Sechste Vater Unser Bitte
Führe uns nicht in Versuchung
Was nun aber da … als Ausrede gebraucht, um die Schuld und Missetat von sich ab – auf den Versucher aus der Unterwelt zu wälzen, das denken und reden ihm gar oft auch Christen nach: sie schieben, mit Recht oder Unrecht, ihre Sünden oder doch einen Hauptteil daran dem Versucher in der Hölle, dem Teufel, in die Schuhe, oder wagen es gar oft, gotteslästerlich unsern Herrgott selbst dafür verantwortlich zu machen. Und wird denn diese Meinung nicht durch die sechste Bitte im Vaterunser bestätigt: „Führe uns nicht in Versuchung?“ Daher ist vor allem klar zu machen, was es heißt unser Herrgott solle uns nicht in Versuchung führen.
Unter Versuchung ist jede Anreizung und Lockung zur Sünde zu verstehen. Das aber ist von selbst klar, daß unser Herrgott, heilig und gerecht, wie er ist, niemand zur Sünde reizen und antreiben kann. Daher schreibt der hl. Jakobus mit Recht: „Niemand sage, wenn er versucht wird, daß er von Gott versucht werde; denn wie Gott nicht zum Bösen versucht werden kann, so versucht auch er niemand.“ (1,13)
Wie kommt es denn aber, daß wir beten sollen: „Führe uns nicht in Versuchung“, wenn Gott uns nicht versucht, oder vielmehr angesichts seiner Heiligkeit gar nicht versuchen kann? Diese Frage legt uns schon von selbst nahe, daß das „in Versuchung führen“, wenn von Gott die Rede ist, eine andere Bedeutung hat, als wenn es von Menschen oder gar vom Teufel ausgesagt wird. Und welches ist diese Bedeutung? –
Um diese Frage richtig zu beantworten, ist erst kurz zu sagen, auf wie vielerlei Weise einer „Schuld“ und Ursache, Urheber oder wenigstens Teilnehmer an einer Handlung, an einem Erfolg oder Misserfolg sein kann… Wenn wir also beten: „Führe uns nicht in Versuchung“, so dürfen wir dabei nicht an die unerlaubten, sündhaften Weisen, jemand in Versuchung zu führen, denken, sondern nur an jene, die sich mit Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit vertragen. Solche aber sind jene, bei welchem die Mitwirkung Gottes zur Versuchung zunächst in deren Zulassung besteht. Tria tentant hominem, es sind ihrer drei, die den Menschen (zur Sünde) versuchen; aber unser Herrgott ist keiner von ihnen, sondern: mundus, caro et daemon, die Welt, das Fleisch und der Satan. Dieser alten Firma also, Beelzebub und Kompagnie, ist allein der Betrieb der Versuchung zuzuschreiben.
Aber unser Herrgott kann aus besonderen Gründen diese drei Versucher gegen uns operieren lassen, ohne ihnen zu wehren, ohne uns mit seiner Gnade zu helfen, teils um uns für unsere Untreue, für unseren Hochmut, für unseren Leichtsinn, für unsere Trägheit, für unsere leichtfertige Unterhaltung, für unsere schlüpfrige Lektüre zu strafen, teils um uns in der Demut zu üben und in der Tugend zu stärken; er kann dies zulassen, ohne deshalb zum Mitschuldigen unserer Sünde zu werden, wenn wir in die Versuchung eingehen und in der Versuchung fallen. In der heiligen Schrift wird die Verhärtung des Königs Pharao bald diesem selbst, bald Gott zugeschrieben. Anders war aber Pharao, anders Gott Ursache dieser Verhärtung: von Seiten des Pharao ist sie Schuld, von Seiten Gottes ist sie Strafe; Pharao ist Ursache seiner Verhärtung durch Zurückweisung der Gnade, Gott ist Ursache durch Entziehung der (zurückgewiesenen) Gnade. Wenn also Moses berichtet: Gott verhärtete das Herz des Pharao, so zeugt dies zwar von Schuld, aber nicht auf Seiten Gottes, der die Verhärtung als Strafe verhängt, sondern auf Seiten des Pharao, der sie verdient.
Was nun aber da von der Verhärtung gesagt ist, gilt nur allzu oft auch von der Versuchung; sie erscheint unsererseits nur allzu oft als verschuldet, als Folge schlechter Tat, als Folge schlechter Gewohnheit (indem die Sünde im Sünder immer die Neigung zur Wiederholung zurückläßt); von Seiten Gottes aber als verdiente Strafe. Daher haben wir schon aus diesem Grunde immer Ursache zu beten: „Führe uns nicht in Versuchung!“
Aber auch dann, wenn die Versuchung nicht als Strafe erscheint, kann sie unser Herrgott doch über uns kommen lassen, ohne mit seiner Heiligkeit in Widerspruch zu geraten; er kann sie zulassen, um uns in der christlichen Tugend zu üben, zu erproben, zu vervollkommnen…
Wenn also Gott Versuchungen über uns kommen läßt, so tut er das nicht, um uns – zur Sünde zu reizen, sondern um uns im Kampf gegen die Sünde zu bewähren: „Unser irdisches Pilgerleben“, sagt der hl. Augustinus, „kann der Versuchung nicht entbehren. Niemand kann gekrönt werden, er habe denn gesiegt, niemand kann siegen, er habe denn gekämpft, niemand kann kämpfen, er habe denn Feinde und Anfechtung.“
Aber gerade diese Feinde sind immer und überall mit ihrer Anfechtung zur Stelle, wo ein Christ sich sehen läßt; wir kenne sie bereits, es sind diese drei: die Welt, das Fleisch und der Satan. Daß aber diese drei dem armen Christen gefährlich und verhängnisvoll werden können, o das bezeugt die Weltgeschichte schon auf ihrem ersten Blatt, und bezeugt jedem die eigene Erfahrung und die traurigen Niederlagen, die er erlitten. Daher sollen hier diese drei Teilhaber des großen industriellen Geschäftes von der Versuchung etwas näher ins Auge gefaßt und mit ihren Praktiken und Kniffen etwas deutlicher gekennzeichnet werden, damit jeder, der mit ihnen zu schaffen bekommt, weiß, wie er mit ihnen daran ist… –
aus: Philipp Hammer, Der Rosenkranz, eine Fundgrube für Prediger und Katecheten, ein Erbauungsbuch für katholische Christen, I. Band, 1896, S. 370 – S. 376