Heiligenkalender
1. November
Das Fest aller Heiligen ist Allerheiligen
Auf, teure Seele! Laß uns aus dem kalten Herbstnebel dieses Jammertales hinauf steigen zu den sonnigen Höhen, wo die Stadt Gottes auf dem Berge erbaut, alle unsere verklärten Brüder und Schwestern beherbergt. Eine gar anmutige Beschreibung dieser Stadt Gottes findest du in der Offenbarung des heiligen Johannes 21, 10-27 und 22, 1-5.
Treten wir ein durch das wundersam leuchtende Perlentor des Hauses unseres Vaters. O was ist das für eine glänzende Schar glorreicher Seelen, die den äußersten Ring des himmlischen Hofes bildet? Es sind die Seelen der kleinen Kinder, welche auf Erden nur die heilige Taufe empfangen, aber sonst keine Tugend geübt, keine Versuchung besiegt, kein Verdienst sich erworben haben. Und doch, gewaschen im Blut des Lammes Gottes und wieder geboren aus dem Wasser und dem heiligen Geist, wie schön sind sie! Der Sonnenschein aller Pracht und alles Glückes auf Erden ist nur ein trüber Schatten im Vergleich mit der gegenwärtigen Glorie dieser Kinder, welche die Taufe gerettet hat. Die berühmtesten Gelehrten dieser Welt wissen nicht so viel als sie, und die süßesten Freuden der sterblichen Menschen sind nur Bitterkeiten im Vergleich mit dem seligen Entzücken, das ihre jungen Herzen durchbebt.
Wir kommen in den zweiten Kreis; dort sehen wir so viele Heilige, daß Niemand sie zu zählen im Stande ist. Wer hätte geglaubt, daß der Allmächtige schon so viele Seelen erschaffen habe? O fruchtbares Blut Jesu Christi! Hier sind die auserwählten aller Nationen und Zungen, aller Geschlechter und Alter, aller Rangstufen und Berufsarten aus allen Jahrhunderten: Könige und Bettler, Kaiser und Bauern, tiefe Denker und ungeschulte Taglöhner, Männer von Bischofssitzen und Mönche aus verborgenen Zellen, Jünglinge, welche nie eine schwere Sünde begangen, und Büßer, welche ihre Verbrechen mit heroischer Liebesreue gesühnt haben, Märtyrer des Glaubens, welche ihr Leben unter der Grausamkeit der Folter endeten, und Märtyrer der Liebe, welche ihr Leben im Dienst des Nächsten verzehrten. Wie mannigfach ist doch der Glanz ihrer Schönheit und die Art ihrer Heiligkeit, wie zierlich geordnet sind ihre Klassen und Grade! Siehe, wie herrlich strahlen an ihnen die unauslöschlichen Merkmale der heiligen Taufe, der heiligen Firmung und namentlich der Priesterweihe. Und diese Gnaden-Merkmale sind prachtvoll eingefaßt mit den Werken des Glaubens, mit den Opfern der Liebe, mit den Narben der Nachfolge des gekreuzigten Jesus wie mit den köstlichsten Perlen und Edelsteinen. Alle baden sich in den reinsten Wonnen und Freuden, welcher aus der beseligenden Anschauung der hochheiligen Dreieinigkeit ihnen zuströmen. Und zu jeder Stunde kommen neue Scharen an, und das Erscheinen dieser neuen Ankömmlinge wird zu einem stets sich erneuernden Freudenfest der Nächstenliebe von solcher Süßigkeit, daß die dürre, kalte, selbstsüchtige Welt gar keine Ahnung davon hat. O Jesu, Du Stifter der heiligen Sakramente, wie stünde es mit uns, wenn wir Dich nicht hätten?
Aber wir müssen höher hinauf steigen im Reiche des Himmels am Fest aller Heiligen. Wir kommen zu den neun Kreisen oder Chören, welche das große Reich der Engel ausmachen. Unter ihnen sehen wir viele Menschenseelen thronen, die aber den Engeln zum Staunen ähnlich sind. Hierher hat der Allerhöchste ausgezeichnete Heilige der Erde bestimmt, um die Throne derjenigen Engel wieder zu besetzen, welche Luzifer mit sich in den Abgrund zog. Diese neun Chöre, deren Namen der hl. Paulus aufzählt, sind mit einander verwandt und doch wieder verschieden nach ihren Gaben und Eigenschaften, nach ihrer Macht und Heiligkeit und nach ihren segensreichen Verrichtungen, die sie auf Erden an den einzelnen Menschen, an den Königreichen und vorzüglich an der katholischen Kirche ausüben. Es wäre vergebliche Mühe, wollte man in menschlicher Sprache ausdrücken die Seligkeit, welche diese Heerscharen genießen, oder die liebliche Musik und den feierlichen Gesang, womit sie die Majestät Gottes preisen. Nur noch den königlichen Thron des Fürsten der Engel wollen wir bewundern, den Luzifer durch seinen Hochmut verloren hat, und den jetzt nach Einigen der hl. Michael einnimmt, nach Andern aber der hl. Joseph zur Belohnung, weil er der Erste auf Erden das Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes Gottes angebetet hat, was Luzifer im Himmel zu tun verweigert hatte.
Doch steigen wir höher hinauf! Da staunen wir über die ganz eigene Glorie und Herrlichkeit jener Menge von Heiligen, welche unserm teuersten Herrn nahe gestanden, als Er sichtbar auf Erden wandelte. Hier sind die elf Apostel, welche der barmherzige Jesus nach seiner Auferstehung wieder um sich versammelte, ferner Matthias, den der heilige Geist zum Nachfolger des verworfenen Judas wählte, und der Völkerapostel Paulus auf dem dreizehnten Thron: hier sind die ehrwürdigen Evangelisten Markus und Lukas, ferner Joachim und Anna, Zacharias und Elisabeth, der greise Simeon und die 84jährige Witwe, die gastfreundlichen Geschwister von Bethanien, Simon von Cyrene, Joseph von Arimathäa, der gute Schächer Dismas und die 72 Jünger des Herrn: hier singen ihr neues Lied die Kindlein von Bethlehem, welche so glücklich waren, mit ihrem rosenfarbenen Blut die Wiege des neu geborenen Königs der Juden wie mit Rubinen zu schmücken, nachdem Er das seinige vorher in der Beschneidung für sie vergossen hatte. Hier entzücken uns durch ihre wunderbare Schönheit der erste Märtyrer, der Ruhm gekrönte Stephanus und die beiden Wächter am Thron Mariä: Johannes der Liebesjünger Jesu und erster Adoptivsohn unserer übergebenedeiten Mutter, und Johannes der Täufer, ihr Blutsverwandter, dessen Erdenleben ein einziges, langes himmlisches Wunder war. O wie schön sind diese Heiligen der Menschwerdung? Wie die Wolken zunächst der untergehenden Sonne mit bunt farbigem Gold durchströmt sind, immer wechselnd, immer neu, immer wundervoll strahlend, so diese Heiligen in dem Licht, das vom göttlichen Lamme ausströmt.
O der Freude! Noch einige Stufen höher und – wir stehen vor dem Throne Mariä, der allerseligsten Jungfrau, der Königin aller Heiligen und Engel, der Mutter Gottes und der Mutter der Barmherzigkeit. Ihre Glorie ist unbeschreiblich, unbegreiflich groß! Kein Auge kann es schauen, kein Verstand kann es fassen, und kein Herz kann es empfinden, wie hoch die Güte des himmlischen Vaters seine treue Tochter, die Dankbarkeit des göttlichen Sohne seine schmerzhafte Mutter und die Liebe des heiligen Geistes seine makellose Braut verherrlicht hat; aber um so mehr beseligen uns die Worte der ewigen Wahrheit: „Siehe da, deine Mutter!“ O du milde, o du gütige, o du süße Mutter, zeige uns Jesum, die gebenedeite Frucht deines Leibes!
Noch höher hinauf! Und, o Gnade und des Glückes, wir knien vor dem König der Glorie selbst, vor dem Heiligsten aller Heiligen, vor Jesus Christus, dem Hochgelobten, in dessen Namen sich alle Knie beugen im Himmel, auf der Erde und unter der Erde: wir knien vor dem verklärten Erlöser, sitzend zur rechten Hand Gottes, des allmächtigen Vaters, in jener Herrlichkeit, die Er im Anfang schon beim Vater hatte.
Ja, Er ist es selbst, leibhaftig, der liebe, süße Jesus, an den Gesichtszügen erkennen wir Ihn genau, seine milden Züge sind ja ganz gleich denen, die wir vorhin sahen, als wir das Angesicht seiner und unserer Mutter schauten. Da ist dasselbe Haupthaar, über welches Maria in Bethanien das Nardenöl ausgoß; da ist dasselbe freundliche Antlitz, das einst die Kinder so zutraulich machte; da sind dieselben Augen, welche den Zachäus auf dem Feigenbaum und den Petrus am Kohlenfeuer so wundersam anschauten; da sind die gleichen Lippen, welche die rührenden Worte sprachen: „Mich erbarmt das Volk“; da sind dieselben Hände, welche das Abendmahlsbrot geheimnisvoll segneten; da sind dieselben Füße, welche dem verlorenen Schäflein unermüdlich nachgingen; da ist dasselbe Herz, welches am Grabe des Freundes und über die Stadt Jerusalem trauerte; ja, Er ist es selbst, die fünf großen Wundmale, womit wir Sünder Ihn zum Dank für seine Menschwerdung und Heimsuchung gekennzeichnet haben, geben uns volle Gewissheit. O Jesu, Barmherzigkeit! Möge uns doch nichts von deiner Liebe scheiden!
Weiter dürfen wir nicht gehen, nicht nahen dem unzugänglichen Geheimnis der hochheiligen Dreifaltigkeit, auf deren göttliche Schönheit und Anbetungswürdigkeit die Augen und die Herzen aller Seligen gerichtet sind.
O, zu welcher Höhe sind wir hinauf gestiegen am Fest aller Heiligen, wie weit hat die sehnsüchtige Liebe zu unsern glorreichen Brüdern und Schwestern, zu unsern mächtigen Fürbittern und gütigen Wohltätern uns verlockt – bis zum heiligsten Erlöser, dem Quell und Spender aller Heiligkeit! Und wenn wir uns umwenden und zurück blicken auf die Pracht und Herrlichkeit, die wir geschaut haben, auf die bunte Mannigfaltigkeit der verklärten Menschenseelen, auf die neun Chöre englischer Heiligkeit in der großartigsten Entfaltung, auf die Väter unseres Glaubens und die Baumeister unserer katholischen Kirche zunächst dem schönsten Thron unserer Mutter und Königin: wie überwältigend ist dieser Anblick, wie bezaubernd diese liebliche Musik, diese wonnige Freude, diese süße Berauschung in unverlierbarer Seligkeit! Auf dieser Höhe stehen wir gerade am günstigsten Platz, um unsern Glauben zu erneuern an die
Gemeinschaft der Heiligen.
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 813 – S. 815