, was diese verschulden, und läßt in namenloser Qual sich die Wunden aufreißen, und durch die Entblößung des Leibes die tiefste Seele wie mit brennendem Feuer der Scham durchglühen.

Zu den Sünden, welche der Heiland dort selbst zu büßen übernommen, gehören aber vor allem diejenigen zusammen, die im sechsten und neunten Gebot untersagt sind für Gedanken, Begierden, Blicke, Worte und Werke, wegen welcher einmal der heilige Gott eine ganze Welt von Menschen zur Strafe im Wasser ersäuft, und einmal eine ganze Gegend mit Feuer vom Himmel zur Asche verbrannt hat. Ich mag mich dabei nicht aufhalten, nur sage ich so viel: Die furchtbarste Strafe für Fleisches-Sünden ist diese, daß sie alle, auch die geheimsten, einmal vor aller Augen werden bloß gelegt werden. Da hilft kein Feigenblatt und keine Entschuldigung mit Naturtrieb und menschlicher Schwachheit; und all das Bitten und Schreien: „Ihr Hügel bedeckt uns, ihr Berge fallt über uns!“ nützt auch nichts. Die Schande des Lasters dauert dann ewig, wo es nicht gründlich in Reue, Buße, Beichte und Besserung ausgetilgt wird. Das ist es, was der stumme Heiland dort in schmachvollster Entblößung und in den frisch aufgerissenen Wunden predigt.

Stell dich oft dorthin vor diese Kanzel, lieber Christ! Das lebendige, persönliche Wort Gottes redet dort mächtiger, eindringlicher, rührender als der gewaltigste Bußprediger. Laß dich von ihm warnen, wenn du noch nicht von diesem Laster befleckt bist, am Leibe nicht und an der Seele nicht; er meint es nur gut mit dir. Male und grabe dir das Bild der zehnten Station recht tief in deine Seele und schau es an, wenn diese Sünde nach dir die Angel auswirft mit lockendem Köder. –

Wärest du aber bereits in die traurige Gefangenschaft derselben geraten und musst es eben spüren, wie giftig diese Sünde ist, möchtest aber doch davon los kommen, dann lies jetzt noch einmal, was ich zu Anfang dieses Lehrstückes gebracht und was der Heiland der seligen Angela gesagt hat. –

Und dann versprich mir, mehrere Wochen nacheinander wenigstens einmal, etwa am Freitag, eine Pilgerfahrt zu machen auf den Golgotha und deinen Heiland zu besuchen bei der zehnten Station. Dort ist der beste Doktor und die gesündeste Arznei gegen unreines Gelüste. Auch findest du bei ihm vollgültige Münze genug, um der Gerechtigkeit Gottes alle Schulden bar abzuzahlen, welche du mit derlei Sünden gemacht hast, und bekommst bei ihm auch ein glänzendes Gewand, das beim Gerichtstag alles Unreine bedeckt und dich vor schmachvoller ewiger Entblößung bewahrt.

Ja gewiß, glaube es nur: die zehnte Station ist ein Gnaden- und Mirakelbild. –
aus: P. Franz Hattler SJ, Das blutige Vergißmeinnicht oder der Heilige Kreuzweg des Herrn, 1904, S. 204 – S. 211

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