Wie tief demütig Kardinal Sarto war

Der Papst trägt das Kreuz Christi, von Christus glorreich empfangen; es zeigt das Leiden der Päpste und zugleich der Kirche

Pius X. in weißer Papstkleidung sitzt auf dem päpstlichen Stuhl, die Arme auf den Stuhllehnen, im Gesicht ist ein leichtes Lächeln zu sehen

Die Papstwahl Pius X.

Wie tief demütig Kardinal Sarto bei seiner Papstwahl war

Die Nachricht von dem am 20. Juli 1903 erfolgten Tode Leos XIII. traf die gesamte katholische Welt mit niederschmetternder Wucht…

„Betet, daß Gott seiner Kirche einen Hirten nach seinem Herzen schenken möge!“ mahnte Kardinal Sarto, als er seinem Volk in Venedig die traurige Kunde vom Tode des Papstes mitteilte. In seiner Demut dachte er wohl nicht, in welcher Weise dieses Gebet Erhörung finden sollte. Leo XIII. jedoch hatte kurz vor seinem Hinscheiden einem näheren Freund gesagt: „Wenn das Konklave einen nicht in Rom residierenden Kardinal erwählt, so wird die Wahl auf Kardinal Sarto fallen.“
Die Anzeige vom Tode Leos XIII. versandte der Camerlengo, Kardinal Oreglia, an alle Kardinäle der ganzen Welt und teilte ihnen mit, daß das Konklave für die Wahl seines Nachfolgers am 31. Juli eröffnet werde.

Erst am 26. Juli konnte Kardinal Sarto nach Rom abreisen. Er lachte über die Befürchtung seiner Schwestern, daß er am Ende nicht mehr zu ihnen zurück kehren möge. Sein Sekretär, Don Giovanni Bressan, war sehr geschäftig, um für die Reise des Nötige einzupacken. „Wo ist Don Giovanni?“ fragte der Kardinal seine Nichte Amalia; „geh und sag ihm, daß wir nach Rom und nicht nach Amerika reisen.“ – „Übersteht das Konklave und kommt bald zurück!“ meinte Amalia. – „Früher oder später“, antwortete der Kardinal, „das tut nichts zur Sache. Unterdessen gehst du zur Luftveränderung nach Possagno, und bei meiner Rückreise hole ich dich dort ab.“ – Aber die Schwestern blieben traurig und ließen sich nicht trösten.
Die ganze Stadt begrüßte den Patriarchen, als die Gondel ihn zum Bahnhof führte. Von allen Balkonen, von allen Brücken folgten ihm gute Wünsche und Abschiedsrufe. Am Bahnhof gab es eine wahre Ovation. Reich und arm drängten sich heran, ihm den Ring zu küssen oder ein Wort seiner Lippen zu erhaschen. Mit Tränen in den Augen dankte er für diese Kundgebungen kindlicher Liebe und Ergebenheit.
„Noch einen Segen! Noch einen Segen!“ flehte das Volk; „wer weiß, ob Sie je zurück kommen!“ – „Tot oder lebendig komme ich zurück!“ war die Antwort.
„Nimm Retourbillett“, hatte er seinem Sekretär gesagt. Aber das Retourbillett wurde nicht ausgenützt. Die Vorahnung des Volkes war richtig. Der Zug setzte sich in Bewegung, und aus dem Fenster blickte Kardinal Sarto ein letztes Mal auf sein geliebtes Venedig. Es war ein Lebewohl für immer.

Im Lombardischen Kolleg hatte er Zimmer bestellt und verblieb daselbst bis zur Eröffnung des Konklaves, machte und empfing Besuche. Eine in Rom lebende Dame aus Venedig besuchte ihn und äußerte den höflichen Wunsch, daß er Papst werde. „Es ist Ehre genug“, antwortete der Kardinal, „daß Gott sich solcher Leute bedient, wie ich es bin, um den Papst zu wählen!“ Als er eines Abends auf dem Wege nach seiner bescheidenen Wohnung an der Engelsburg vorüber ging, befahl ein eben die Wache habender junger venezianischer Hauptmann seiner Mannschaft, zu salutieren, als wäre es der Papst. Kardinal Sarto lächelte zu dem Scherz und ging segnend vorüber.

Ein französischer Kardinal, der ihn nicht kannte, sprach ihn an. „Euer Eminenz sind wahrscheinlich ein italienischer Erzbischof?“ fragte er. – „Ich spreche nicht französische“, erwiderte Kardinal Sarto auf lateinisch; „ich bin der Patriarch von Venedig.“ – „O“, meinte der Fragende, „wenn Sie nicht französisch sprechen, kommen Sie nicht in Betracht für die Papstwahl.“ – „Gott Lob, nein!“ war die Antwort; „ich bin nicht wählbar für das Papsttum.“ (1)

„Mir scheint, die Wahl wird bald vollzogen sein“, sagte Kardinal Sarto einem italienischen Zeitungsschreiber, der ihn in Rom besuchte. „Der Papst wird wahrscheinlich im zweiten Wahlgang bestimmt werden.“ – „Ich wag es, mit Euer Eminenz nicht der gleichen Meinung zu sein“, war die Antwort, „und zwar aus folgenden Gründen. Meine Hoffnung – und die ist wohl erlaubt – steht auf einen Kardinal, der in seinem Sprengel residiert. Nicht als ob es den Kurialkardinälen an Sichtweite und Erfahrung gebräche, aber gewöhnlich stehe die Prälaten, die in der Provinz leben, dort in unmittelbarer Fühlung mit dem Volk. Sie haben besser Gelegenheit, die innere Seite der Dinge zu sehen, als jene, die in Rom ein Amt bekleiden, mag es noch so wichtig und unerläßlich sein. Selbstverständlich sind nun die nicht in Rom lebenden Kardinäle dort weniger gut bekannt als die der Kurie. Deren Kandidatur muss also langsamer vor sich gehen und die Wahl länger dauern.“

Bereits am ersten Wahltag hatten 5, dann 10 Wähler für ihn gestimmt. Als man ihn darauf aufmerksam machte, meinte er demütig, das sei nur ein Versehen; man kenne ihn eben nicht. Bald jedoch konnte er sich einer bessern Einsicht nicht verschließen, und es ergriff ihn eine namenlose Angst. Mit bebender Stimme und tränenden Augen beschwor er die Kardinäle, von ihm abzusehen. „Ich bin unwürdig, unfähig“, fehlte e, „vergesset mich!“

„Gerade diese demütige Selbsteinschätzung“, bemerkt Kardinal Fischer, Erzbischof von Köln, in seinem Hirtenbrief, „ließ ihn in den Augen der Wähler um so würdiger erscheinen, der Nachfolger desjenigen zu werden, der sich für uns erniedrigt und Knechtsgestalt angenommen hat, und dadurch seinen Stellvertretern den Weg zeigte, auf dem sie wandeln sollen, wenn sie ihm ähnlich sein wollen.“ Und Kardinal Gibbons behauptet: „Eben diese Beschwörungen, sein Schmerz, seine tiefe Demut und Weisheit lenkten um so mehr unsre Gedanken auf ihn. Aus seinen eigenen Worten lernten wir ihn besser kennen, als es durch Hörensagen je hätte geschehen können.“

Die Wahlgänge wurden fortgesetzt. Am Abend des zweiten Tages hatte Kardinal Sarto 24 Stimmen auf sich vereinigt. Er brachte nun mehrere Stunden in der Paulinischen Kapelle zu, wo er vor dem ausgesetzten hochwürdigsten Gut betete. Bei der Rückkehr in sein Zimmer fand er mehrere seiner Kollegen. Sie wollten ihn bitten, er möge die Bürde nicht zurückweisen, falls Gott ihn dazu berufe, sie zu tragen. „Ich war unter jenen Besuchern“, erzählt der amerikanische Kardinal; „meine Vorgänger, besonders Kardinal Ferrari von Mailand und Kardinal Satolli, hatten sein Widerstreben schon ins Wanken gebracht, so daß ich beinahe hoffen durfte, er werde sich ins Unvermeidliche fügen.“

Am dritten Tage wuchs die Stimmenzahl für Kardinal Sarto auf 35, und erreichte am Morgen des 4. August die Ziffer 50. Also hatte er 8 Stimmen mehr als die für eine gültige Wahl nötigen 42. Denn 62 Kardinäle hatten am Konklave teilgenommen.
Man fragte ihn nun, ob er die Wahl annehme. Bereits hatte er in der Stille der Nacht sein Opfer gebracht. „Ich nehme an“, sprach er weinend, „denn im Ausdruck eures Willens erkennen ich den Willen Gottes.“
„Welchen Namen willst du tragen?“ hieß es weiter.
„Pius X.“, erwiderte er.
Bleich und bebend legte er die weißen oberpriesterlichen Gewänder an. Der Fischerring wurde ihm an den Finger gesteckt, er selbst auf den Thron geleitet, um die Huldigung der Kardinäle entgegen zu nehmen.

Sofort nach der Wahl, als er die innere Loggia verließ, wo er dem im Petersdom harrenden Volk den ersten Segen gespendet, äußerte Pius X. den Wunsch, den Erzbischof von Valencia, Kardinal Herrera y Espinosa, zu besuchen, einen 80jährigen Greis, der vor wenigen Tagen erkrankt war, die heiligen Sterbesakramente empfangen hatte und dem Tode nahe schien. An das Bett des Sterbende eilend, segnete ihn der Papst, und unter diesem Segen richtete der greise Kardinal sich auf, als ob neues Leben ihn durchströme. Er, dessen Zustand die Ärzte für hoffnungslos erklärt hatten, befand sich drei Tage später wohl genug, um aufzustehen. Bald darauf kehrte er nach Spanien zurück und behauptete, der Heilige Vater habe ihm hierzu die nötige Kraft erbetet. Er starb nach wenigen Monaten. (siehe auch den Beitrag: Pius X. ein Heiliger mit auffallender Heilkraft)

Der Neuerwählte zog sich in sein Zimmer zurück und weilte dort lange Zeit im Gebet kniend vor dem Kruzifix. Der treue Diener, der ihm von Venedig aus gefolgt war, bat ihn mehrmals vergeblich, etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Endlich erhob er sich und sagte, zu seinem Sekretär Msgr. Bressan gewendet, die gewohnte Heiterkeit in etwa wieder gewinnend: „Komm, es ist Gottes Wille!“

An die Schwestern in Venedig wurde die ergreifende Nachricht gedrahtet. „Ach, wir wußten es ja“, schluchzten sie; „wir fühlten, daß irgend ein schrecklicher Kummer über uns schwebte. Uns brach das Herz, und wir sagten zueinander: ‚Ach, wenn sie doch den Kardinal von Prag zum Papst machen und uns von der Angst befreien wollten! Der ist jung. Warum müssen sie auch gerade unsern Bruder wählen? Nie werden wir ihn wiedersehen. Seine Tränen fühlen wir in unsern Herzen.’“

In Italien wurde das Ergebnis der Wahl mit Freude begrüßt. Im Ausland war Kardinal Sarto wenig bekannt, und darum schwebte auf manchen Lippen die Frage: „Was für ein Papst wird er sein?“ Die katholische Welt hatte nicht lange auf die Antwort zu warten. Zwei Monate waren kaum verflossen, als die erste Enzyklika sie erteilte.

Wie der hl. Anselm einst über seine Wahl zum Erzbischof laute Klage erhob, so beginnt auch der neue Papst mit den Worten:
„Nichts soll Uns abhalten, daran zu erinnern, wie Wir mit Tränen und vielen Bitten die furchtbare Bürde des päpstlichen Amtes von Uns abzuwenden gesucht haben.. Wen sollte es überdies nicht aufs tiefste bewegen, zum Nachfolger dessen sich erkoren zu sehen, der fast 26 Jahre die Kirche mit größter Weisheit regierte, dessen rüstige Geisteskraft, dessen reicher, makelloser Tugendglanz selbst seinen Feinden Bewunderung abnötigte?“
Sofort auf die Unrast der Welt hinweisend, legt der Papst gleich einem geschickten Arzt die Ursache dieses Übels bloß. Er findet sie im „Abfall, in der Trennung von Gott…, nach dem Wort des Propheten: ‚Siehe, die sich von dir entfernen, kommen um‘ (Ps. 72, 27)“.

Beim Lesen der Enzyklika fällte die katholische Welt das Urteil: „Hier spricht ein Seelenhirt.“ „Milde und stark“, war die Begutachtung eines amerikanischen Bischofs. Im Charakter des Papstes gab es allerdings noch eine andere Seite, die sich späterhin offenbarte. „Pius X.“, schrieb der Abgeordnete F. Macola, der ihn in Venedig vertraulich gekannt hatte, „ist ein Mann von scharfem Verstand und hoher Bildung, gründlich bewandert in der Philosophie, der Literatur wie in den sozialen Strömungen der Zeit.“
Aber zuerst und vor allem war er Seelenhirt. Das hatte die Welt richtig eingeschätzt.

Eine der ersten Verfügungen des neuen Papstes war es, daß er die Verteilung von 100000 Lire unter die Armen Roms und die von 50000 unter die Armen Venedigs anordnete. Der Almosenier bemerkte ehrerbietig, ob das nicht sehr viel sei „bei der gegenwärtigen Lage der Dinge“?
„Wo ist Ihr Vertrauen auf die göttliche Vorsehung?“ fragte der Heilige Vater, und das Geld wurde ausgeteilt.
Jetzt konnte er nicht mehr seine lieben Armen besuchen, deshalb gab er Befehl, daß sie zu ihm kommen sollten. Häufig versammelten sie sich Sonntags nach Pfarreien in den Vatikanischen Höfen, um aus dem Mund des Papstes eine schlichte Predigt über das Tagesevangelium zu hören. „Liebet Gott und führt ein gutes Christenleben“, das war der Kehrreim all seiner Unterweisungen. Eine Predigt über die christliche Karitas war auch die warme Begrüßung, welche der armen Leute harrte, die zarte Liebe, die aus jedem Wort, aus jeder Bewegung des Heiligen Vaters leuchtete. Die hl. Katharina von Siena bezeichnete den Nachfolger des hl. Petrus als den „süßen (dolce) Christus auf Erden“. Sicherlich kam dieser Name oft auf die Lippen jener, die den Vorzug besaßen, mit Pius X. viel zu verkehren.

(1) Man sagt, wer ins Konklave als Papst eintrete, komme als Kardinal heraus. Das paßte auf Kardinal Rampolla, Staatssekretär unter Leo XIII., der als der wahrscheinlichste Kandidat galt. –
aus: F.A. Forbes, Papst Pius X. Ein Lebensbild, 1923, S. 51 – S. 61

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