Der Ursprung der heidnischen Religionen
I. Die heidnischen Religionen bezeichnen nicht die verschiedenen Stufen der normalen Entwicklung des religiösen Bewusstseins in der Menschheit, sondern dessen Entartung und Verfall. Eine ursprünglich reinere und höhere Gottesanschauung haben wir als ihre Voraussetzung anzuerkennen, die sich, wenn auch nur in dürftigen Spuren, in allen heidnischen Religionen wiederfindet und als Stimme der religiösen Menschennatur und Erinnerung an eine Uroffenbarung ihre Erklärung findet.
So wenig als der rohe und traurige Zustand der Wilden der ursprüngliche Zustand der Menschheit ist, so wenig ist ihre Religion der Anfang des religiösen Lebens; es ist eine Ausartung und Erniedrigung.
II. Den Grund dieses religiösen Verfalles bezeichnen die Offenbarungs-Urkunden als eine Tat des freien Willens und des Menschen Schuld; die Geschichte der religiösen Verirrungen ist die Bestätigung ihrer Aussprüche.
Sap. 13, 1 sq. schildert ausführlich die Entstehung des Heidentums aus der Vergötterung der Kreatur. Vgl. Sap. 14, 13 sq. Die Vielgötterei war nicht von Anfang und wird auch nicht immer sein.
Denselben Gedanken führen die Väter durch. Des nach Gottes Bild geschaffenen Menschen Geistesblick, sagt Athanasius (Orat. adv. Gent. c. 3 sq.), verdunkelte sich in der Beschauung der sinnlichen Dinge, und so entschwand ihm das geistige Bild dessen, zu dessen Ähnlichkeit er erschaffen war; er vergaß Gott, und von Stufe zu Stufe sinkend, vergötterte er die Kreatur in immer niedrigeren Formen. Cf. Lactant. Institut. Div. I. 10 sq.
Die Religionsspaltung fällt zusammen mit der Sprachen- und Rassenbildung. Die heiligen Urkunden weisen hin auf eine Katastrophe im religiösen und intellektuell-sittlichen Leben der Menschheit, dem selbst eine physische Alteration folgte. Die Katastrophe zu Babel (Gen. 11, 4 sq.) bezeichnet diese Spaltung nach dieser dreifachen Beziehung. (…) Wie die eine Menschheit von dem Bewusstsein des einen Gottes zusammen gehalten wurde, so hatte die Götter-Vielheit eine Zerteilung in eine Vielheit von Sprachen, Völkern und Religionen zur Folge; verschiedene, von einander abweichende, zum teil sich ausschließende Götterlehren waren das Scheidungsmittel, das in die vordem homogene Menschheit hinein geworfen wurde.
III. Wie für jede Verletzung der sittlichen Ordnung lag auch für jene der religiösen der letzte Grund in der freiwilligen Abkehr des Menschen von Gott, der Sünde. Mit dieser selbst verschuldeten Entfremdung von Gott war eine Verdunkelung seiner Intelligenz, und darum des ursprünglichen Gottesbewusstseins eingetreten, und er selbst in seiner sittlichen Freiheit geschwächt. Dem Bedürfnis nach Gott konnte die Vergötterung der Natur nur scheinbar genügen.
Auch diesen Gedanken hat der hl. Athanasius (1. c.) weiter ausgeführt. Der Mensch gehörte ursprünglich einem höheren Gnadenzustand an, aus dem er durch die Sünde heraus gefallen ist. So war denn die erste Religionsform noch rein von Vermischung des Geistes und der Materie, Gottes und der Welt. Mit dem Gestirndienst, der die Kräfte und Mächte des sichtbaren Himmels mit jenen des unsichtbaren zugleich verehrt und später auch verwechselt, beginnt das eigentliche Heidentum und, da diese Naturmächte mannigfache und verschiedene sind, auch der Polytheismus. Ursprünglich wurden die Gestirne wohl nur als Symbole gefaßt oder als Erscheinungen der in ihnen waltenden Gottheit; die Naturalisierung der Gottheit beginnt mit der Verwechslung des Symbols mit dem Gedanken, der Erscheinung mit der hinter ihr wirkenden geistigen Macht.
IV. Nach Verschiedenheit der Völker und Länder unter der Einwirkung mehr oder weniger üppiger Phantasie erscheint die vergöttlichte Natur in den verschiedensten Formen und Gestalten. War der eine Gott in mehrere Götter geteilt, dann musste jede neue Eigenschaft und Beziehung eine neue Gottheit schaffen; so wuchs der Kreis der Götter im Fortgang der Mythenbildung. Hierzu kommt ein historisches Moment. Der Götter bildende Trieb hat seine Wurzel in dem Volksgeist; so verherrlicht denn dieser sich selbst in seinen Göttern, diese werden seine Stammväter. Der Anfang der Welt fällt mit dem Anfang des Volkes zusammen, hervorragende Geschlechter erscheinen als Göttersöhne, Heroen. Bei der Berührung mehrerer Stämme zu staatlicher Gemeinschaft erweitert sich das Pantheon durch Hinzunahme der neuen Stammesgötter, während jede der besiegten Völker eine untergeordnete Stellung einnehmen.
V. Während der pantheistische Naturalismus die Welt zu einer einheitlichen, wenngleich unter verschiedenen Formen erscheinenden Ganzen zusammen faßt, der Polytheismus gewisse Ordnungen und Klassen in der Geschichte und dem Walten seiner Götter unterscheidet, zersplittert sich im Fetischismus das Göttliche in eine zusammenhanglose Menge von Einzelerscheinungen, wie der zufällige äußere Gegenstand, an dem es erscheint.
VI. Ist das Wesen des Heidentums Naturalismus, so ergeben sich alle Erscheinungen desselben als dessen notwendige Folge. Die Natur zeigt sich dem Menschen von einer doppelten Seite: zeugend und Segen spendend, zerstörend und todbringend. Daher der Dualismus in den ältesten Mythen. In der Natur sind aktiv-zeugende und passiv-empfangende Kräfte; daher der Gegensatz männlicher und weiblicher Gottheiten. Der tiefste Grund des Naturalismus aber ist doch nur einer; darum erscheint die Gottheit als Mannweib.
VII. Indem die naturalistische Religion ihre Götter in sichtbarer Gestalt bildete und den Völkern zur Verehrung hinstellte, sank das Heidentum noch tiefer; es wurde Bilderdienst, Idololatrie.
Gerade der Bilderdienst ist es, welcher der reinen Gottesverehrung, wie sie die Offenbarung verkündet, am meisten widersprach )Ps. 95, 5; 113, 4-8; Sap. 13, 1; 14, 13; Deuteron. 32, 37; 16, 22; Exod. 20, 4, 24) und daher im mosaischen Gesetz am schärfsten verboten wird. Dem Volk war ja das Bild nicht bloß ein Erinnerungs-Zeichen, sondern ein selbständiges, göttliches Wesen; Götzendienst und Bilderdienst erscheinen identisch. Diese Idololatrie im engsten Sinne des Wortes bestätigen Senaca (ap. Lactant. 1. c. II. 2), Arnobius (C. Gent. I. 39), Lucian (Jup. Confut. c. 8. De sacrif. c. 11), Plutarch (De Isid. 11). Der Konsekration, durch welche das Bild dem gottesdienstlichen Gebrauch gewidmet wurde, legte man die Kraft bei, die Gottheit herab zu ziehen, daß sie nun in ihm wie in ihrem Körper wohne.
VIII. Die Finsternis des Geistes, welche in dem Heidentum sich uns darstellt, die furchtbaren Folgen des Götzendienstes durch die scheinbare Heiligung von Mord und Unzucht rechtfertigen die Äußerungen der Bibel und die gemeinsame Anschauung der heiligen Väter über den dämonischen Charakter des Heidentums, durch das der Teufel dem Reiche der Wahrheit, Sittlichkeit und Liebe gegenüber ein Reich der Lüge , der Unzucht und des Mordes zu gründen unternahm.
Ps. 95, 5. Dii gentium sunt daemonia. Die Gräuel des Molochsdienstes als Teufelsopfers (Ps. 105, 37; Deuteron. 32, 17; Bar. 4, 7). Mit diesem Teufelsdienst war Unzucht verbunden (Levit. 17, 7). Darum bezeichnet der Apostel das gesamte heidnische Kult- und Opferwesen als Teufelsdienst (1. Kor. 10, 20). Dieselbe Anschauung erscheint durchweg bei den Vätern; Justinus nennt den Teufel den Urheber desGötzendienstes (Apolog. I. 5); cf. Tatian. Or. adv. Graec. c. 8-10; Athenagoras, Legat. c. 23-27; Origenes, C. Cels. III. p. 471; Augustinus, De divinat. Daemon.pass.
IX. Hieraus ergibt sich eine weitere Bestimmung des Heidentums. Es wird nie gelingen, ein festes System, einen zusammen hängenden Sinn in dem Mythos der einzelnen Religionen zu entdecken. Er ist ja eben das Produkt einer in die Sinnenwelt hinein gezogenen Phantasie, nicht des klaren Bewusstseins und der Reflexion; darum wechselnd und unklar wie die Natur selbst und das Volk, dem der Mythos angehört, wenngleich eine gewisse Ähnlichkeit in den Grundzügen aller Mythologien erscheint.
X. Hiermit ist zugleich jene (empirisch-rationalistische) Anschauung vom Wesen des Heidentums widerlegt, welche in dem Polytheismus die primitive Form des religiösen Bewusstseins erkennt und demnach als die zeitlich und prinzipiell erste Stufe der Entwicklung den Fetischismus bezeichnet. –
aus: Franz Hettinger, Lehrbuch der Fundamentaltheologie oder Apologetik, 1888, S. 428 – S. 432