Das Buch der Auserwählten – Jesus Christus
Unter andern schönen und geheimnisvollen Benennungen, womit Jesus, unser göttlicher Heiland, in den heiligen Schriften bezeichnet wird, befindet sich auch der Name Buch, welcher gewiß sehr bedeutsam und für Wesen wie wir, die von Lernbegierde getrieben werden und sogar durch allzu große Wissenslust ehedem zu Grunde gegangen sind, von besonderer Wichtigkeit ist. Der Prophet Ezechiel im alten und der heilige Johannes im neuen Bunde reden von einem gewissen Buch, das ihnen gezeigt wurde und innen und außen beschrieben war (Ezech. 8,9 – Offenb. 5,1); und auf die Frage, was das für ein Buch sei und was es bedeute, antwortet der heilige Bernard mit andern heiligen Vätern, es stelle den Heiland vor. Die Gottheit dort oben im Reiche der Herrlichkeit ist, wie der heilige Augustin sagt, das Buch, welches die Seligen mit höchster Wonne unaufhörlich lesen und daraus all jene Erkenntnis schöpfen, deren ein erschaffener Geist fähig ist. Dieselbe Gottheit ist hienieden im Stande der Gnade das Buch der Gerechten, worin sie ihre Unterweisung finden und die wahre Weisheit erlernen…
Fürwahr, ein wundersames und ganz neues Buch ist der gekreuzigte Gottessohn Jesus Christus; ein Buch, so nicht mit gewöhnlicher Tinte und in gemeinen Buchstaben, sondern mit Nägeln, Dornen und Geißeln, mit Blut und einer Unzahl von Wundern – jegliche schon eine gewaltige Rede – geschrieben ist, und welches in solcher Beschaffenheit, offen, aufgeschlagen und auf das Kreuz als auf einen Pult gleichsam gelegt, von allen gesehen und gelesen werden kann.
Das ist eben jenes Buch, welches das Fleisch gewordene Wort, die Weisheit des Vaters, der erhabene Lehrer des menschlichen Geschlechtes, am Ende seines Lebens verfaßt und ans Licht gegeben hat; denn, wie der heilige Hieronymus bemerkt, der Heiland hat kein besonderes Buch von seiner Lehre hinterlassen, er meint, kein auf gewöhnliche Weise verfertigtes Buch, weil er sich selbst am Kreuz hingegeben und hinterlassen hat als ein ganz vortreffliches und vollkommenes Buch, welches nicht in toten Buchstaben, sondern in lebenden Handlungen alle Geheimnisse der tiefsten Weisheit lehrt und bei seiner ersten Eröffnung ein die Sonne selbst überstrahlendes Licht entsendet…
Der Engel, der dem Propheten Ezechiel das oben erwähnte Buch zeigte, befahl ihm darauf, es zu essen: Tue deinen Mund auf, sprach er, und iß dieses Buch d. h. kaue es, betrachte, was es es enthält, damit du es verstehst; denn eine Speise nützt nichts, sondern schadet vielmehr, wofern sie nicht verdaut wird, und sie verdaut nicht, wenn mann sie nicht kaut. Hiermit wollte er uns lehren, daß wir wohl erforschen und mit großer Sorgfalt erwägen sollen, was in dem wunderbaren Buch des Gekreuzigten geschrieben steht; daß wir die gediegene Speise, welche es uns darreicht, mit dem Zahn der Betrachtung zermalmen und vermittelst der Wärme des Willens und der Anmutungen verdauen sollen, so daß sie fähig wird, uns zu nähren, zu stärken und ein göttliches Wohlsein uns mitzuteilen…
In der Tat, da wir alle in diesem Buch geschrieben sind und unser Los, unser Schicksal und das ganze Geschäft unseres Heiles darin beruht, so haben wir große Ursache, es sorgsam zu lesen und zu studieren, und sollen eine besondere Andacht zu dem gekreuzigten Heiland tragen, der uns durch den Propheten Jesaias zuruft: „Siehe, in meine Hände hab` ich dich geschrieben.“ (Is.49, 16)…
All jene, die dereinst an deiner Herrlichkeit Teilnehmen sollen, werden auf besondere Weise in deinem Buch, d. h. in deinem ans Kreuz gehefteten Sohn geschrieben sein: Dort entstehen die Tage, dort werden die Kinder des Lichtes empfangen und gebildet, und anderwärts kann keiner von ihnen seinen Ursprung nehmen. Denn, wie der Jünger der Liebe sagt, alle, die nicht geschrieben sind im Lebensbuch des Lammes, das da seit dem Anbeginn der Welt geschlachtet und geopfert worden, werden in die Finsternisse verstoßen und auf ewig in den Feuerpfuhl geworden werden. (Offenb. 20, 15. 13,8) –So nehmen wir denn dieses Buch in die Hand, studieren wir es und richten unseren Geist darauf, mit dem gottseligen Heinrich Suso zu dem Herrn sprechend: Lehre mich die wahre Philosophie in der Schule deines Herzens, reinige und vervollkommne mein Wissen in deinen Wunden und laß mich die hohe Weisheit, die sie lehren, erfassen: du mein Gekreuzigter, der du ein Buch der Klarheit und der Erleuchtung bist, sollst fürderhin mein einziges Buch und mein ganzes Studium sein, wodurch ich von Tag zu Tag zunehme und allen wandelbaren Kreaturen mehr ersterbe; so daß ich nicht mehr ich selbst, sondern ich in dir und du in mir seien, mit unauflöslichem Band der Liebe miteinander verbunden. –
aus: de Saint-Jure SJ, Das Buch der Auserwählten oder Jesus der Gekreuzigte, 1851, S. 7 – S. 13