Die Lehre Jesu im Licht der Aszese

Die Aszese des göttlichen Heilandes

Die Lehre und das Leben Jesu im Licht der Aszese

In diesem allgemeinen und milden Lichte läßt uns auch die Lehre und das Leben des Heilandes die Aszese erblicken. Allerdings ist der Heiland auch der Lehrer der höheren Vollkommenheit, wenn er denen, die ihm näher stehen und namentlich im apostolischen Beruf folgen wollen, Armut, Keuschheit, Gehorsam und völlige Weltentsagung vorschreibt (Mt. 19,12; Mk. 10,21 u. 29; Lk. 9, 57; 12,33) Er stiftete damit den Ordensstand als besonderen Stand zur Vollkommenheit. Die Vollkommenheit selbst aber wollte er nicht auf diesen Stand beschränkt wissen. Bei seinen Lehrvorträgen, namentlich bei der Bergpredigt, war die Zuhörerschaft eine sehr gemischte. Sie bestand aus den Jüngern, aus Volk von allen Gegenden des Gelobten Landes, von allen Lebens- und Geistesrichtungen und selbst aus Heiden (Mt. 4,25; Lk. 6,17). Allen ohne Unterschied trug er die erhabenen Sätze seiner himmlischen Lehre und selbst die erhabensten Räte der Vollkommenheit vor, namentlich Großmut im Geben und Vergeben (Mt. 5, 39-47), und er schließt die Anempfehlung mit dem herrlichen Wort: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Mt. 5,48) Später zauderte er nicht, selbst einer Tafelgesellschaft von Pharisäern reinsten Wassers Ratschläge der höchsten Vollkommenheit zu erteilen. (Lk. 14, 13 u. 14) So gibt es auch unter anderem nichts Schwereres und Erhabeneres im geistlichen Leben als die Lehre des Kreuzes, und gerade sie wollte er von allen befolgt wissen. (Mk. 8,34; Lk. 9,23; 14,25ff.)

Das ist der gesetzgeberische Griff des Heilandes, er unterdrückt nicht bloß das Böse im menschlichen Herzen, sondern schafft dem Guten Luft durch freiwilliges Streben nach dem Besten. Das selbstwillige, edle Verlangen nach der Vollkommenheit ist die klärende und erfrischende Luft, die sich über das ganze menschliche Leben legen soll. Ohne Liebe der Übergebühr könnte auch die wesentliche Liebe nicht lange das Leben fristen, und die Gebote können nicht leicht bestehen ohne die Räte. Mit der Gnade Gottes kann somit die Vollkommenheit jedermanns Sache sein.

Dasselbe bestätigt der Heiland auch in seinem Leben und in seiner öffentlichen Erscheinung. Zur Zeit Christi hatte im Judentum das geistliche Leben verschiedene Gestalten gewonnen. Da waren die Pharisäer, die Sadduzäer, die Essener und die Johannesjünger. In keiner dieser Lebenserscheinungen, mochten sie auch vom Guten sein, trat der Heiland auf. Er nahm nicht einmal die Lebensform des christlichen Ordensstandes an, dessen Stifter er doch war. Er lebte ehelos, aber immer im Verkehr mit der Welt; er war arm, aber nicht so, daß er bettelte; er lebte stets in der tiefsten Beschauung und zugleich in der angestrengtesten äußeren Tätigkeit; er übte große Entsagung, aber stets in der Freundlichkeit des gewöhnlichen Lebens. Er war das reine Licht der Vollkommenheit, das alle Farbenstrahlungen in sich schließt und dieselben gebrochen in großer Mannigfaltigkeit zur Anschauung bringt. Zur wahren Strenge des Lebens ist ein außergewöhnliches Maß äußerer Härte auch gar nicht unbedingt notwendig. Ein hohes und erhabenes Ziel im geistlichen Leben, angestrebt mit entsprechenden Mitteln und trotz aller Schwierigkeiten mit Kraft und Ausdauer festgehalten, genügt, um Anspruch auf Strenge zu machen, vorausgesetzt natürlich, daß die äußere Lebensart nicht unberechtigter Weise der Weichheit und Sinnlichkeit schmeichelt (Suarez, De religione Soc. Iesu)

So war es beim göttlichen Heiland. Der hohe Ernst seines Geistes hüllte sich in die Unauffälligkeit und Liebenswürdigkeit eines gewöhnlichen Lebens. Es folgt hieraus, daß wir alle Zumutungen, als wäre die Aszese nichts als Selbstpeinigung und Quälerei des Geistes und des Fleisches oder sie bestehe bloß in der Übernahme des Ordensstandes, als unberechtigt und gegenstandslos abweisen. Das ist nicht das ganze Wesen der Aszese. Sie ist etwas viel Höheres und Erhabeneres, mild, freundlich und freudenhell wie die Weisheit, gerade das, was wir am Heiland sehen, sie ist mit anderen Worten die Übung des religiösen Lebens durch Streben nach der christlichen Vollkommenheit. –
aus: Moritz Meschler SJ, Gesammelte Kleinere Schriften, 1. Heft: Zum Charakterbild Jesu, 1908, S. 5 – S. 7

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