Missverständnis über die Heiden

Missverständnis über die Heiden: Diese unter Diokletian errichtete Säulenbasis auf dem Forum Romanum 303 n. Chr. zeigt ein traditionelles römisches Opfer.

Ein doppeltes Missverständnis über die Heiden

Ein doppeltes Missverständnis muss in der Beurteilung des Heidentums vermieden werden. Das eine besteht darin, dass man die katholische Lehre so auffasst, als ob die im Heidentum vorhandene Erkenntnis Gottes nur ein Überbleibsel und eine Entstellung der Uroffenbarung oder gar der jüdischen Religion sei; das andere darin, dass man, wie bereits angedeutet, den Abfall von der wahren Gotteserkenntnis gleichbedeutend setzt mit mit dem gänzlichen Verlust aller religiösen und sittlichen Begriffe.

Nun widerspricht aber die letztere Behauptung nicht bloß den Tatsachen, den Angaben der Heiligen Schrift selbst und der Auffassung der mit dem lebendigen Heidentum noch bekannten Kirchenväter, sondern es ist auch leicht zu zeigen, dass dieselbe von der katholischen Kirche (zuletzt noch gegenüber den Jansenisten im 17. und 18. Jahrhundert) oft und nachdrücklich zurückgewiesen worden ist; auch ist in allerneuester Zeit dem oft missbrauchten pseudo-augustinischen Wort „selbst die Tugenden der Heiden seien nur glänzende Laster“ gründlich der Garaus gemacht worden. (1)

(1) Von Denifle, Luther und Luthertum, Mainz 1904, 384. – Weiß, Apol. Des Christentums I, 633ff.

Zur Erledigung der ersteren Auffassung braucht nur daran erinnert zu werden, dass es nach der Lehre der katholischen Kirche auch eine natürliche Gotteserkenntnis und Sittlichkeit gibt, und dass die Heilige Schrift die Heiden gerade deshalb für unentschuldbar erklärt, weil sie den Schöpfer nicht aus seinen Werken erkannt und die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niedergehalten haben. (Röm. 1, 28ff) Der Abfall von der Uroffenbarung verschuldete allerdings ein unsagbares geistiges Elend, aber was den Heiden an Überresten natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis und Sittlichkeit übrig blieb, war immer noch ein hohes Gut und ermöglichte denen, die guten Willens waren, die Erlangung des ewigen Heiles. (2)

(2) Diese dahin gegangenen Völker haben ein Recht auf unsere Teilnahme; denn durchaus nicht alles, was ihre religiöse Literatur uns bietet, ist Aberglaube und sittliche Verkommenheit. Im Gegenteil: je mehr man sich in dieselbe versenkt, um so mehr entdeckt man unter den Schlacken das echte Gold einer höheren, sittlich-religiösen Weltanschauung – wohl das gerettete Erbe einer glücklicheren Zeit.

Da finden wir den Glauben an einen Schöpfer der Welt und eine Vorsehung, ein natürliches Sittengesetz, ein Bewusstsein der Verantwortlichkeit und der drückenden eigenen Schuld, die Hoffnung auf einen göttlichen Befreier von dämonischer Gewalt und die Überzeugung von einem Fortleben nach dem Tode – alles freilich mehr oder minder verzerrt und von falschen, polytheistischen und pantheistischen Vorstellungen überwuchert, aber nichtsdestoweniger im Grunde wahr und nicht selten in ergreifend schöner Einkleidung“ (Kugler, Die Sternenfahrt des Gilgamesch, in StL LXVI [1904] 433).

Von der jüdischen Religion als solcher kann für den Ursprung und die Beurteilung des Heidentums schon darum keine Rede sein, weil dieselbe erst seit der Gesetzgebung am Sinai existiert und geradezu den Zweck hat, eine Scheidewand zwischen Israel als dem Träger der Messias-Hoffnung und den Völkern, die sich von Gott abgewandt hatten, zu errichten. Die Beurteilung des Heidentums hängt somit davon ab, ob man den Wahrheitsgehalt, den es birgt, an sich betrachtet oder ob man die Wahrheit und Sittlichkeit als Maßstab anlegt, welche die Menschen nach dem Willen Gottes (durch seine Offenbarung) besitzen sollten.

„Die spezifische Eigentümlichkeit des Heidentums, durch welche es sich von der wahren Religion unterscheidet, ist an sich etwas Schlechtes (weil Abfall von Gott), und an diesen Gegensatz denkt Paulus, wenn er die Heidenwelt in den schwärzesten Farben malt. Was aber die Heiden mit den Christen gemeinsam haben, ist etwas Gutes, und dieses Gutes betont die Kirche, wenn sie die Irrlehre verwirft, dass alles am Heiden verdammlich sei. Hier liegen keine Widersprüche vor, sondern nur verschiedene Weisen, eine und dieselbe Sache anzuschauen.“ (3)

(3) Pesch, Gott und Götter 113. – Eine beherzigenswerte praktische Bemerkung entnehmen wir einem Aufsatz der HPB CXL (1907) 331ff.: „Die Art, wie man im 19. Jahrhundert vielfach sich darin gefiel, die religiösen und sittlichen Zustände der alten Welt in den schwärzesten Farben zu malen, ist durch die protestantische Auffassung von der absoluten Verderbtheit der menschlichen Natur und der Unfähigkeit der menschlichen Vernunft, Gott zu erkennen, bedingt.

Ein Muster dieser Behandlungsweise ist Döllingers sonst so geniales Werk ‚Heidentum und Judentum‘. Aus ihm ist der Stoff sogar in die Religions-Handbücher für Mittelschüler übergegangen. (siehe den Beitrag: Die Sittenverderbnis der alten Heidenwelt)

Man schien nicht zu bedenken, dass auch mitten im Christentum in alter und neuer Zeit die ärgsten Laster und der krasseste Unglaube herrschen, ohne dass man dafür das Christentum verantwortlich machen kann. Man ging auch allzu leichtherzig über die Frage hinweg – wenn man sie überhaupt stellte! -, was denn aus den Millionen Seelen wurde, die in der vorchristlichen Zeit lebten und die Kosten jenes Verfahrens, das Lehrgeld jener Unterweisung zahlen mussten, welches der Schulkatechismus in die Worte kleidet: die Welt sollte erfahren, in welches Elend sie die Sünde gestürzt habe, und dass niemand sie retten konnte als Gott allein.

Darin liegt ja viel Wahres; man muss aber beifügen: es war angemessen, dass Christus nicht am Anfang und nicht am Ende, sondern in der Mitte der Zeiten erschien, damit so die Menschheit ausnahmslos und so vollkommen wie möglich der Wohltat der Erlösung teilhaftig werde – ein Teil durch die Vorbereitung, negativ und positiv, der andere durch die Verwirklichung und Auswirkung der Gnade und Wahrheit. Das entspricht dem Weish. 8,1 ausgesprochenen Grundsatz: disponit omnia a fine usque ad finem fortiter et suaviter. (Also wirkt sie von einem Ende zum andern mächtig fort und ordnet alles lieblich an.)

Hätte man diese Auffassung immer vor Augen gehabt, so wäre auch auf katholischer Seite manche Darstellung anders ausgefallen und manche Behauptung unterblieben.“ –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. I, Altes Testament, 1910, S. 255 – S. 256

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