Verschiedene Phasen der messianischen Frage im Schoße des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems
Zweites Kapitel.
Periode der Unruhe
I.
Es gibt bei den Juden, in den Jahrhunderten der Zerstreuung, eine dunkle, vergrabene Geschichte des Messias, ohne Spur, ohne Zusammenhang. Nun, nachdem wir deren Details erforscht haben und allen ihren Labyrinthen nachgegangen sind, glauben wir, daß man alles auf drei oder vier große Perioden zurückführen und hinauslaufen lassen kann, deren erste, der Gegenstand dieses Kapitels, den Namen: Periode der Unruhe tragen soll.
Versetzen wir uns im Geist auf die Felder Palästina`s zu jener geheimnisvollen Zeit, welche die heilige Schrift „die Fülle der Zeiten“ nennt und welche alle Geschichtsschreiber, Dichter, Gesetzgeber, Philosophen einstimmig in das Zeitalter des Augustus verlegt haben.
Was bedeutet dieser Ausdruck: „die Fülle der Zeiten“ und welche Physiognomie zeigt in dieser Epoche die Synagoge?
Die „Fülle der Zeiten“ will sagen: für die Synagoge war die Zeit gekommen, daß sie gebären sollte, sei es, weil die Welt reif war, um zu empfangen, sei es, weil die messianische Frucht reif war, um gegeben zu werden.
Es gibt in der Tat ein erhabenes Gesetz, welchem Gott alle Seine irdischen Werke unterworfen hat, nämlich das Gesetz des Keimes. Alles hienieden ist in einen Keim gelegt worden: die Pflanze, der Mensch, die Menschheit, der Messias selbst; und folglich, während die Pflanze wuchs, der Mensch sich entwickelte, die Menschheit fortschritt, keimte gleichfalls der Messias unter dem Himmel Judäa`s, in dem Schoß der Synagoge.
Deshalb begrüßen Ihn die Propheten oft mit so freudigen Namen wie „Keim des Herrn“, „Blume, welche aus der Wurzel Jesse aufsprießt“, „die auserlesene Frucht der Erde“. Damals also, da die seit viertausend Jahren fortschreitende Menschheit reif war, um zu empfangen, und der im Schoß der Synagoge genährte Messias reif war, um gegeben zu werden, war die „Fülle der Zeiten“.
Nun, in diesem Augenblick charakterisiert die Synagoge eine eigentümliche Aufregung. Ja, man lese unsere Geschichte in der Absicht, den von uns angegebenen Gesichtspunkt zu finden, und man wird sehen, daß man zu dieser Zeit in Judäa aufgeregt und unruhig war, wie man es zu sein pflegt, wenn auf einem Feld die Ernte reif oder in einer Familie die Stunde der Geburt gekommen ist.
Und als ein Kontrast, der überraschen muss, zeigt es sich, daß, während der hervorstechende Zug der Synagoge Aufregung ist, zur selben Zeit dagegen eine Ruhe voll Vorahnungen den hervorstechenden Zug des ganzen Heidentums bildet, weil seine Rolle die des Wartens ist. „Alle Völker harren auf Ihn.“
Dieser Kontrast zeigt sich namentlich deutlich in der Episode der drei Weisen aus dem Morgenland; in ihnen kommt das Heidentum mit der vollkommensten Natürlichkeit und größten Ruhe, um sich zu erkundigen, wo der König der Juden ist (Matth. 2, 2), den sie erwarten; aber ganz Jerusalem, sagt der historische Text, erschrak über diese Frage: „turbatus est et omnis Jerosolyma sum illo.“ (ebd., 3) Man achte wohl darauf: dieser Schrecken Judäa`s wegen des Messias, dessen Ankunft es ahnt, erklärt alle seine anderen Aufregungen; und wenn Jerusalem zu jener Zeit sich nicht scheut, sich allein in einen Krieg gegen alle Mächte eines Reiches gleich dem römischen Reich zu verwickeln, so findet man hierfür den wahren Grund in dem, was eine jüdische Hand niedergeschrieben hat: „Was sie hauptsächlich bewog, sich in diesen unglücklichen Krieg einzulassen, war die Unbestimmtheit einer Stelle der Schrift, welche besagte, man werde zu jener Zeit einen Mann ihres Landes über die ganze Erde herrschen sehen.“ (Joseph.1. VI. c. 31)
Die „Fülle der Zeiten“ oder die Reife der messianischen Frucht, das war die erste große Ursache, welche die Synagoge in Aufregung und Bestürzung versetzte, als eine unerwartete Katastrophe dieser Aufregung einen unheilvollen Charakter verlieh: es war die aufeinander folgende Zerstörung alles dessen, was beitragen sollte, den Messias zu schaffen.
Wenn die Propheten ihre begeisterten Blicke über die Natur hatten schweifen lassen und sie dann wieder auf das Haus Jesse oder David richteten, verglichen sie dieses mit einem Stamm, aus dem die messianische Frucht, die köstliche Frucht hervorsprießen sollte.
Und nun plötzlich, als ob die Frucht daraus hervorgegangen wäre, erleidet der Stamm Jesse das Schicksal der Pflanze, die aufgehört hat, alles das hervor zu bringen, was hervor zu bringen sie berufen war.
Zuerst fallen die Blätter ab. Seine Blätter, sein schönes Laub, ach, waren es nicht jene berühmten Geschlechtsregister, welche, mit eifersüchtiger Sorge im Tempel aufbewahrt, dazu dienten, den Stamm Juda vor allen andern Stämmen und im Stamm Juda die Familie Davids vor allen andern Familien auszuzeichnen! Im Jahr 70 verbrannten alle diese genealogischen Blätter mit dem Tempel; die Archive, die Rollen, die Familienurkunden, alles verbrannte, nichts konnte gerettet werden.
Von diesem Verlust an gerechnet, beginnt für die jüdischen Familien ein Zustand der Finsternis, unauflösbarer Verwirrung, welche dem Talmud jenen Schrei der Trauer entreißen sollte:
„Von dem Tage an, da das Geschlechtsbuch verborgen oder zerstört worden ist, ist die Kraft der Weisen schwach geworden, hat sich das Licht ihrer Augen in Finsternis verwandelt.“ (1)
Und nicht allein die genealogischen Blätter fallen von dem Stamm ab, sondern der Stamm selbst, die königliche Familie Davids, ist abgehauen, vertrocknet und verschwindet. Herausgerissen aus dem Boden Palästina`s, zerstreut mit allen anderen Familien und man weiß nicht mehr, was aus ihnen geworden ist. Zu Ende des Jahrhunderts, welches die Plünderung Jerusalems sah, spricht die Geschichte noch ein Mal davon, und das ist alles. (2) Vergebens werden später hebräische Schriftsteller – Aben-Ezra, Benjamin von Tudela, Abarbanel – versuchen, den Glauben zu erwecken, als ob die Häupter oder Fürsten der Gefangenschaft, welche sich vom dritten bis zum elften Jahrhundert unter den Juden von Bagdad gefolgt sind, Abkömmlinge Davids wären: diese gänzlich unbegründete Behauptung wird keinen Glauben finden können. (3)
Nein, die unwiderlegliche Wahrheit ist diese: ebenso, wie die letzte feierliche Darlegung der Geschichtsblätter in der von Augustus befohlenen Zählung am Vorabend von Weihnachten stattgefunden hatte, ebenso hat das Volk das letzte Hosanna einem Sprössling Davids am Palmsonntag zugerufen; seitdem spricht man nicht mehr von David, man findet nichts mehr von ihm, man weiß nichts mehr von ihm.
Und nachdem die Blätter abgefallen sind, nachdem der Stamm abgehauen worden ist, verhärtet sich selbst die Erde, gleichsam um zu zeigen, daß ihre Fruchtbarkeit nicht mehr notwendig ist. Der Sabbat der Erde beginnt. Nachdem sie ihre Frucht hervorgebracht hat, kann sie ruhen. Die große Prophezeiung des Moses ist in Erfüllung gegangen: „Euch aber will ich unter die Völker zerstreuen“, hat der Herr gesagt, … „Euer Land wird wüst sein und Eure Städte zerstört… und das Land wird feiern und ruhen an den Sabbaten.“ (Lev. 26, 33-35)
Anmerkungen:
(1) Talm. Babyl. Tract. Pesachin, c. V. f. 62. – Um den Messias erkennen zu können, sind die Geschlechtsverzeichnisse so notwendig, daß die berühmtesten Rabbiner, unter anderen Maimonides und Menasse-Ben-Osrael, übereinstimmend erklären, es werde die erste Funktion des Messias sein, sie wieder herzustellen. Folgendes sind die Worte des Maimonides: „Zur Zeit des Königs Messias, sobald sein Reich gebildet sein wird und alle Israeliten sich um seine Person versammelt haben werden, wird das Geschlechtsregister eines Jeden durch ihn wieder gefunden werden, weil der heilige Geist seine Leuchte ist. Er wird sich also niederlassen, um Klarheit zu bringen, und indem er zuerst die Kinder Levi`s unterscheiden wird, wird er sagen: „Dieser ist aus diesem Stamm, Jener nicht.“ Tract. Mélachim, c. XII.
(2) Hegesippus erzählt wirklich, im Jahre 95 wären dem Domitian zwei Abkömmlinge Davids, Enkel eines gewissen Judas (des heil. Apostels Judas), welcher ein leiblicher Vetter von Jesus Christus war, angegeben worden. Domitian, immer misstrauisch gegen jeden, der die Empörung Jerusalems wieder neu hervorrufen konnte, fand es der Mühe wert, sie nach Rom führen und in der kaiserlichen Gegenwart verhören zu lassen. Nun, diese Juden waren Christen; sie sagten aus, sie seien Abkömmlinge des Königs David; ferner fügten sie hinzu, sie besäßen zusammen ein Vermögen von 9000 Denaren (9000 Fr.) nicht in Gold, sondern in Grundbesitz; sie hätten 39 Plethren (3 Hekt. 71) Land, von dem sie Steuer bezahlen und von dem sie, nach Abzug der Steuer, mit Mühe und vermittelst ihrer Hände Arbeit lebten. Diese Söhne der Könige zeigten dem Sohn Vespasians ihre mit Schwielen, bedeckten Hände. Befragt über Christus und Sein künftiges Reich, antworteten sie: dieses Reich wäre nicht von dieser Welt, sondern ein himmlisches und englisches Reich, das am Ende der Zeitalter anbrechen solle, wenn Christus kommend in Seiner Glorie die Lebendigen und Toten richten werde. Domitian war zugleich beruhigt und erstaunt. Er verachtete diese Bauern, sagt Hegesippus, und ließ sie frei. (Hegesip. Apud Euseb. II. 20. – Champagny, les Antonins.)
(3) Die Fürsten der Gefangenschaft waren, so prachtvoll auch ihr Name klingt, nur jüdische Beamte, denen die Könige von Persien und nach diesen die Herrscher des parthischen Reiches eine gewisse Macht über ihre Religionsgenossen einräumten. –
aus: Gebr. Lémann, Die Messiasfrage und das vatikanische Konzil, 1870, S. 6 – S. 10
Fortsetzung Kapitel 2 Teil 2: Die siebzig Wochen des Propheten Daniel
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