Die Gesellschaft noch nicht untergegangen

Warum die Gesellschaft noch nicht untergegangen ist

Daß die Gesellschaft während dieser drei Jahrhunderte nicht untergegangen ist, dankt sie einem doppelten Grund: dem Übergewicht, welches die katholische Autorität noch behauptet hat, und der Inkonsequenz des Protestantismus, das Eine und das Andere nur nach den traurigsten, langwierigsten und vielfältigsten Kämpfen, durch welche jemals die Geschichte der Menschheit verdunkelt worden, ohne welche aber die Gesellschaft unter dem Hammer der Zerstörung zu Grunde gegangen wäre. Wenn die Barbarei, die uns bedroht, die Gesellschaft nicht schon verschlungen hat, so verdanken wir es unseren Vätern, die, um den Einsturz zu hemmen, zu verzögern, in der Religion das getan haben, was wir heute in der Politik und in der Verteidigung der Ordnung zu tun gezwungen sind. Sie haben Gewalt gebraucht. Im Grunde war es, was wir im Laufe dieses Werkes mehr als einmal nachweisen werden, derselbe soziale Krieg unter dem Namen des Religions-Krieges; nur nannten sich damals die Aufrührer Wiedertäufer und Protestanten, statt sich Sozialisten zu nennen. Der Aufruhr war in seiner ersten Phase, und schritt zuweilen mit reißender Schnelligkeit zu seiner letzten Phase fort, weil damals die religiöse Ordnung, die er angriff, die soziale Ordnung unmittelbar in sich begriff. So war die Sekte der Albigenser in Frankreich, die der empörten Bauern in Deutschland und die der Independenten in England nicht weniger gegen die bürgerliche Gesellschaft gerichtet, als gegen die religiöse Gesellschaft, ihr Angriff traf das Eigentum, die Familie, alle Gewalten, alle Grundlagen der Gesellschaft eben so sehr, wie die Religion. Wenn die in jener Epoche gegen den religiösen Sozialismus gerichteten Schutzmaßregeln der katholischen Regierungen unser Mißfallen erregen; wenn wir das Los der Opfer dieser Maßregeln bemitleiden, so erbarmungslos sie selbst waren, wo man ihrer Wut nicht steuerte; dann haben wir ohne Zweifel Recht, insofern unser Mißfallen und unser Mitleid sich auf die allgemeinen Sitten dieser Epoche beziehen, welche noch barbarisch war, barbarischer sogar, als die vorher gegangenen Epochen; aber wenn diesen Sitten durch die Empörung unseres Gefühles einmal ihr Recht geworden, dann können wir bei gründlicher und umsichtiger Erwägung die Hand unserer Vorfahren, wie rauh sie auch war, nicht verfluchen, weil sie uns das Dasein gerettet hat, indem sie in ihrer Weise tat, was wir selbst in unserer Weise tun, um es unseren Enkeln zu retten, und weil sie durch Verteidigung unserer Herde die Wiegen unserer Kinder verteidigen.

Und, merkwürdige Erscheinung! Der Protestantismus tat damals gegen den Sozialismus, was, gegen ihn getan zu haben, man den katholischen Regierungen zum Vorwurf gemacht hat. Er rottete die Wiedertäufer aus; und doch, was war er selbst, wenn nicht der Vater der Wiedertäufer? Und was taten folglich die katholischen Regierungen, die ihn schlugen, Anderes, als daß sie in ihm diese Barbaren schlugen, und zwar mit weit besserem Recht, da sie ihn nicht in die Welt gesetzt hatten. (*)

(*) Die ersten Unterdrückungs-Maßregeln gegen den Protestantismus in Frankreich unter Franz I. fanden in demselben Augenblick statt, wo ganz Deutschland und die Schweiz von Wiedertäufer-Horden verwüstet wurden, und unter dem Eindruck der Furcht vor dieser Geisel; …

In den falschen geschichtlichen Urteilen, welche seit hundert Jahren gegen die alten katholischen Regierungen gefällt worden sind, liegt eine Täuschung, welche übrigens der gegenwärtige Zustand der Gesellschaft zu zerstreuen, sehr geeignet ist, nämlich die Unklarheit über das notwendige und logische Verhältnis, welches zwischen den theologischen Häresien und den von Anfang an im Kein in ihnen begriffenen sozialen Häresien besteht; man übersieht aber dieses Verhältnis, weil es sich erst ganz allmählich und durch eine mehrere Jahrhunderte fortlaufende Reihe von Entwicklungen und Umgestaltungen gelöst hat. Indem man den Geist der Zerstörung nur in seiner ersten Form, der theologischen Häresie auffaßt, sagt man: Wa, für rein dogmatische Behauptungen so unduldsam sein? Und somit entscheidet man sich für die Sektierer gegen die katholische Gesellschaft; man ehrt sie als Märtyrer der Gewissens-Freiheit, ohne den unmoralischen und anti-sozialen Gebrauch zu erwägen, den sie von dieser Freiheit gemacht haben, oder vielmehr, indem man ihnen eine um so größere Sympathie beweist, je mehr dieser Gebrauch sich mit geheimen oder eingestandenen Neigungen zu Aufruhr und Zügellosigkeit verträgt.

Aber der Himmel hat es nicht gestattet, daß man also die übernatürliche Ordnung und die gesellschaftliche Ordnung trennen könne, daß man die Freiheit habe, sich der ersteren zu entziehen, und doch Herr zu bleiben über die letztere. Der Mensch lebt nicht allein vom Brot, auch die menschlichen Gesellschaften nicht allein von irdischen Gütern. Das Verhältnis zwischen dem höheren Leben und dem niederen Leben ist der Art, daß jenes nicht angegriffen werden kann, ohne daß auch dieses es tief empfinde; und die Gesellschaften versinken an dem Tage, wo das Gleichgewicht zwischen dem Himmel und der Erde zerstört wird. –
aus: August Nicolas, Über das Verhältnis des Protestantismus und sämmtlicher Häresien zu dem Socialismus, 1853, S. 115 – S. 118

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