Der Einfluss der Kirche auf die Völker Europas
Die Kirche, durch Jesus Christus in die Mitte der Welt gestellt, war zugleich die Seele und die Form derselben geworden. Auf sie, um sie und durch sie war die neue Welt gegründet, gestaltet, gewissermaßen gegossen worden. Alle jene von uns in den früheren Betrachtungen bewunderten Wechselbeziehungen zwischen der Autorität, der Freiheit und der Liebe im kirchlichen Gebiet wiederholten sich außerhalb der Kirche in der europäischen Gesellschaft, welche sie mit ihrem Hauch beseelte, mit ihrem Leben befruchtete. Diese Gesellschaft war im höchsten Grade katholisch, oder vielmehr sie war nichts als katholisch. Die Kirche war zugleich die europäische Regierung; die besonderen Regierungen waren von ihr abhängig, und erkannten sie einmütig an als ihre Oberherrin kraft des natürlichsten und legitimsten Titels, dem des Daseins und des Lebens, welches sie ihr verdankten. „Wie ein Bienenstock durch die Bienen gebaut wird, so ist Frankreich und Europa durch die Bischöfe gebaut worden“ – nach Gibbons Ausspruch. Und nachdem es seine erste soziale Gestaltung von ihr empfangen, fuhr Europa fort, ihr auch seine Erhaltung und seine Entwicklung zu verdanken. Unter den gleichen Bedingungen, welche die Kirche begründeten, welche die eigentlichen Bedingungen der Zivilisation sind, deren vollkommenster Ausdruck die Kirche war und noch ist und zu allen Zeiten sein wird.
So geschah es, daß die Autorität der Souveräne, entlehnt von der der Kirche, in den Augen der Volker an ihrem geheiligten Rechte, ihrem göttlichen Charakter Teil nahm, und daß den Souveränen selbst dieses Recht nur als eine Pflicht des Schutzes, der Hingebung und der christlichen Liebe im Verhältnis zu ihren Völkern erschien, daß aber auch den Völkern die Freiheit, wie wir sie in der Kirche kennen gelernt haben, eben so natürlich aus der gleichen Quelle entsprang, indem sie in ihrem Gehorsam selbst ihre Ausübung fand, und indem ihre Rechte als das Ergebnis ihrer Pflichterfüllung erschienen. Die Untertanen waren Brüder, die unter den Augen der gemeinsamen Mutter dem ältesten Sohne derselben Gehorsam leisteten, einen weder eifersüchtigen, noch knechtischen Gehorsam, wie die Autorität, welcher er geleistet wurde, weder mißtrauisch noch tyrannisch war; denn wie diese Autorität stark und berechtigt war durch ihre Herleitung von der Kirche, eben so sehr war dieser Gehorsam edel und frei durch seine Zurückleitung auf die Kirche. Nicht der Mensch stand da dem Menschen befehlend und gehorchend gegenüber, was durchaus keine sittliche Begründung hat, und nur Aufruhr und Tyrannei hervor bringen kann; vielmehr wurde nur die mütterliche und göttliche Autorität der Kirche durch Delegation über die Völker ausgeübt, und der kindliche Gehorsam aller Söhne der Kirche durch die Souveräne unter den Völkern entgegen genommen. Und wenn wir sagen die Kirche, so sagen wir Jesus Christus, wie wir, Jesus Christus sagend, Gott sagen, welchem allein die Autorität gehört, deren hohe geistige Delegation die Kirche empfangen hat. Indem sie kraft jener Autorität den Völkern geboten, leisteten die Souveräne jeden Grades, die Herrn, die Mächtigen, die Starken den Völkern, den schwachen und den Kleinen einen Akt des Dienstes, indem sie weniger Untertanen und Untergeordnete in ihnen sahen, als Brüder, Kinder derselben Kirche, welche zu schützen sie verpflichtet waren; und die Völker, indem sie ihren Obrigkeiten Gehorsam leisteten, übten Akte der Freiheit, weil sie in jenen nur der Kirche und ihrem göttlichen Stifter gehorchten, dem in gleicher Weise die Obrigkeiten Gehorsam schuldeten. Aber auch beide Teile, die Herrschenden wie die Gehorchenden, üben vornehmlich Akte der christlichen Liebe, jener nämlichen Liebe, welche sie gleichmäßig an dem Busen derselben Kirche einsogen, und deren Quellen und Beziehungen wir bereits betrachtet haben; und daher kam es, daß das Triebwerk der Regierungen und der Gesellschaft so überaus gelenkig und geschmeidig war, ähnlich dem natürlichen Spiel der Organe unseres Lebens.
Mit dem, was wir gesagt, wollten wir nicht behaupten, daß die Kirche jemals das Recht angesprochen habe, die zeitliche Gewalt durch und über die Souveräne auszuüben, ihnen, so zu sagen, das Dasein zu geben und zu nehmen, und auf diese Weise von der Bahn ihrer rein geistigen Sendung abzuweichen. Keineswegs! Aber da die Herrschaft und der Gehorsam in dem innerlichen Gebiete, aus dem sie hervor gehen, eine geistige Sache sind, so werden sie notwendig von der geistlichen Lehre belebt, welche in der Welt herrscht, mag sie sein, welche sie wolle, heidnisch oder christlich, katholisch oder protestantisch. Anderer Art sind die Herrschaft und der Gehorsam, je nachdem sie von der einen oder der anderen dieser Lehren beseelt werden; denn der äußere und soziale Mensch wird zuletzt doch in seiner Haltung durch den inneren und geistigen Menschenbestimmt. Die Kirche macht nicht Anspruch darauf, den Königen das Dasein zu geben, und zu nehmen, die Völker ihnen gegenüber zu binden oder zu entbinden; wohl aber macht sie Anspruch darauf, in den Königen dem Christen das Dasein zu geben, und es dem Heiden nehmen, in den Völkern dem geist des Gehorsams das Dasein zu geben und es dem Geist des Aufruhrs zu nehmen; sie macht Anspruch darauf, die einen und die andern mit Gefühlen des Glaubens und der Liebe zu durchdringen, welche die Autorität mild und ehrwürdig, und den Gehorsam edel und leicht macht, beide ableitend von der geistigen Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer, des Christen zu seinem Erlöser, des Katholiken zu seiner Kirche. In solcher Weise übt die Kirche Einfluß auf das Zeitliche, in solcher Weise sucht sie dasselbe zu gestalten nach dem Vorbild jener Beziehungen von Autorität, Freiheit und Liebe, deren wunderbaren Organismus wir in ihr mit Entzücken betrachtet haben. In solcher Weise hat sie die heidnische Welt aufgelöst, und die christliche Welt ins Leben gerufen, und nach ihrem eigenen Bilde allmählich gestaltet.
Eben so sehr, wie dieser Einfluß durch die heidnische Welt bekämpft worden war, deren Tod er gewesen, eben so hat die christliche Welt ihn freudig aufgenommen, deren Leben er war; das Leben nimmt man immer auf, man kann nichts anders. So war die Kirche von dem Mittelalter aufgenommen. Das kindliche Verhältnis, welches allzeit zwischen der Welt und der Kirche hätte bestehen sollen, war damals um so enger, als es ein Verhältnis der Erzeugung und der Geburt war. Damals machte die Kirche gewissermaßen Alles in der Welt, weil alles in der Welt und die Welt selbst noch zu machen war. Das Geistige verletzte nicht durch Eingriffe und Anmaßung, wie man gesagt hat, das Weltliche, schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil das Weltliche noch nicht vorhanden war; das Geistige war Alles, weil nichts da war außer dem Geistigen. Der Geist der Kirche schwebte über der Barbarei, wie vormals der Geist Gottes über dem Chaos. Wunderliches Vorurteil! Das Zeitliche, welches die Kirche in jener Epoche durch die Einwirkung ihrer geistigen Macht verschlungen haben soll, dankt dieser Einwirkung allein sein Dasein; die Kirche trug dasselbe damals in ihrem schoße, und gebar es zum Leben durch diese nämliche Tätigkeit, die man zu einer Usurpation gestempelt hat. Wie Gott in das Nichts und in das Chaos eingegriffen hat, indem er die Welt aus ihm hervorrief, so hat der Geist der Kirche in die Nacht und Barbarei eingegriffen, indem er die Zivilisation aus ihr hervorrief.
In solcher Weise schritt die Gestaltung der europäischen Staaten nach dem Vorbild und unter dem Einfluß der Kirche fort. Ohne Zweifel war das Werk dieser großen Gestaltung anfangs roh, mühsam, geplagt und gehemmt durch die in Gärung begriffenen barbarischen Elemente; aber der Bildungsgang entwickelte sich mehr und mehr, und gewann das Übergewicht über diese Elemente, welche durch die Kirche gereinigt, gezügelt und lenksam gemacht wurden. Selbst da, wo die Kirche in dem materiellen Teil ihres Lebens oft das traurige Schauspiel von Unordnungen bot, fanden dieselben ihre Mittel der inneren Reform in dem geistigen Teile des kirchlichen Lebens, welcher allein von dem gemeinen Gesetz ausgenommen ist, und durch welchen sie sich selbst beherrschte, indem sie die allgemeine Bewegung der Zivilisation beherrschte.
Welch einen Anblick hätte Europa gewährt, wenn dieser Bildungsgang bis zu unseren Tagen verfolgt, und unter der Herrschaft dieses Gesetzes vollendet worden wäre! Aber der Himmel, oder vielmehr die Hölle in ihrer Eifersucht hat der Erde dieses Glück nicht gestattet.
In demselben Augenblick, wo die katholische Zivilisation, reich und üppig aus dem Schoß der Kirche hervor gehend, sich über die Erde ausbreitete, erschien der Protestantismus, und das ganze Werk änderte seine Gestalt… –
aus: August Nicolas, Über das Verhältnis des Protestantismus und sämmtlicher Häresien zu dem Socialismus, 1853, S. 102 – S. 106