Sünde und Strafe der Benjaminiten (Richter 19 bis 21)
Ein Anhang zum Buch der Richter erzählt noch zwei Begebenheiten, die bald nach dem Tode Josues, vielleicht noch vor dem ersten Richter, vorfielen. Dies ergibt sich daraus, dass die Daniten noch kein für sie ausreichendes Erbteil erlangt hatten (vgl. 18,1 mit 1,34), sowie daraus, dass Josues Zeitgenosse Phinees, Enkel Aarons, noch Hoherpriester war. (Vgl. 20, 28 mit Jos. 22,13; 24,33). Als Nachtrag sind beide Ereignisse mitgeteilt, weil sie nicht zur Regierung eines der Richter in Beziehung stehen, aber doch zu wichtig waren, um ganz übergangen zu werden.
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Ein schreckliches Vergehen im Stamm Benjamin
Das zweite, ein schreckliches Verbrechen im Stamm Benjamin, welches die fast gänzliche Ausrottung dieses Stammes zur Folge hatte, zeigt, bis zu welchem Grade die Verderbnis der Kanaaniter schon so bald in Israel eindrang.
Die wiederholt vorkommende Bemerkung: „Damals war kein König in Israel, sondern jeder tat, was ihm gut dünkte“ (Richt. 17, 6; 18, 1; 19, 1; 21, 25), deutete auf eine Zeit, wo Israel ohne gemeinsames bürgerliches Oberhaupt war, und will vielleicht auch andeuten, dass die Richter selbst den Mangel eines gemeinsamen Hauptes nicht genügend ersetzten, und dass so das Verlangen des Volkes nach einem König (1. Kg. 8,5 u. 20; 12,12) entstand, womit dieser Anhang auf die Geschichte Helis, Samuels und Sauls hinüber leitet (Kap. 19 bis 21).
Ein Levit, der in dem Stamm Ephraim wohnte, war nach Bethlehem gegangen, um sich mit seinem Weibe, die zu ihrem Vater zurückgekehrt war, auszusöhnen, was ihm auch gelang. Als er mit ihr nach seiner Heimat zurückkehrte, war er genötigt, in Gabaa im Stamm Benjamin (1) zu übernachten. Da hier niemand sie beherbergen wollte, ließen sie sich auf der Straße nieder, bis endlich ein alter Mann vom Gebirge Ephraim, der als Fremdling in der Stadt wohnte, des Weges daherkam und sie in sein Haus aufnahm.
Während sie hier ausruhten und sich mit Speise erquickten, kamen nichtswürdige Menschen der Stadt, umringten das Haus und verlangten, in derselben gräulichen Absicht wie einst die Sodomiten, mit Ungestüm die Auslieferung des Fremden. Vergebens waren alle Bitten des Greises; sie ließen schließlich zwar den Mann unbehelligt, ergriffen aber das Weib des Leviten und misshandelten es in der schändlichsten Weise. Als ihr Mann in der Frühe nach ihr sehen wollte und die Haustüre öffnete, lag sie mit ausgestreckten Armen auf der Schwelle und war tot. Entsetzt nahm er sie, lud die auf sein Lasttier und kehrte in seine Heimat zurück. Hierauf sandte er Stücke des Leichnams an alle Stämme Israels und ließ die Untat melden.
Die Rache der Stämme Israels gegen den Stamm Benjamin
Alle riefen voll Entrüstung: „Nie ist dergleichen geschehen in Israel seit dem Auszug unserer Väter aus Ägypten bis auf diesen Tag! Beraten wir gemeinsam, was zu tun ist!“ Da zogen die Stämme Israels aus und kamen zum Herrn (2) nach Maspha (3), zur Versammlung des Volkes Gottes, 400000 streitbare Männer (4). Nach kurzer Beratung sandten sie Boten an den ganzen Stamm Benjamin und ließen sagen: „Was für eine Schandtat ist unter euch begangen worden! Liefert die Männer von Gabaa, diese Söhne Belials (5), aus, auf daß sie sterben und der Frevel aus Israel getilgt werde!“
Allein die Benjaminiten wollten auf das Verlangen ihrer Brüder nicht hören, sondern zogen, 25000 Mann stark, der Stadt Gabaa zu Hilfe, die selbst 700 sehr tapfere Männer stellte, die mit der linken Hand wie mit der rechten stritten und mit ihren Schleudern die Steine so sicher warfen, daß sie auch ein Haar treffen konnten.
Die übrigen elf Stämme brachen nun auf und kamen zum Haus Gottes, d. i. gen Silo (6) und fragten dort den Herrn, wer ihr Führer sein sollte.
Der Herr antwortete ihnen: „Juda sei euer Führer!“ Sie machten sich alsbald des Morgens auf und lagerten sich vor Gabaa. Aber sie verließen sich zu sehr auf ihre ungeheure Übermacht und begannen den Angriff auf die Stadt allzu eilfertig und unvorsichtig. Sie verloren daher 22000 Mann. Nachdem sie unter Gebet und Tränen Gott abermals befragt und auf sein Geheiß den Kampf erneuert hatten, verloren sie gleichwohl bei einem zweiten Angriff 18000 Mann. Zum dritten Mal zogen sie zum Haus des Herrn, weinten, fasteten den ganzen Tag, brachten Brand- und Friedopfer dar und fragten wiederum den Herrn, ob sie den Kampf erneuern sollten. Der Herr erwiderte: „Ziehet hin; denn morgen will ich sie in eure Hände geben.“
Sie legten nun Hinterhalte rings um Gabaa und führten ihr Heer zum dritten Mal gegen Benjamin. Als die Benjaminiten wieder kühn einen Ausfall machten, lockten sie dieselben erst durch eine verstellte Flucht von der Stadt weg, brachen dann aus dem Hinterhalt hervor, umzingelten die Benjaminiten, töteten 25000 Mann, eroberten und verbrannten die Stadt und verheerten auch die übrigen Städte des Stammes. Vom ganzen Stamm waren nur noch 600 Mann übrig, die sich auf den Felsen Remmon (7) in der Wüste gerettet hatten.
Die Freveltat wurde über Gebühr gerächt
Jetzt erst bedachten die Israeliten, dass sie die Freveltat über Gebühr gerächt, und nun ging ihnen das Unglück des Stammes Benjamin zu Herzen. Sie kamen zum Hause des Herrn in Silo (8), weinten mit lauter Stimme und sprachen: „Warum, Jahwe, Gott Israels, ist doch das Unglück geschehen, dass ein ganzer Stamm aus unserer Mitte vertilgt ist?“ Und sie brachten dem Herrn Brandopfer und Friedopfer. Dann sandten sie denen, die sich auf den Felsen in der Wüste gerettet hatten, und entboten ihnen Frieden. (9) Diese kamen, bauten allmählich die zerstörten Städte wieder auf, und Benjamin wuchs nach und nach wieder zu einem kräftigen Stamm heran.
Der roh-sinnliche Charakter des israelitischen Volkes überhaupt und die in jener Zeit vollständiger Ordnungslosigkeit herrschende Gefahr sittlicher Verwilderung insbesondere, sowie die ausdrückliche Vorschrift des Gesetzes (10) machten es unumgänglich notwendig, dass die namenlose Schandtat in Gabaa und der Übermut, mit dem die Benjaminiten die Schandtat in Schutz nahmen und der aus dem Munde des gesamten Volkes so deutlich sprechenden Stimme Gottes Trotz boten, mit aller Strenge bestraft wurden.
Wie so häufig geschieht, mischte sich aber auch hier persönliche Leidenschaft und Rachgier ein und befleckte das an sich gerechte Verfahren. Dies sowie die weiteren Vergehen, die sich daran knüpften, werden von der Heiligen Schrift erzählt, so wie es geschehen, aber keineswegs gebilligt, vielmehr nicht undeutlich missbilligt durch die Bemerkung: „Damals war kein König in Israel, sondern jeder tat, was ihm recht dünkte“, d. h. unter der geordneten Regierung eines gemeinsamen Oberhauptes hätten solche Vorgänge nicht stattfinden können.
Dass die Israeliten anfänglich zwei schwere Niederlagen erlitten, schreiben mehrere heilige Väter dem Umstand zu, dass sie selbst mit mancherlei Sünden und Lastern befleckt waren. So bemerkt der hl. Gregor d. Gr. (11): „Wie kommt es, dass Israel zur Rächung der Freveltat entflammt und doch anfänglich bei diesem Beginnen zu Boden geworfen wird? Woher anders, als weil die zuerst gereinigt werden müssen, durch welche anderer Schulden gestraft werden sollen, damit sie, welche eilen, die Laster anderer zu verbessern, selbst zuvor durch die Rache Gottes rein werden?“
Obwohl zweimal besiegt, zogen die Israeliten dennoch in Gottes Namen zum dritten Mal mutvoll in den Kampf; dies soll uns zur Ermunterung dienen, falls wir auch das eine oder andere Mal in einer Versuchung unterliegen sollten, uns nur desto entschlossener aufzuraffen und mit demütigem Gebet und kluger Vorsicht den Feind unseres Heils auf Leben und Tod zu bekämpfen.
Anmerkungen:
(1) Gabaa, auch Gabath (hebr. Gibea), die nachmalige Geburtsstadt Sauls, jetzt wahrscheinlich Tell-es-Soma bei Tuleil-el-Ful, gegen 6 km nördlich von Jerusalem, 3½ km südlich von Rama.
(2) D.h. in einer Angelegenheit des Herrn, zur Rächung seiner Ehre und seines heiligen Gesetzes.
(3) Hier ist wahrscheinlich das heutige Schafat, 4 km nördlich von Jerusalem, möglicherweise auch Neby Samuel gemeint.
(4) Damit ist nicht gesagt, daß alle diese streitbaren Männer an der Versammlung teilgenommen haben – was kaum möglich erscheint -, sondern, daß die Gesamtzahl der streitbaren Männer aller Stämme, deren Vertreter in Maspha versammelt waren, auf 400000 geschätzt wurde, im Unterschied von den etwa 26000, die der Stamm Benjamin ins Feld zu stellen hatte. Eine ähnliche Angabe, bei der noch deutlicher ersichtlich ist, daß es sich um eine „Musterung“ handelte, findet sich 1. Kg. 11,8; desgl. 1. Chr. 12, 23ff, wo „wahrscheinlich nach ungefährer Schätzung jene Krieger zusammengezählt sind, die sich durch ihre Ältesten und deren immerhin zahlreiche Begleitmannschaft (in Hebron) vertreten ließen“. Vgl. Weiß, David und seine Zeit 152. Die Zahlen sind natürlich runde, schätzungsweise.
(5) Das hebr. Belijah bedeutet „ohne Joch“; nach andern „ohne Nutzen“, also ist „Söhne Belials“ soviel als zuchtlose, niedrige, gemeine, nichtsnutzige und nichtswürdige Menschen, auch geradezu „Söhne des Teufels“. (Vgl. Ir. 2,20; 2. Kor. 6,15; Joh. 8,44; Apg. 13,10; 1. Joh. 3,10)
(6) Im Hebr. „nach Bethel“ (Beth-El = Haus Gottes). Dieses lag fast 15 km nördlich von Maspha, und etwa ebenso weit nördlich von Gabaa, während Silo noch 15 km weiter nördlich liegt. Man hatte mit dem Hohenpriester Phinees auch die Bundeslade nach dem näher gelegenen Bethel kommen lassen. (Richt. 20,27f.)
(7) Jetzt das Dorf Rummon, 6½ km östlich von Bethel, oder fast 14 km nordöstlich von Gabaa, auf dem Gipfel eines kegelförmigen Kalkberges. Es ist nicht zu verwechseln mit Geth-Remmon im Stamm Dan.
(8) „In Silo“ fehlt im Hebräischen. Dort war sicher damals das „Haus des Herrn“, d.h. das heilige Zelt, aber die Bundeslade war nach dem hebräischen Text nach Bethel gebracht worden.
(9) Da sich die übrigen Stämme durch Eidschwur verpflichtet hatten, ihre Töchter den Benjaminiten nicht zur Ehe zu geben (21,1), so überließen sie ihnen 400 Jungfrauen von Jabes in Galaad (Bethsean gegenüber, „6 röm. Meilen von Pella auf dem Weg nach Gerasa“), das sich an dem Rachekrieg nicht beteiligt hatte und deshalb als gleich gesinnt mit Gabaa zerstört wurde. Den übrigen 200 Benjaminiten gestatteten sie, sich gelegentlich eines Festes in Silo aus dem dortigen Festzug Jungfrauen zu rauben. Vgl. Zschokke, Die bibl. Frauen 202f.
(10) Lv. 18,17; vgl. Dt. 13,9 u. 13; 17,12; 22,22. –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. I, Altes Testament, 1910, S. 643 – S. 646
siehe auch den Beitrag: Vernichtung von Völkern wegen Sodomie