Geschichte des Alten Testamentes
Die Geschichte des Alten Bundes teil sich in drei Abschnitte oder Zeiträume. Der erste umfaßt die Urgeschichte, d. h. die Erschaffung der Welt und des Menschen, den Sündenfall und die erste Ausbreitung der Sünde, wie die erste Entfaltung der Gnade in der Menschheit, nebst den ersten Verheißungen, durch welche die Hoffnung auf den kommenden Erlöser begründet und wach erhalten wurde. Der zweite Zeitraum begreift die Geschichte der Auserwählung und Größe des israelitischen Volkes und läßt erkennen, wie Gott durch die Auserwählung und Erziehung eines eigenen ihm geheiligten Volkes zunächst dieses Volk, aber nicht für sich allein, sondern für alle Völker, auf den Erlöser vorbereitete. Der dritte endlich bekundet, wie der spätere allmähliche Verfall dieses Volkes nach dem Plane der unendlichen Weisheit Gottes als Mittel diente, die Ankunft des Erlösers für Israel und alle Völker unmittelbar einzuleiten.
Überlieferung der Urgeschichte und Uroffenbarung
Den Titel „Urgeschichte“ führt der erste, ungefähr zweitausend Jahre umfassende Zeitraum deshalb, weil er die ursprünglichen oder ältesten Schicksale des Menschengeschlechts enthält. Er beginnt nach der Erschaffung der ganzen Welt glücklich und viel verheißend mit der herrlichen Begabung und Begnadigung des Menschen, den Gott zeitlich und ewig glücklich machen wollte, endigt aber gleichwohl schrecklich mit allgemeiner Verbreitung der Abgötterei über die ganze Erde. Am Anfang dieses Zeitabschnittes steht Adam, der sündhafte Stammvater des Menschengeschlechtes. In das Ende desselben aber leuchtet bereits eine Hoffnung besserer Zeiten herein in dem gerechten Stammvater eines gottesfürchtigen Volkes, nämlich in Abraham, mit dessen Berufung der zweite Zeitabschnitt beginnt.
Die Quelle für die Urgeschichte ist das erste Buch Moses`, gewöhnlich Genesis, d. i. Ursprung der Schöpfung genannt, weil es mit dem Bericht über die Schöpfung beginnt. Es erzählt den Ursprung aller Dinge, insbesondere die Schöpfung des Menschen sowie die Urgeschichte des menschlichen Geschlechtes von Adam an bis auf den Tod Josephs in Ägypten, näherhin die Tatsachen, durch welche Gott die Auserwählung des israelitischen Volkes und die Stiftung des Alten Bundes vorbereitete. Die Erzählung rankt sich gleichsam wie frisches Blättergewinde um das trockene, feste Gerüst von zehn Stammtafeln (Adam, Kain, Seth, Noe, die drei Söhne Noes, Sem, Thare-Abraham, Ismael, Esau, Jakob). Das für die Auswahl und Behandlung des Stoffes maßgebende Gesetz ist deutlich erkennbar: die Nebenlinien werden jedesmal an einem bestimmten Punkt ausgeschieden, und die Erzählung verweilt dann bei den Hauptpersonen: Adam, Noe, Abraham, Isaak, Jakob.
Die Bedeutung der in Gen. 1-11 enthaltenen Urgeschichte kann nicht leicht zu hoch angeschlagen werden. Sie ist Anfang, Fundament und Wurzel aller Heilsgeschichte und Heilslehre. Gäbe die Bibel keinen Aufschluss über die Erschaffung von Himmel und Erde, über die Anfänge und die erste Entwicklung des Menschengeschlechtes bis auf Abraham, über den Ursprung der Sünde und die Verheißung des Erlösers, so schwebten die Heilsgeschichte und die Grundlehren der Offenbarung in der Luft. „Die Fundamente des Christentums sind im Paradiese gelegt“, und die Schritte Gottes, welche die ersten Menschen nach dem Sündenfall vernahmen, sind „seine ersten Schritte zu dem Ziel der Offenbarung im Fleische, welche die Wiederherstellung und Vollendung der Immanenz göttlicher Liebe in der Welt ist.“
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Gott am Anfang der Menschheits-Geschichte den Menschen das, was zur Erreichung ihres Zieles notwendig war und was sie weder aus sich noch aus Erfahrung wissen konnten, in einer ihrer Natur angemessenen Weise mitgeteilt, geoffenbart hat. Niemals war die Offenbarung notwendiger als am Anfang der Geschichte, niemals war es angemessener, daß der Schöpfer sich als Lehrer und Erzieher zu seinem Geschöpf herabließ, wenn er es zu einem höheren Ziele führen wollte. Steht dies fest, so ist von selbst gegeben, daß sowohl der Inhalt der Uroffenbarung als die wichtigsten Ereignisse der Urgeschichte sich unter Leitung der göttlichen Vorsehung durch Überlieferung fortpflanzten.
Diese Überlieferung ist später auch schriftlich aufgezeichnet und von einem inspirierten (prophetisch begabten) Verfasser in die Form gebracht worden, in der sie uns in der Genesis vorliegt.
Mit diesem Bekenntnis stehen wir in scharfem Widerspruch gegen die moderne und modernistische Auffassung, der die Uroffenbarung ein unvollziehbarer Begriff ist, und die darum in der biblischen Urgeschichte nur Mythen, Sagen aus dem Kindheitsalter der Menschheit sieht. Der Irrtum reicht weit in die Kreise selbst der positiven protestantischen Theologen hinein, die mit seltenen Ausnahmen die biblische Urgeschichte teils ausdrücklich verwerfen, teils geringschätzig ignorieren.
Es ist darum von größter Wichtigkeit, die Möglichkeit und Tatsächlichkeit einer Uroffenbarung und Urüberlieferung auch mit wissenschaftlichen Gründen zu stützen und gegen Einwendungen zu verteidigen.
Hier ist vor allem auf das Zeugnis des gesamten Altertums zu verweisen, das übereinstimmend dahin lautet: alle religiöse Wahrheit und Weisheit stammt vom Himmel, und das Kennzeichen ihres Ursprungs ist die Altertümlichkeit ihrer Überlieferung. Das ist die Überzeugung der Griechen und Römer so gut wie der Ägypter und Babylonier. Man vergleiche zu dem (…) die Stimmen der Alten über die Herkunft ihrer Philosophie (Religion und Wissenschaft) aus Urtraditionen (…) und die Zeugnisse, die Dorsch (ZKTH 1906, 76ff) aus den heiligen Kirchenvätern zur „Wahrheit der Heiligen Schrift“ beigebracht hat.
Die Überlieferung der Uroffenbarung und Urgeschichte war ferner in der Weise möglich, daß der wesentliche Inhalt unverfälscht erhalten blieb und ein Weg von den Ereignissen zum Berichterstatter denkbar bzw. nachweisbar ist.
Darüber vergewissert uns zunächst die Heilige Schrift selbst. Wie sie bezeugt, daß uralte, ununterbrochene, ererbte Weisheit als die vorzüglichste galt (vgl. Jb 8,8)15, 10 19), so läßt sie auch in den Genealogien der langlebigen Urväter den Weg erkennen, den die Überlieferung der Ur- und Erbweisheit in den Jahrtausenden vor Abraham ging. Es ist derselbe, der auch in der späteren Zeit als der regelmäßige und natürliche bezeichnet wird: „Der Vater macht seinen Kindern deine Treue kund“ … „Unsere Väter haben es uns verkündet“ (Is. 38, 19) Die Treue dieser Überlieferung in den wesentlichen Punkten wird durch die Leitung der göttlichen Vorsehung garantiert, die für die Urgeschichte ebenso wie für die spätere Zeit angenommen werden muß…
Wir haben es in der biblischen Urgeschichte nicht mit den Überlieferungen zu tun, die überhaupt in Umlauf gekommen sein mögen, sondern mit der Auswahl und Fassung der Urüberlieferung, die in der Verheißungslinie der Menschheit bis auf Abraham erhalten, von da durch die Stammväter fortgepflanzt, in den prophetischen und priesterlichen Schulen gepflegt und von einem (oder mehreren) inspirierten Verfasser aufgezeichnet worden ist.
Die Überlieferungen der Völker zeigen Übereinstimmung in gewissen religiösen Ideen und erzählenden Episoden, die sich nicht aus Übertragung von einem Volk aufs andere (Wanderhypothese) und auch nicht bloß aus der „Völkeridee“ (psychologische Hypothese), sondern nur aus der Tatsache erklären läßt, daß diese Ideen Erbgut der Menschheit aus der Urzeit sind. Denn es sind sowohl Ähnlichkeiten und Verwandtschaften als auch Verschiedenheiten zu erklären, die sich über weite geographisch, sprachlich, kulturhistorisch auseinander liegende Völkerkreise erstrecken und aus psychologischen Gründen oder Zufall (!) unerklärbar sind. Die einzig vernünftige Erklärung liegt in der Annahme einer ursprünglich gemeinsamen Überlieferung, die sich nach der Trennung der Völker in verschiedener Weise ausgestaltet hat. Wie die Gleichartigkeit des in verschiedenen Bächen strömenden Wassers auf eine Quelle zurückweist, so beweist die Übereinstimmung der Völkersagen, daß die Menschen von einem Ausgangspunkt aus sich über die Erde verbreiteten und sämtlich diese Tatsachen, die sie teils selbst, teils in ihren gemeinsamen Stammeltern erlebt hatten, auf ihre Nachkommen überlieferten. Ebenso spricht die außerordentliche Einfachheit, Klarheit und Bestimmtheit, wodurch die biblischen Berichte sich von den vielfach getrübten, entstellten, manchmal maßlos ausgeschmückten heidnischen Darstellungen so auffallend unterscheiden, sehr nachdrücklich für deren Glaubwürdigkeit sowie für den göttlichen Schutz, der hier über diesen Überlieferungen wachte. Endlich kann man zu Gunsten der biblischen Urgeschichte sagen, daß der überlieferte Stoff und die Erzählung frei ist von den eigentümlichen nationalen Elementen, die den heidnischen Sagen anhaften, und vielmehr universalen Charakter trägt. Somit im Vergleich mit diesen die reinere und ursprünglichere Gestalt der Überlieferung darstellt. –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. I, Altes Testament, 1910, S. 104 – S. 108