Das Kruzifix sei alle Tage auch mein Lehrbuch
Der hl. Philipp übte von Jugend auf bis zu seinem Tode Liebe und Güte gegen Alle, Strenge und Härte nur gegen sich selbst; an der Hand dieser zwei Gegensätze stieg er empor auf dem schmalen Wege der Nachfolge Jesu bis zur Vollkommenheit. Das Lehrbuch, aus dem er diese schönste Lebensweisheit schöpfte, war das Kreuz mit dem Bilde des sterbenden Jesus. Und in Wahrheit, kein Buch verkündet so laut und mächtig vor Himmel und Erde die zwei Haupttugenden Jesu: „Seine Barmherzigkeit gegen Alle und seine Gerechtigkeit gegen sich selbst!“
1. Jesus litt am Kreuz unbeschreibliche Qualen aus lauter Barmherzigkeit und Mitleid gegen das dreifache Elend, unter dem alle Menschen schmachten:
a) Aus Mitleid mit unserer sittlichen Verkehrtheit und Ohnmacht, vermöge deren wir unmöglich uns in den Stand der heiligmachenden Gnade zurück zu versetzen und unser Heil zu wirken vermöchten, hat Jesus einen unerschöpflichen Schatz von Wahrheit und Gnade gegründet, der Allen das Heil möglich macht.
b) Aus Mitleid mit unserer Sündenschuld, vermöge deren wir als Kinder Adam`s von Rechts wegen ewig verstoßen zu werden verdienen, hat Jesus den bittersten Tod den Schmerz der gänzlichen Verlassenheit auf sich genommen, damit Alle, welche an Ihn glauben, von dieser ewigen schuld befreit seien.
c) Aus Mitleid mit unserer Sterblichkeit, vermöge deren wir als Kinder Adam`s unzähligen Leiden und Mühsalen und dem Tode verfallen sind, hat Jesus Allen, welche in der heiligmachenden Gnade verharren, den Himmel geöffnet, und dem hl. Petrus die Schlüssel dazu gegeben. O welche Barmherzigkeit offenbaren uns die tiefen Wunden, die ausgespannten Arme, die sterbenden Lippen und die geöffnete Seite!
2. Jesus litt am Kreuze unermeßliche Qualen aus Liebe gegen Gott. Jesus hat als wahrer Mensch die Sünden der ganzen Welt auf sich genommen, um dem himmlischen Vater für diese Ihm angetanen Beleidigungen volle Genugtuung zu leisten und die schuldige Ehre zu erweisen. Denn seine Gottesliebe konnte und wollte es nicht ertragen, daß dem dreimal heiligen Vater die vom Geschöpf geraubte Ehre nicht zurück erstattet, die zugefügte Schmach nicht gesühnt werde. Diese Schuld der Rückerstattung und Sühne nun hat Jesus in höchster Vollkommenheit abbezahlt dadurch, daß Er dreiunddreißig Jahre lang in Allem den Willen des ewigen Vater erfüllte, nur für dessen Ehre eiferte und dann für die Menschen unter den schrecklichsten Schmerzen und Demütigungen am Kreuze sein heiligstes Leben hingab. O unendlich barmherziger und gerechter Gott, das Kruzifix sei alle Tage auch mein Buch! – lehre mich lesen in diesem Buch! –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 624