Die siebzig Wochen des Propheten Daniel

Verschiedene Phasen der messianischen Frage im Schoße des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems

Zweites Kapitel.

Die siebenzig Wochen des Propheten Daniel

II.

Angesichts des wunderbaren Zusammentreffens dieser beiden Ereignisse, der Reise der messianischen Frucht, welcher alsbald die Zerstörung alles dessen folgt, was dazu beitragen sollte, sie keimen zu machen – wer könnte wagen, zu behaupten, die Seele unserer Väter sei nicht von unaussprechlichen Todesängsten erfasst gewesen? …

Es gab also eine Zeit, in welcher unsere Nation, nachdem sie mit Vertrauen und Hoffnung den Messias erwartet hatte, weil sie fühlte, daß die Stunde Seiner Geburt gekommen war, düster und unruhig wurde, als sie nacheinander sowohl die Geschlechtstafeln, als das Königtum Juda`s, den Stamm Jesse und Jerusalem verschwinden sah. Damals war es, daß unsere Väter die der Bibel entnommene berühmte Prophezeiung von den „Wochen“ Berechnungen und Kombinationen unterzogen, die in Erstaunen versetzt haben und noch in Erstaunen versetzen.

Folgendes hatte Daniel unter der Eingebung des Engels aufgezeichnet:

„Siebenzig Wochen sind abgekürzt über Dein Volk und über Deine heilige Stadt, damit die Übertretung getilgt, der Sünde ein Ende gemacht, die Ungerechtigkeit ausgelöscht, die ewige Gerechtigkeit gebracht, Gesicht und Weissagung erfüllt und der Allerheiligste gesalbt werde.“
„Wisse also und merke: Von der Zeit an, da ausgeht das Wort“ – das Dekret der Könige von Persien – daß man Jerusalem wieder baue, bis auf Christus, den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen…“
„Und Christus wird getötet werden…“
„Aber in einer Woche wird Er vielen den Bund stärken;
und in der Mitte der Woche wird Schlachtopfer und Speisopfer aufhören;
und im Tempel wird der Gräuel der Verwüstung sein.“ (Dan. 9)

Nun, nachdem wir alle möglichen Dokumente durchforscht haben, wissen wir, daß sich unsere Väter in ihren Todesängsten abgemüht haben, diese siebenzig Wochen nach fünf verschiedenen Methoden zu berechnen:

Sie haben zunächst im Laufe der Zeit den Ausgangspunkt der Wochen verändert; bald zählten sie vom Edikt des Cyrus (537 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung), bald vom Edikt des Darius (520), bald vom Edikt des Artaxerres zu Gunsten des Esdras (450), bald von dem zu Gunsten Nehemia`s erlassenen Edikt an (445).

Hierauf haben sie die Natur der Wochen verändert, indem sie dieselben zuerst aus Mondjahren bestehen ließen, die kürzer sind, dann aus Sonnenjahren, die länger sind.

Und als der Gesalbte immer nicht kam, haben sie die vergangenen Jahrhunderte zusammen gezogen, um den Endpunkt der Wochen zu verändern. So hat eine Bestimmung des vom letzten Hillel geleiteten Sanhedrin von Tiberias die Jahrhunderte derart verkürzt, daß sich weitere siebenzig Jahre ergaben, um den Messias zu erwarten. (1)

Alsdann haben sie mit einer Kühnheit, die eine Art Entschuldigung in der Ermüdung hat, den Endpunkt der Wochen willkürlich in die Zukunft, in das Jahr der Welt 4231 verlegt, das heißt, in das dritte Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung, mit der Mischna; in das fünfte Jahrhundert, mit dem Rabbi Chanina (2); in das fünfzehnte Jahrhundert, mit dem berühmten Rabbi Chasdai (3), an die äußerste Grenze der Zeiten, mit dem Rabbi Menasse-Ben-Israel. (4)

Und als endlich die gewöhnlichen Berechnungen erschöpft waren, haben sie die verzweifelten Wochen vermittelst der kabbalistischen Wissenschaft erklären wollen – einer abstrusen Wissenschaft ohne Ziel und Ende, mit Schwindel erregenden Kombinationen, aus welcher sie, mit den neuen Daten, immer nur neue Täuschungen hervorgehen ließen; und deshalb, um diesen Berechnungen Einhalt zu gebieten und von ihnen abzuschrecken, hat Maimonides, selbst entmutigt, im letzten Kapitel seiner Werke folgenden Ausspruch getan: „Der Mensch kann nichts von Dingen wissen, welche geschehen sollen, bevor sie geschehen. Sie bleiben in den Tiefen der Prophezeiungen verborgen; die Weisen können kein Geheimnis aus ihnen ziehen, selbst nicht vermittelst der Kabbala. (5)

Anmerkungen:

(1) Sepp, Leben Jesu. II. 427ff.

(2) Der Ausspruch des R. Chanina lautet: „Wenn ein Mensch 400 Jahre nach der Zerstörung des Tempels (das heißt: 470 Jahre nach Christus) Dir sagt: „Kaufe für einen Denar eine Acker, der tausend Denare wert ist, so tue es nicht; denn dies ist das letzte Ziel für die Erlösung durch den Messias; Du wirst alsdann auf den heiligen Berg, in das Erbe Deiner Väter zurück geführt werden. Warum willst Du Deinen Denar hingeben?“ (Tract. Avoda Sara. f. 9, 2.)

(3) Abarbanel, Majene Haschna. f. 81. recto.

(4) Rabbi Menasse-Ben-Israel sagt wirklich in seiner Abhandlung über die „Auferstehung der Toten“: „Es ist nicht nur durch die Bücher Moses, sondern auch durch alle prophetischen Bücher festgestellt, daß die Auferstehung der Toten mit der Ankunft des Messias zusammen fallen solle. Der einzige Gegenstand der Kontroverse ist noch der, welches von den beiden Ereignissen dem andern vorher gehen werde.“ (L. II. De resurrect. Mort. c. II.)

(5) Es gibt zwei Arten von Kabbala: die dogmatische Kabbala oder eine Sammlung von Traditionen über das Dogma (das Wort Kabbala kommt von dem Zeitwort Kibbel, was im Hebräischen: empfangen durch Tradition sagen will); und die exegetische Kabbala oder eine Sammlung von gewissen Verfahrensweisen, um die heilige Schrift in Ziffern zu deuten.

In letzterer Zeit sind mehrere wissenschaftliche Arbeiten über die Kabbala veröffentlicht worden, aber alle haben zum Zweck gehabt, die dogmatische Kabbala hervorzuheben; man hat, vielleicht mit Absicht, jenen mysteriöseren Teil der Kabbala welcher darin besteht, die heiligen Bücher durch Ziffern zu deuten im Dunkel gelassen. Gerade diese zweite Kabbala aber ist die Zuflucht und die Beschäftigung der Juden geworden, nachdem sie mit allen vernünftigen Berechnungen zu Ende waren.

Unter den verschiedenen kabbalistischen Verfahrensweisen ist folgende die gewöhnlichste und wenigst unklare:

Da die Hebräer, wie die Griechen, die Zeichen des Alphabets als numerische Ziffern anwenden, schätzt man zuerst in irgend einem Wort der Bibel alle Buchstaben, aus denen es besteht, und zieht die Summe derselben; dann, wenn man auf ein anderes Wort stößt, das denselben Wert, wie das erste bietet, erklärt man eines durch das andere, weil man annimmt, zwei Worte, welche dieselbe Ziffer ausmachen, müssten auch denselben Sinn haben.

(6) Zum Beispiel: man liest im Propheten Zacharias (3, 8): „Denn siehe, ich will meinen Knecht kommen lassen, den Aufgang.“ Das hebräische Wort, das wir mit „Aufgang“ übersetzen, besteht aus drei Buchstaben:
Tsade = 90
Mem = 40
Chet = 8
Summa 138
Wenn wir nun den numerischen Wert der Buchstaben, aus denen ein anderes hebräisches Wort besteht, zusammen zählen: Menachem (Tröster), einer der Namen des Messias, so werden wir finden:
Mem = 40
Nun = 50
Chet = 8
Mem = 40
Summa 138
Der gleiche numerische Wert dieser beiden Worte nun ist der einzige Grund, auf welchen die Kabbalisten den Glauben stützen, daß es sich in der Stelle des Zacharias um den Messias handelt.

Das ist es, was wir in den Annalen unseres Unglücks gefunden haben; und auf diesem Punkt, in Vereinigung mit der geängstigten Seele unserer Väter, haben wir gleichsam eine doppelte Erscheinung an unseren Augen vorüberziehen sehen.

Es war zuerst das Israel Gottes, gefangen an den Flüssen Babylons. Auf seiner bleichen, aber ruhigen Stirn thronte unerschütterliches Vertrauen; an den Weiden des Weges hatte es seine Lyra aufgehangen! Aber plötzlich, mitten in seiner Trauer und gleichsam durch ihre düsteren Schleier hindurch, stößt der große Gefangene einen Schrei der Liebe aus, stark glühend, leidenschaftlich: er hatte in seinen Träumen den Messias und Jerusalem wieder gesehen! Bei diesem Anblick vergaß er alle seine Schmerzen, er fühlte seine Ketten nicht mehr, er wusste nicht mehr, daß er an den Ufern Babylos herumschweifte, er vergaß das chaldäische Joch: Jerusalem! In seiner Seele lebte die unzerstörbare Gewissheit, Dich wieder zu sehen und sich durch Dich, o Emanuel, wieder zu erheben!

Diesem Gesichte folgte ein anderes.

Wieder war es das Exil, wieder war es das Israel Gottes, aber diesmal war seine Haltung eine andere geworden.
Verkauft wie ein elendes Tier auf den Märkten von Gaza und Therebintha, was tut es heimlich am Abend nach seiner Sklavenarbeit? Es rechnet.
Der Stamm Jesse ist nicht mehr, das Geschlechtsbuch ist nicht mehr, der Tempel ist nicht mehr; Israel aber rechnet.
Wie in seinen anderen Exilen suchten wir in seiner Trauer die Ruhe und den Strahl der Zukunft; aber diese Trauer war ohne Strahl, sie hatte keine Schönheit mehr.
An den Weiden Babylons hatte es seine Harfen aufgehangen; hier bemerken wir nur noch Anhäufungen von Zahlen und kabbalistischen Charakteren.
Dort leuchtete die Morgenröte, man sah den Stern Jakobs aufsteigen; hier ist die Erschöpfung, hier ist die Nacht.

Im Schatten des ersten Bildes erschien Daniel, welcher die Gefährten seines Exils tröstete und sie erzittern machte, indem er ihnen die Offenbarungen des Engels erzählte:

„Während ich, Daniel, noch im Gebet lag, siehe, da kam der Engel Gottes und sprach zu mir…“: hier sind unsere Väter allein, kein Prophet ist bei ihnen, um sie ihren unentwirrbaren Kombinationen zu entziehen; ihr Rücken ist gebeugt, die Erschöpfung drückt sie zu Boden und während die meisten über das lange Säumen ungeduldig werden, scheinen einige mit gerunzelter Stirne zu sagen: „Gibt es nicht in den Prophezeiungen etwas, das wir falsch verstanden haben?“ –
aus: Gebr. Lémann, Die Messiasfrage und das vatikanische Konzil, 1870, S. 10 – S. 15

Fortsetzung Kapitel 2, Teil3: Die falschen Messiase der Juden

Siehe auch den Beitrag: Weissagung Daniels von den 70 Jahrwochen

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