Das Wesen der Sünde
Von der Blindheit gegen die eigenen Sünden
Niemand erscheint gegen seine eigenen Sünden so blind, als derjenige, welcher am Meisten mit Sünden bedeckt ist. Wird ein Mensch von einer pestartigen Krankheit heimgesucht, so kann er sich selbst von dem Dasein derselben leicht überzeugen, weil seine Haut eine andere Farbe annimmt. Erscheinen die Schuppen des Aussatzes, so muss er sich einen Aussätzigen nennen. Wenn über dem Augapfel sich eine Netzhaut bildet und immer mehr sich verdichtet, so ist zu befürchten, daß man des Augenlichtes beraubt wird. All die Nöten des Körpers treten in deutlicher Weise hervor: aber gerade die Feinheit, die Gefährlichkeit und die Tödlichkeit der Sünde ist es, welche diese verbergen und verhüllen. Niemand erkennt das Licht der Gegenwart Gottes so wenig, als diejenigen, welche mit Sünden bedeckt sind. Je größer die Zahl ihrer Sünden, um so weniger können sie sehen. Obwohl alle Vollkommenheiten Gottes gleich den Strahlen der Sonne, welche das Haupt des Blinden bescheinen, sie alle Tage umgeben, so sind sie doch Seiner Gegenwart sich nicht bewußt. Sie gleichen dem Magier Elymas, welcher wegen seiner Gottlosigkeit mit Blindheit beſtraft wurde. Weil sie das Licht Gottes nicht sehen, so sehen sie auch weder Seine Vollkommenheiten, noch sich selbst; denn das Licht der Selbstkenntnis rührt von dem Licht der Erkenntnis Gottes. Wie soll ein Mensch erkennen, was Unheiligkeit ist, wenn er nicht weiß, was Heiligkeit ist? Wie soll er die Lüge erkennen, wenn er nicht die Wahrheit erkennt? Wie sollte er die Unreinigkeit erkennen ohne Erkenntnis der Reinigkeit ? Wie die Gottlosigkeit, wenn er nicht die uns Gott gegenüber obliegende Pflicht erkennt und die Majestät Gottes, den wir verehren müssen? Gerade in demselben Verhältnis, in welchem das Licht der Vollkommenheiten Gottes verdunkelt ist, verlieren wir die Kenntnis unser selbst und sagen dann, wenn man uns den traurigen Zustand eines Sünders schildert: „Das ist gerade der Charakter meines Nächsten, das naturgetreue Bild meines Bruders.“ Sich selbst sehen sie nicht im Spiegel. Ihr möget ihren Charakter noch so deutlich zeichnen, sie werden ihn nicht erkennen. Saget ihnen: „Das bist du selbst!“ Sie werden es nicht glauben. Es findet sich eben in ihrem Innern ein gewisses Etwas, wodurch das Gewissen verdunkelt wird, nämlich die Sünde, welche sowohl den Verstand, als das Herz abstumpft und gleichsam einen Flor über die Schärfe des Verstandes zieht. Die Sünde gleicht dem Schierling: sie ertötet den Sinn, so daß das geistige Auge sich zu schließen beginnt, daß das geistige Ohr und das Herz gefühllos wird. Und wenn die Menschen mit ihrem freien Willen sich in diesen Zustand versetzt haben, dann erfolgt das gerechte Gericht Gottes. „Er hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verhärtet, daß sie mit den Augen nicht sehen, noch mit dem Herzen vernehmen und sich bekehren und Ich sie heile. So sprach Isaias, als er Seine Herrlichkeit erblickte und von Ihm redete.“ (Joh. 12, 40f)
Wer das Wesen der Sünde deutlich sieht
Es gibt noch eine andere beherzigenswerte Wahrheit: daß nämlich Niemand das Wesen der Sünde so deutlich einsieht, als derjenige, welcher von der Sünde am Meisten frei ist. Kein Verstand erkennt dieselbe mit einer solchen Deutlichkeit und Schärfe als Gott Selbst. Unser göttlicher Heiland Jesus Christus, der sündenlose Gottessohn, ergründete die Sünde in all ihrer Hässlichkeit, wie kein menschliches Herz sie je zu ergründen vermag. Seine unbefleckte Mutter erkannte, weil unbefleckt, die Sündhaftigkeit der Sünde in Folge des Lichtes ihrer Erkenntnis und des lebhaften Abscheus ihres ganzen geistigen Wesens gegen dieselbe. So in gleicher Weise die Heiligen Gottes: ein Jeder von ihnen im Verhältnis zu seiner Heiligkeit. Auch ihr werdet in demselben Maße, in welchem ihr von Sünden frei seid, die Bosheit der Sünde verstehen und dieselbe hassen. Und wenn ihr zu irgend einer Zeit eures Lebens Sünden begangen habt: in dem Maße, in welchem ihr euch von eurem früheren Leben trennt, den bisherigen Charakter ablegt und den alten Adam auszieht, jenes Wesen, das euch jetzt nicht mehr angehört, sondern als ein häßliches, widerwärtiges Ding, das mit eurer Kindheit, eurem Knabenalter und eurer Jugend innigst verwachsen war, aber jetzt nicht mehr euer ist, euch gegenüber steht — in demselben Maße werdet ihr die Sündhaftigkeit der Sünde erkennen. Ihr könnt dann zurück blicken auf euer vergangenes Leben und eure Sünden so verstehen, wie ihr sie bis dahin nicht verstandet. Schlägt dann euer letztes Stündlein, so werdet ihr euren gegenwärtigen Charakter und euer gegenwärtiges Leben in einem Licht erblicken, glänzender und klarer, als jenes, in welchem ihr es jetzt seht. Schaut also hin auf das Licht der Gegenwart Gottes und bittet Ihn, Er möge euch eine solche Selbstkenntnis verschaffen, wie Er sie von euch besitzt, Er möge euch euer Inneres so deutlich sehen lassen, wie Er es jetzt sieht; denn hättet ihr auch den tiefsten Abgrund eurer Seelen erkannt: stände dieses im Vergleich zu der Erkenntnis, welche Gott von demselben hat? Denken wir daher niemals, daß wir jetzt alle unsere Sünden erkennen; bilden wir uns nicht ein, daß wir uns unserer Sündhaſtigkeit vollends bewußt seien. Wir stehen immer am Anfang, dieses zu lernen und müssen uns das ganze Leben lang hiermit beschäftigen. Es gibt drei Abgründe, welche kein menschlicher Verstand je, auch nur annähernd, zu begreifen vermag: den Abgrund unserer eigenen Sündhaftigkeit, den Abgrund unserer Unwürdigkeit und den unserer Nichtigkeit. Wohl euch, wenn ihr anfangt, dieselben kennen zu lernen und in dieser Kenntnis immer weiter fortschreitet. Fürchtet nicht, eure eigene Sündhaftigkeit je zu deutlich erkennen zu können; denn wer zeigt sie uns? Es ist das Licht des Geistes Gottes; es ist derjenige, welcher allein das Herz erforscht und allein die Selbstkenntnis uns verschaffen kann. Je mehr ihr von eurer Sündhaftigkeit entdeckt, eine um so gewissere Bürgschaft Seiner Gegenwart besitzet ihr, um so deutlicher erfahret ihr, daß Er in euch und mit euch ist und sich bemüht um euere Erlösung. Er verleiht euch die Bürgschaft und die Verheißung, daß Er in der Bereuung einer jeden Sünde, welche ihr entdeckt, euch helfen wird: eine jede Sünde aber, welche ihr bereut, wird in dem kostbarsten Blute Jesu Christi getilgt.
Mahnung zur Selbstkenntnis
Zum Schluß noch ein Wort, die erste Mahnung in der gegenwärtigen Fastenzeit: „Seid bemüht, euch selbst kennen zu lernen, befleißigt euch während dieser hl. Tage einer Selbstkenntnis, wie ihr sie nie zuvor besessen habt. Beginnt hiermit, als geschähe es zum ersten Male. Nehmet die zehn Gebote, lest ihren Wortlaut, versteht wohl ihren Geist und strengt euch an, euer ganzes Leben von eurer Kindheit, von den ersten Anfängen eures Gedächtnisses an nach jenem göttlichen Gesetz zu erforschen. Nehmt die sieben Hauptsünden und fragt euch, ob ihr in Gedanken, Worten oder Werken eine derselben begangen habt. Fleht unablässig zu dem Geist Gottes, dessen Werk und Geschäft es ist, die Welt der Sünde zu überführen. Betet jeden Tag in der gegenwärtigen Fastenzeit, Morgens und Abends, daß der Geist von Oben euern Verstand erleuchten möge, um das Wesen der Sünde zu erkennen und euer Gewissen zu überzeugen, auf daß ihr erfahret, welche Sünden auf euch lasten. Betet zu Ihm, daß das Licht der Gegenwart Gottes gleich dem hellen Lichte des Mittags auf euch sich herablasse, damit ihr nicht etwa bloß die gröberen und schwereren Sünden erkennen könnt, sondern auch die feineren und verdeckteren Beleidigungen gegen Gott gerade so, wie wir die unscheinbaren Stäubchen gewahren, welche sich im Sonnenglanz des Mittags bewegen. Je fleißiger ihr in der Gegenwart Gottes wandelt, je mehr das Licht Seiner Vollkommenheiten euch erleuchtet, um so besser und deutlicher werdet ihr euch selbst erkennen. Der Patriarch Job, welcher lange Zeit im Gebet, in der Unterhaltung und in der Vereinigung mit Gott zugebracht hatte und sehr hart heimgesucht war (die Heimsuchungen Gottes sind ja ein sehr geeignetes Mittel, um zur Selbsterkenntnis zu gelangen), sprach am Ende seiner Leiden, als Gott mit ihm redete, im Lichte Seiner Gegenwart: „Mit dem Hören des Ohres habe ich Dich gehört, aber jetzt sieht Dich mein Auge: deshalb verurteile ich mich selbst und tue Buße in Sack und Asche.“ (Job 42, 5f)) –
aus: Heinrich Eduard Kardinal Manning, Die Sünde und ihre Folgen, 1876, S. 22 – S. 26