Verschiedene Phasen der messianischen Frage im Schoße des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems
Erstes Kapitel.
Der messianische Schacht oder Gang durch die Jahrhunderte der Zerstreuung
I.
Bis zur Zerstörung Jerusalems ist die Geschichte der Messiasfrage im Schoß des jüdischen Volkes leicht zu verfolgen; aber von dieser Epoche an verliert sich ihre Spur; in Mysterien gehüllt, bleibt sie nicht allein den Christen, sondern selbst den Juden unbekannt.
Diesen gleichsam verschütteten messianischen Schacht möchten wir wieder auffinden und ihn beleuchten.
In dieser Art Schachtarbeit ist es vor allem wichtig, von gewissen gegebenen Punkten auszugehen und dann das Ziel zu bestimmen, das wir erreichen wollen; mit anderen Worten: wir müssen einerseits des Ausgangspunktes sicher sein und andererseits den Punkt voraussehen, an dem wir wieder zu Tage kommen.
Unser Ausgangspunkt ist fest bestimmt; er stützt sich auf die Bibel und wir werden uns hierfür des Ausdruckes: die biblischen Anhaltspunkte über die Messiasfrage bedienen. In Wahrheit gibt es drei biblische Anhaltspunkte, welche man, wenigstens bis auf diesen Tag, bei den Juden nicht in Zweifel zu ziehen gewagt hat.
Der erste ist der, daß der Messias aus dem Geschlecht Abrahams hervorgehen werde. Man hat von uns folgendes herrliche Bild entworfen.
Um den Leib Seines Christus vorzubereiten, hat Gott ausdrücklich ein Volk gebildet. Zu diesem Zweck nimmt Er einen Menschen, Abraham, wie einen Block, wie einen Steinbruch, nach dem mächtigen Ausdruck des Isaias, in den Er haut und aus dem Er dieses große Volk herausarbeitet, welches weder in der alten, noch in der neuen Zeit irgend einem andern Volk gleichen, welches der Verwahrer und das Werkzeug des Segens sein wird, der sich eines Tages über alle Nationen ergießen soll. „Ich habe bei mir selbst geschworen“, sagt der Herr zu Abraham, „in Deinem Namen sollen gesegnet werden alle Völker der Erde“. (Gen. 23, 16 u. 18)
Und wenn es Gott gefiel, die Einzelheiten des Tempels selbst zu bestimmen, mit wie viel mehr Recht trägt Er Sorge, die Einzelheiten der Geburt des Messias genau zu bestimmen!
Unter den zwölf Stämmen Israels wird der Messias aus dem Stamm Juda hervorgehen. „Aber Du, Bethlehem Ephrata, zwar klein unter den Tausenden Juda`s, aus Dir wird hervorgehen der Herrscher in Israel, dessen Geburt von Anbeginn ist, von Ewigkeit her.“ (Michäus 5, 2)
Dies ist der zweite biblische Anhaltspunkt.
Folgender ist der dritte: Unter allen Familien Juda`s wird der Messias aus der Familie David`s geboren werden. „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß ich dem David einen gerechten Sprössling erwecke; als ein König wird Er herrschen, der weise ist und Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden. Und dies ist der Name, womit man Ihn nennen wird: Der Herr, unsere Gerechtigkeit!“ (Jer. 23, 5 u. 6)
Aus dem Geschlecht Abrahams,
Aus dem Stamm Juda,
Aus dem Haus David –
Das ist der dreifache Lichtstrahl. In welchem man eines Tages die messianische Wiege erkennen wird.
Alle andern Völker werden den Messias erwarten – „Ihn, auf den die Völker harren.“ (Gen. 49, 10)
Der eigentliche Ruhm, das nicht mitteilbare Vorrecht des jüdischen Volkes wird es sein, Ihm das Blut und das Leben zu geben.
Das ist es, was wir die biblischen Anhaltspunkte der Frage genannt haben und was bis zu Anfang dieses Jahrhunderts immer in Israel geglaubt worden ist.
Von diesem Punkt gehen wir aus.
II.
Welches ist nun dieser Endpunkt?
Seit bald zwanzig Jahrhunderten sagen alle Völker, die in Erwartung standen: Gesegnet sei Israel! Wir sind zufrieden gestellt; es hat uns seine Ehrenfrucht gegeben.
Und Israel antwortet: Nein, seid nicht zufrieden gestellt; der Messias ist noch nicht aus meinem Schoß hervorgegangen.
Merkwürdig, es ist beinahe die Umkehrung jenes berühmten Streites zur Zeit des Königs Salomo: ein Weib sagte zu einem andern Weib: „Ich habe geboren und während der Finsternis der Nacht hast Du mir mein Kind weggenommen.“ Und hier stößt die Synagoge, beschämt über ihre Geburt, ungeachtet des dreifachen königlichen Kennzeichens Abrahams, Juda`s, David`s, dieselbe zurück und möchte sich der Wiege beraubt sehen, welche ihr die Kirche unter Glückwünschen darbietet.
Der Lärm dieses Streites hat das ganze Mittelalter erfüllt; oft hat der Fanatismus der Völker das Schwert hineingemengt. Aber es scheint, der Tag solle anbrechen, da das gesamte Menschengeschlecht, die Hand auf seinen Wunden und den Geist zu seinem Vater erhoben, nur noch von der Liebe den Sieg der Wahrheit erwartet.
Neben der Liebe hat sich unserer Generation noch eine andere friedliche Darlegung der Wahrheit gezeigt, nämlich die Philosophie der Geschichte.
In den sechzig Jahrhunderten seit dem Garten von Eden, während der Mosaismus und der Christianismus reiften, kann sich die Philosophie der Geschichte bilden; und sie bildet sich wirklich, sie gestaltet sich in großen Linien unter der gleichzeitigen Tätigkeit Gottes und des Menschen; des Menschen: der unter dem siegreichen Schein jener beiden Leuchten, der Kritik und der Öffentlichkeit, alle in den Katakomben der Geschichte vergrabenen Tatsachen hervorholt; Gottes: Der in den gigantischen Spielen Seiner Vorsehung die Wiedervereinigung der Welt beginnt – so wird sie, wie jüngst der erlauchte Bischof von Orleans es aussprach (1), gleichsam das fünfte Evangelium sein! …
(1) Lettre sur le futur Concile oecuménique, par Mgr. Péveque d`Orleans. p. 56.
III.
Den messianischen Schacht in allen seinen Adern kann man durch diese Katakomben der jüdischen Geschichte, jedoch nicht ohne große Schwierigkeiten verfolgen. Vom Blitz getroffen und zu den Füßen der Nationen hingestreckt, spiegelt unsere Geschichte den Anblick des siebenzehnmal gewaltsam genommenen und vollständig zerstörten Jerusalems wieder. Mit jedem Schritt stoßen wir auf Trümmer, auf Schutt, auf Lücken, auf ein Gewirr von Tatsachen, die wie die Steine des Tempels übereinander gestürzt sind, zwischen dieser stürmischen Geschichte, die keiner andern gleicht, und diesem vulkanischen Boden, der keinem andern Boden gleicht, besteht wirklich ein Parallelismus, der ergreift.
Einen der Reichtümer der heiligen Stadt bildeten einst die Wasser. Geschickt behandelt, in unterirdische Leitungen und herrliche Aquadukte eingefangen, befruchteten sie, mit dem Schweiß des Menschen, jenes von Natur spröde und schwere Land. Aber alle diese kostbaren Leitungen sind in dem Krieg gegen die Römer und mehr noch in Folge muselmännischer Fahrlässigkeit entweder zerstört oder verschüttet, die Quellen unter dem Schutt vergraben worden; das Wasser ist von unserem Vaterland geschwunden: ein Bild von dem, was sich gerade so in unserer Geschichte begeben sollte, wo, nachdem alle jüdischen Stämme und Institutionen zerstört und wie im Universum vergraben worden sind, der messianische Schacht ebenso schwer wieder aufzufinden ist, wie der Wassergang zu Jerusalem… –
aus: Gebr. Lémann, Die Messiasfrage und das vatikanische Konzil, 1870, S. 1 – S. 5
Fortsetzung Kapitel 2: Jüdischer Messias Periode der Unruhe