Die Geschichte ist im wesentlichen christozentrisch
Die Beziehung des Menschen zu Gott vollzieht sich eigentlich nur in der Zeit, d. h. nur geschichtlich. Was sich außer der Geschichte im stillen „Kämmerlein der Seele“ ereignet, bedarf einer Prüfung gemäß den geschichtlichen Normen der Religion, um als echt anerkannt zu werden. Die Geschichte ist der einzig wahre Raum, wo der eigentliche und echte Dialog zwischen Gott und Mensch geführt wird.
Gott offenbart sich in der Zeit
In diesem Sinne ist die Geschichte Offenbarung des Gottmenschtums, d. h. sie ist die innige Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen, die Gegenwart Gottes in der Zeit. Gott als Urgrund des Seins und Schöpfer des Menschen existiert zwar jenseits der Geschichte. Er ist der verborgene Gott – Deus absconditus, keinem Geschöpf zugänglich und keinem Verstand begreiflich. Doch Gott als Mitglied der religiösen Beziehung, als Erlöser und Vollender des Menschen, läßt sich von seiner unerreichbaren Transzendenz herab und kommt in die Zeit, d. h. in die Geschichte. Er wird der enthüllte Gott – Deus revelatus, der in unserem Dasein lebt und mit uns unsere Alltäglichkeit teilt.
Die wahre Beziehung zu Gott oder die wahre Religion ist erst dann möglich, wenn Gott sich tatsächlich in der Zeit offenbart und in ihr bleibt, denn erst dann besitzen wir mit ihm eine gemeinsame Seinsebene. Die Zeit ist der einzige ‚Ort‘, wo wir Gott treffen können. Kommt Gott nicht in die Zeit, so bleibt unsere Beziehung zu ihm nur einseitig. Deshalb abstrakt und sogar unecht. Existiert er nur als der verborgene Gott, so können wir lediglich die Klage Jobs wiederholen: „Siehe, gehe ich nach Osten – er ist nicht da, nach Westen – und ich gewahre ihn nicht. Wirkt er im Norden, so erschaue ich (ihn) nicht; wendet er nach Süden, erspähe ich ihn nicht…, er zieht an mir vorbei, und ich sehe es nicht“ (Job 23, 8-9; 9, 11)
Die Offenbarung Gottes in der Zeit ist die Grundbedingung für die wahre Religion. Die Geschichte hat also die Aufgabe, diese Offenbarung vorzubereiten. Ihr tiefster Sinn liegt darin, daß sie das Zusammentreffen zwischen Gott und Mensch ermöglicht, indem sie Voraussetzungen schafft, um dieses Zusammentreffen in die personale, daher unlösbare Vereinigung einmünden lassen.
Die personale Vereinigung Gottes mit dem Menschen ist bereits vollzogen
Ist das aber nicht ein Traum? Kann die Zeit einmal so voll werden, daß der wahre Gott dem wahren Menschen begegnet, dem Menschen ohne Sünde und Makel, wie er im ewigen Urbild des Schöpfers leuchtet? Kann die Geschichte eines Tages zum Schauplatz der personalen Verbindung des Absoluten mit dem Relativen werden und somit das Gottmenschtum in seiner vollendeten Gestalt offenbaren? –
Darauf gibt uns das Christentum die eindeutige Antwort: diese Zeit ist schon gekommen. Die personale Vereinigung Gottes mit dem Menschen ist bereits vollzogen in der gottmenschlichen Persönlichkeit Christi, geboren aus Maria, der Jungfrau, gekreuzigt unter Pontius Pilatus, gestorben, auferstanden am dritten Tag, aufgefahren in den Himmel, woher er zurück kommt, Gericht zu halten über Lebende und Tote. Christus ist jene so sehnsüchtig erwartete Fülle der Zeit, jene nicht mehr zerstörbare Einheit Gottes mit dem Menschen, jene vollkommene Antwort der Menschheit auf den göttlichen Ruf. Er ist die Erfüllung der Geschichte und das wahre Geschick des Menschen. –
In dreierlei Hinsicht steht Christus in Verbindung mit der Geschichte: als Verheißung, als Erfüllung und als Vollendung.
Ob die Fleischwerdung des ewigen Logos dadurch angeregt worden ist, daß Gott die ganze Schöpfung durch die Annahme der menschlichen Natur mit sich vereinigen und somit den schöpferischen Akt selbst vollenden wollte, wie dies Duns Scotus behauptet, oder ob die Menschwerdung eine Antwort der göttlichen Liebe auf den menschlichen Sündenfall und damit ein Erlösungsmittel war, wie Thomas von Aquin meint, in jedem Fall war sie seit Ewigkeit her im Schoß der Heiligsten Dreifaltigkeit selbst vorher gesehen und vorher bestimmt.
Christus – nicht nur als Gottessohn, sondern auch als Menschensohn – steht vor jeder Schöpfung als ihr Urbild, als ihr Erstgeborener und als ihr letztes Ziel. „Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. Er ist vor allem, und alles hat in ihm Bestand.“ (Kol. 1, 16-18) Als die Menschheit in ihre selbst verschuldete außerparadiesische Existenz versetzt war, trug sie bereits Christus in sich als ihre große Hoffnung, die sich eines Tages in der irdischen Zeit erfüllen sollte. Der Sproß des Weibes sollte das Haupt der Schlange zertreten (vgl. Gen. 3, 15) und das zuckende Flammenschwert, das den Weg zum Baum des Lebens verwehrte, beseitigen.
Die vorchristliche Geschichte ist die Sehnsucht nach Christus
Ist aber Christus die göttliche Verheißung an die gefallene Menschheit, so ist dementsprechend die ganze vorchristliche Geschichte die menschliche Sehnsucht nach der Erfüllung dieser Verheißung. Die Jahrtausende vor Christus schritten ihrer Fülle entgegen, und ihr letzter Augenblick sollte den göttlichen Logos in den Schoß Mariä, der Jungfrau, einbetten. Im Lichte der Offenbarung des Messias war die vorchristliche Geschichte im Wesen eine lange Adventszeit, in der die gesamte Kreatur mit Isaias seufzte: „Tauet, Himmel, den Gerechten von oben her; regnet ihn herab, ihr Wolken; öffnen möge sich die Erde und den Heiland tragen als Frucht“ (Is. 45, 8)… Christus als Verheißung lenkte die ganze Geschichte in Richtung auf seine Menschwerdung hin und bestimmte ihre Bahn. Er war der eigentliche Vater der Zukunft – pater futuri saeculi, wie ihn die Litanei sinnvoll nennt. Die Fleischwerdung des göttlichen Wortes war das eigentliche Ziel der vorchristlichen Geschichte der Menschheit. Den Tag der Geburt des Erlösers zu sehen, wünschte nicht nur Abraham (vgl. Joh. 8, 57), sondern in ihm auch das ganze Menschengeschlecht.
Christus ist die Fülle der Geschichte
Die Verheißung Gottes ging endlich in Erfüllung. „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh. 1, 14). Der ewige Logos ließ sich in die Zeit herab, nahm unsere Natur und Daseinsweise an und wurde Mensch bis in die äußersten Grenzsituationen des Menschlichen – Leiden und Tod. Der Schöpfer und das Geschöpf vereinigten sich zur hypostatischen Union, denn es gefiel Gott, in und durch Christus „alles mit sich zu versöhnen“ (Kol. 1, 20).
In Christus wohnt also die Fülle der Göttlichkeit, aber auch die der Menschlichkeit. Er ist der wahre Gott und der wahre Mensch: der Gottmensch im höchsten Sinne des Wortes. Ist aber die Geschichte, wie gesagt, Offenbarung des Gottmenschtums, so findet diese Offenbarung in Christus ihren vollendeten Ausdruck. Ist die Geschichte die menschliche Antwort auf den göttlichen Ruf, so bildet diese Antwort in Christus eine absolut positive Bejahung des göttlichen Willens.
Alles, was in der Geschichte zu ihren Wesensmerkmalen gehört, ist in Christus zur höchsten personalen Einheit gebracht. Christus ist die Fülle der Geschichte. Die von Gott dem Menschen geschenkte Zeit ist in ihm voll geworden: das messianische Selbstbewusstsein Christi erhellte sein Zeitbewusstsein bis zum Grund und erhob somit die Geschichte bis zu ihrem Gipfel.
Daher ist Christus nicht eine geschichtliche Persönlichkeit neben vielen anderen, sondern er ist die geschichtliche Persönlichkeit, denn nicht er wohnte in der Geschichte, sondern die Geschichte wohnte in ihm, in seinem vollkommenen Zeitbewusstsein, und wir sind geschichtlich nur in und durch Christus, d. h. insofern wir an Christi Zeitbewusstsein als Erfüllung des göttlichen Willens teilnehmen. Die Geschichtlichkeit Christi als Ausdruck der vollkommenen Vereinigung zwischen Gott und Mensch, zwischen dem Himmel und der Erde trägt jede andere Geschichtlichkeit und gibt der Zeit ihren tiefsten Sinn. Christus ist der Mittelpunkt der ganzen kosmischen Entwicklung.
Christus ist die Vollendung der kosmischen Entwicklung
Gleichzeitig ist er auch Vollendung dieser Entwicklung. Seit dem Tage, an dem er uns verhieß, „in den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit“ (Mt. 24, 30) zurück zu kommen, alle Völker der Erde vor seinem Thron zu versammeln und Gericht über sie zu halten, verwandelte sich das Leben der Menschheit in ein beständiges Wachen und Warten. Das von Christus verkündete Ende der Welt wird nicht eine zufällige Naturkatastrophe sein, sondern das unmittelbare Einschreiten Gottes in den Lauf der Zeit. Wohl fügte Christus zu seiner Prophezeiung hinzu: von jenem Tag „hat niemand Kenntnis, auch die Engel des Himmels nicht“ (Mt. 24, 36).
Geheimnisvolles Dunkel liegt über dem Datum der zweiten Ankunft Christi und ermöglicht es somit unserem Dasein, seinen gewöhnlichen Gang fortzusetzen. Wie in den Tagen Noes die Menschen aßen und tranken, heirateten und verheirateten, bis die Sintflut kam und alles weg raffte, so wird es auch bei der Ankunft des Menschensohnes sein (vgl. Mt. 24, 39). Er wird wie ein Blitz erscheinen und wie ein Dieb kommen, ohne daß jemand auf ihn wartet und ihm zu begegnen eilt. Er wird in der Nacht der größten Vergessenheit kommen.
Denn je länger die Geschichte dauert, um so unglaublicher wird seine Wiederkunft. Mehr noch: je länger die Geschichte dauert, desto besseren Anlass glauben die Spötter zu haben, die mit ihren Reden auftreten und die Menschheit fragen: „Wo bleibt die verheißene Wiederkunft? Seitdem die Väter heim gegangen sind, bleibt alles so, wie es vom Anfang der Schöpfung an war“ (2. Petr. 3, 4). Eine scheinbar endlose Reihe von Jahrhunderten schwächt den Glauben an die Erfüllung der Verheißung Christi, und die Menschheit fängt bereits an, sich ruhig und sicher auf Erden zu fühlen.
Die nachchristliche Geschichte führt zum Zusammenbruch der kosmischen Ordnung
Doch voll drohenden Ernstes ist die Warnung Christi an diejenigen, die sich die heidnische Auffassung der Geschichte als eines ewigen Kreislaufs anzueignen versuchen: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mt. 24, 35) Das Ende der Geschichte ist im Licht der Offenbarung so klar und eindeutig wie kaum eine andere Wahrheit.
„Nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne verfinstert werden, der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben, die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden“: der Zusammenbruch der kosmischen Ordnung (Mt. 24, 29). „Hierauf wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Geschlechter der Erde wehe klagen, und sie werden den Menschensohn kommen sehen in den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit“: der Zusammenbruch der menschlichen Ordnung (Mt. 24, 31). „Dann wird er sich auf seinen herrlichen Thron setzen. Alle Völker werden vor ihm versammelt werden, und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet“: die Vollendung der göttlichen Ordnung (Mt. 25, 32).
Mit Christus als der Verheißung der Heiligsten Dreifaltigkeit angefangen, schließt die Geschichte ebenfalls mit ihm als dem obersten Richter der Zeiten ab. In dieser Hinsicht ist die ganze nachchristliche Geschichte eine Vorbereitung für die zweite Ankunft des Menschensohnes. Im Zeitabschnitt vor der Menschwerdung lebte Christus in der Geschichte als die göttliche Verheißung und lenkte ihren Lauf in Richtung auf seine Geburt. In der kurzen, aber vollen Zeit in Palästina erfüllte er die Geschichte durch seine gottmenschliche Persönlichkeit. In der Epoche nach seiner Himmelfahrt lebt er als der kommende Abschluss, den er durch sein persönliches Eingreifen und Gericht ausführen wird.
Christus ist der wahre Gott der Geschichte
In Bezug auf die Zeit also ist Christus der wahre Gott der Geschichte. Er ist „das Alpha und Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Offb. 22, 13). Kein Abschnitt der Geschichte ist von ihm unabhängig, keiner geht an ihm vorbei. Die Geschichte der Religionswerdung vollzieht sich wesentlich in Christus. Als Sproß des Weibes und daher als Menschensohn im tiefsten Sinn des Wortes bringt er die menschliche Natur in die einzig echte Beziehung zu Gott und gründet damit eine ewige Religion. Das Christentum ist nur deshalb wahr und ewig, weil die hypostatische Union des Menschen mit Gott in Christus wahr und ewig ist. Dadurch aber wird das religiöse Element der Geschichte derart befestigt, daß diese nie mehr zum zweiten Sündenfall werden kann.
Der zweite Abfall des Menschen-Geschlechtes von Gott ist durch Christus unmöglich gemacht worden. Mögen alle menschlichen Personen sich vom Schöpfer lossagen, die menschliche Natur als solche bleibt für ewig bei Gott, denn sie ist vom Logos getragen als Bestandteil seiner gottmenschlichen Fülle. Durch sein Kreuzesopfer erlöste Christus die Geschichte von dieser unheimlichen Möglichkeit, indem er seinem himmlischen Vater die volle Zeit darbrachte und sie dadurch in ihrem Wesen heiligte. Das Opfer auf Golgotha war das höchste geschichtliche Opfer; es war die Erlösung der Geschichte von ihrem Lauf ins Nichtsein. Das Gotteslamm, das geschlachtet worden war und „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ lebt (vgl. Offb. 10, 6), wandte den Gang der Geschichte zurück, lenkte ihn auf Gott hin und wurde somit Herr und König der Zeiten.
Die Geschichte ist in ihrem Wesen christozentrisch
Die Geschichte ist also ihrem Wesen nach christozentrisch… Die Menschheit ist von Christus zum Gottesreich eingeladen und soll in ihrer geschichtlichen Entwicklung ihre Antwort darauf geben. Sie soll sich endgültig entscheiden, ob sie auf dem Weg des alten Adam bleiben und den von diesem herbei geführten Daseinszustand fortsetzen will oder ob sie den Weg des neuen Adam freiwillig einschlägt und somit an der von Christus hergestellten neuen Schöpfung teilnimmt. In ihren konkreten Erscheinungen ist also die Geschichte die freie Antwort der Menschheit auf die Erlösungstat Christi. –
aus: Antanas Maceina, Das Geheimnis der Bosheit, 1955, S. 24 – S. 30